„Der Weg der Europäer in die Knechtschaft“
Bundeskanzlerin Angela Merkel versichert ihnen in ihrem Internet-Podcast, sie wolle nicht „einfach einen unkontrollierten Bankrott eines Landes zulassen“ und ruft deshalb zur Solidarität mit den hoch verschuldeten Griechen auf. Finanzminister Wolfgang Schäuble teilt mit, er beurteile die Lage als insgesamt „sehr ernst“.
Doch die Frage, die die Bürger am meisten beschäftigt, sprechen weder Merkel noch Schäuble, weder Ökonomen noch die großen Parteien CDU, SPD oder Die Grünen an: Die Menschen wollen endlich wissen, wohin die Politik der Bundesregierung führt, was nun auf sie zukommt, worauf sie sich einstellen müssen, wenn Griechenland tatsächlich seine Zahlungsunfähigkeit erklären sollte.
Neulich berichtete ein Kollege aus dem Feuilleton, der sich gemeinhin wenig mit Politik und Finanzfragen auseinandersetzt, sogar er werde jetzt zunehmend häufiger von Freunden und Verwandten angerufen, die wissen wollten, wie es denn nun weitergehe. Seine Bekannten machten sich Sorgen um ihr Geld und um ihre Arbeitsplätze. Einige hätten bereits richtige Angst vor der Zukunft.
Gerade bei diesen Menschen tragen so gespenstische Szenen wie das wortlose Auseinandergehen der europäischen Finanzminister nach dem Krisentreffen am Dienstagabend nur noch mehr zur allgemeinen Verunsicherung bei. Aber auch im Bundestag ist die Ratlosigkeit oftmals groß. Ein Parlamentarier einer großen Oppositionspartei etwa zuckt nur mit den Achseln, als er gefragt wird, ob er eine Vorstellung davon habe, wie es kommen werde, wenn immer neue Finanzhilfen für überschuldete Staaten verlangt würden.
Ganz anders geht der junge FDP-Abgeordnete Frank Schäffler mit dem Thema um. Er hat schon mehrfach gegen die Euro-Politik der Bundesregierung gestimmt. Nicht nur bei der Kanzlerin ist er deshalb schlecht angesehen, auch in seiner eigenen Partei gilt er als Störenfried.
Außerdem sagt er Sätze wie diese: Weil der Steuerzahler das Risiko der Banken übernehme, sei etwa der Erwerb griechischer Staatsanleihen „zum Geschäftsmodell“ geworden. Und: „Wenn wir die Subventionierung der Anleihegläubiger Griechenlands nicht beenden, werden wir in kurzer Zeit im Bundestag zusammenkommen, weil wir erneut vor der gleichen Situation stehen. Dann aber werden es Spanien und Italien sein, die Hilfe suchend den Blick nach Norden richten“, sagt Schäffler.
Seine Einschätzung passt in vielen Punkten zu der eines anderen Parlamentariers, mit dem der Liberale Schäffler ansonsten in nichts, aber auch rein gar nichts übereinstimmt. Gemeint ist Linksfraktionschef Gregor Gysi. In einer kaum beachteten Rede im Bundestag sagte Gysi über die Griechenland-Pläne der Bundesregierung: „Wenn wir jetzt eine Umschuldung machen, dann heißt das: Die Bürgerinnen und Bürger Europas bezahlen das Ganze. Den Banken kann das jetzt schon egal sein. Sie haben ja schon alles an die Europäische Zentralbank verscherbelt.“ Damit sei die Europäische Zentralbank, also der Steuerzahler, inzwischen der größte Gläubiger von Griechenland.
Gysi sagt auch, die Europäer seien dabei, Griechenland kaputtzusparen. Dabei müsse das Land neu aufgebaut werden. „Ein ernsthafter Versuch zur Rettung Griechenlands verlangt einen Marshallplan, ein Wachstumsprogramm für die griechische Wirtschaft für Investitionen in die Infrastruktur, in die Modernisierung der Landwirtschaft“, sagt er.
Schäffler mahnt, es sei „höchste Zeit und vielleicht schon zu spät“ zur Umkehr und einer Debatte über endgültige Lösungen. „Wir müssen uns endlich eingestehen, dass das staatliche Geldsystem zu einer Überschuldungskrise von Staaten und Banken geführt hat. Wir ignorieren die Krankheit unseres staatlichen Geldsystems, in dem Geld und Kredit aus dem Nichts geschaffen werden. Dieses Geldsystem hat ein Schneeballsystem aus ungedeckten, zukünftigen Zahlungsverpflichtungen geschaffen. Wie jedes Schnellballsystem wird es früher oder später in sich zusammenbrechen.“
So weit hat sich noch kein deutscher Politiker und schon gar kein Wirtschaftswissenschaftler vorgewagt. Schäffler prophezeit das schier Ungeheuerliche, das bisher Unvorstellbare, kurz den Supergau oder das Fukushima des staatlichen Geldsystems mit schrecklichen Folgen: „Wir befinden uns auf dem Weg in die Knechtschaft“, schreibt er. „Dieser führt uns von Intervention zu Intervention spiralenförmig abwärts. An seinem Ende erwartet uns ein planwirtschaftliches Europa. Mit dem planwirtschaftlichen Europa kommt die Vollendung seines ökonomischen Verfalls.“
Vielleicht ist Schäffler ein Apokalyptiker. Vielleicht verspürt er Lust an solchen Untergangsszenarien. Aber was ist, wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit in seinen Warnungen stecken sollte? Droht Europa möglicherweise also doch so etwas wie ein wirtschaftliches Fukushima? Oder anders gesagt: Gehen die Verantwortlichen mit der Schuldenkrise derzeit vielleicht so um, wie sie es jahrlang mit der realen Gefahr der Atomenergie getan haben? Verdrängen sie dieselbe einfach?
Immerhin hat die Physikerin Angela Merkel nach dem verheerenden Reaktorunglück in Japan in einem „Zeit“-Interview eingeräumt: „Ich habe persönlich nicht erwartet, dass das, was ich für mich bis dahin als ein theoretisches und nur deshalb verantwortbares Restrisiko gesehen hatte, Realität wird.“ Und sie fügte hinzu: „Ich weiß, dass andere Menschen vor solchen Gefahren durchaus gewarnt haben.“ Doch erst die Bilder der explodierenden Reaktoren aus Japan konnten ihr die Augen öffnen. Müssen die Regierenden auch erst die Bilder des wirtschaftlichen Niedergangs sehen, um den verhängnisvollen Weg, den Europa geht, zu erkennen?
Günther Lachmann für Welt Online am 16. Juni 2011