Szenen einer zerrütteten Demokratie
Sind Verfassungsrichter die „AfD in roten Roben“? Das Verhältnis zwischen Bundestag und Verfassungsgericht ist auf dem Tiefpunkt. Beide Seiten begegnen sich mit Verachtung.
Es wirft nicht unbedingt ein gutes Licht auf eine Demokratie, wenn die Vertreter zweier Verfassungsorgane fast nur noch Verachtung füreinander zu empfinden scheinen. Auf diesem Weg befindet sich das Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht. Die Politik fühlt sich bevormundet, Karlsruhe sieht sich verunglimpft. Zuletzt hatte Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) das Gericht scharf kritisiert.
„Ich beobachte mit Sorge, ob das Bundesverfassungsgericht dem Grundsatz der richterlichen Selbstbeschränkung noch den genügenden Stellenwert beimisst. Dieser Grundsatz zielt darauf ab, den anderen Verfassungsorganen einen garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten“, sagte er. „In einigen Urteilen – auch in der Entscheidung zur Europawahl – hat das Gericht das nicht mehr genügend berücksichtigt.“ Der “Spiegel“ stellte die Frage nach einer „Politik in roten Roben“. Andere sprachen gar von einer „AfD in roten Roben“. Das ging Verfassungsrichter Peter Huber sichtlich zu weit: „Die konkrete Formulierung geht unter die Gürtellinie“, sagte er.
Pikant ist die Auseinandersetzung gerade auch deshalb, weil das Verfassungsgericht in den vergangenen Jahren wiederholt die Rechte des Bundestages schützte. Mit dem Urteil zum Lissabon-Vertrag räumte es dem Bundestag erheblich mehr Mitbestimmungsrechte in Europa ein. Dann rügte Karlsruhe die Informationsblockaden der Bundesregierung in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Das Gericht erklärte die herablassende Heimlichtuerei für verfassungswidrig, mit der die Regierung Kleine Anfragen von Abgeordneten behandelt. Und im Juni 2012 schließlich wertete der zweite Senat die Beteiligungsrechte des Bundestags in der Euro-Krise auf. Der Bundesregierung warfen die Richter vor, die Abgeordneten bei den Verhandlungen über den permanenten Euro-Rettungsschirm ESM nicht ausreichend informiert zu haben.
Mangelndes parlamentarisches Selbstbewusstsein
Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, Karlsruhe fehlende Empathie für die Belange der Abgeordneten vorzuwerfen. Im Gegenteil, die Parlamentarier selbst müssen sich fragen lassen, ob all diese Urteile wirklich nötig gewesen sind oder ob der Bundestag nicht etwas mehr parlamentarisches Selbstbewusstsein gegenüber der Regierung hätte beweisen müssen. Das betrifft vor allem SPD und Grüne, die in der vergangenen Legislaturperiode zusammen mit der Linken eine zahlenmäßig große Opposition bildeten, aber doch ohne Zögern alle Entscheidungen der Regierung zur Eurorettungspolitik hastig mitgetragen hatten.
An einer weiteren Eskalation des Konflikts scheint die Politik vorerst allerdings nicht interessiert zu sein. Aus dem Lager der Grünen kommen erstmals deutlich versöhnlichere Töne als sie noch vor kurzem von der Rechtsausschussvorsitzenden Renate Künast zu hören gewesen waren. Und die Union, der Fraktionschef Volker Kauder die „AfD in roten Roben“ zu verantworten hat, mag sich zu dem Thema gar nicht mehr äußern.
Kauf von Staatsanleihen durch die EZB
„Die Kritik von Volker Kauder am Rechtsprechungsstil des Bundesverfassungsgerichts teile ich nicht“, sagt die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Katja Keul. Trotzdem müsse der Bundestag natürlich nicht alles, was in Karlsruhe entschieden werde, nur demutsvoll zur Kenntnis nehmen. Und in Sachen Eurorettung wünsche sie sich zuweilen einen etwas salomonischeren Zungenschlag der Richter.
Das gelte auch für die Entscheidung zum Kauf von Staatsanleihen durch die EZB, das sogenannte OMT-Programm. „Dass das Gericht etwa bei seiner Vorlage zum OMT-Beschluss die vermeintlich richtige Auslegung der europarechtlichen Fragen gleich mitgeliefert hat, fand ich persönlich etwas unglücklich. Das bringt auch den Europäischen Gerichtshof in eine schwierigere Situation.“
„Beleidigt sein, hilft da nicht.“
Solche Einzelfragen belasteten aber nicht „das grundsätzlich gute Verhältnis“. „Ich finde es gut, dass wir ein selbstbewusstes Verfassungsgericht haben, das seine Rollen nicht darin erschöpft sieht, nur den Mehrheitswillen abzunicken“, sagte die Grünen-Politikerin. Gerade in Zeiten der großen Koalition sei dies wichtig. Denn auf die Zusagen der Mehrheit könne sich die Opposition leider nicht verlassen. „Ein Gerichtsverfahren bringt es nun mal mit sich, das eine Seite am Ende Recht bekommt. Beleidigt sein, hilft da nicht. Man muss in diesem Kontext vielleicht auch mal an die wegweisenden Urteile z.B. zur Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen und zur informationellen Selbstbestimmung erinnern die uns das Bundesverfassungsgericht beschert hat. Ein weniger selbstbewusstes Gericht wäre vielleicht nicht so weit gegangen“, sagte Keul.
Ihre Fraktions-Kollegin und Rechtsausschuss-Vorsitzende, Renate Künast, hatte sich noch vor wenigen Wochen deutlich kritischer geäußert. Die von Karlsruhe gekippte Drei-Prozent-Klausel für die Europawahl habe ihren Sinn auch in den wachsenden Kompetenzen des Europäischen Parlaments gehabt, sagte sie. „Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht beachtet.“ Außerdem werde im Verfahren um die Praxis der Europäischen Zentralbank, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen, offenkundig die Auffassung des Bundestages ignoriert. „Viele Abgeordnete stehen staunend davor und fragen sich, wo dieses Verfahren enden könnte“, so Künast vor wenigen Wochen.
„Der Politik in die Parade fahren“
Auf die ständige und an Heftigkeit zunehmende Kritik aus Berlin hatte dieser Tage Verfassungsrichter Peter Huber mit ebenfalls deutlichen Worten reagiert. „In der Sache gibt es immer Kritik, wenn das Gericht der Politik in die Parade fährt“, sagte er im SWR. Dies sei zwangsläufig der Gewaltenteilung geschuldet. „Auf Englisch nennt man das Checks and Balances. Und Checks geht nicht, ohne dass man bestimmte Dinge, die sich politische Akteure vorstellen, nicht zulässt. Insofern ist es das Wesen einer Verfassungsgerichtsbarkeit, dass sie der Politik Schwierigkeiten bereitet.“
Mit Blick auf die Kritik an den Wahlrechtsurteilen des Verfassungsgerichts sagte Huber: „Mich wundert, dass der Wähler in dieser Kritik keine Rolle spielt.“ An die Adresse der Bundestagsabgeordneten fügte er hinzu, der europäische Gesetzgeber habe keine Sperrklausel für die Europawahl erlassen, weil es dafür keine Mehrheit im Europäischen Parlament gebe. Warum also solle Deutschland einen Sonderweg gehen?
„Widerspruch gehört dazu“
Seiner Ansicht nach nehmen die Verfassungsrichter ihre Verantwortung wahr. „Und die Verantwortung besteht darin, zu einem vernünftigen Ausgleich zwischen dem Nationalstaat, der unser Ausgangspunkt und dessen Verfassung Maßstab unserer Entscheidungen ist, und den Zielvorgaben für die europäische Integration zu gelangen. Dass da nicht jeder Plan reifen kann, dass es da auch Grenzen gibt, dass es da auch mal Widerspruch geben muss, gehört zur Natur der Sache“, sagte Huber.
Im Übrigen sei das Gericht nicht von heute auf morgen, sondern nach fünfzehnmonatiger Prüfung zu der Überzeugung gelangt, dass die EZB-Pläne für den Kauf von Staatsanleihen „mit zentralen Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union nicht vereinbar“ seien. „Und wir tragen unseren teil dazu bei, dass das Recht gewahrt wird“, sagte Huber.
Karlsruhe pocht auf die EU-Verträge
Es gebe zwei Grenzen, bis zu denen das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs akzeptieren werde. Die erste Grenze sei die Verfassungsidentität, also all das, was der Gesetzgeber auf Europa nicht übertragen darf, weil das im Grundgesetz ausdrücklich so angeordnet sei. Die zweite Grenze sei: „Natürlich dürfen europäische Organe nur das machen, was in den Verträgen steht. Wenn sie sich von ihrer Ermächtigung lösen, dann kann das in Mitgliedsstaaten keine Anwendung finden.“
Das Bundesverfassungsgericht werde die Antwort des europäischen Gerichtshofs in „aller Entspanntheit und Demut abwarten und dann sehen, was wir mit dem Ergebnis machen“. Er sei jedenfalls „sehr optimistisch, dass das Zusammenwirken von Bundesverfassungsgericht und europäischem Gerichtshof zu einem guten Ergebnis“ führen werde. Wie dieses Ergebnis aussehen könnte, sagte Huber indes nicht. Allgemein wird erwartet, dass der Europäische Gerichtshof die EZB-Pläne sanktioniert. Mit einer solchen Entscheidung wäre der Bundestag wohl auch zufrieden – die über 30.000 Bürger, die sich den Klagen vor dem Verfassungsgericht angeschlossen hatten, dürften es allerdings nicht sein.