Vorausschauendes Denken und Handeln – Fehlanzeige!
Angeblich leben wir in einer Wissensgesellschaft. Vielleicht wissen wir heute tatsächlich mehr als frühere Generationen, weil es uns gelungen ist, Lebewesen zu klonen oder Kriege aus dem Weltall zu steuern. Aber alles Wissen ist wertlos, wenn wir es nicht in einen Sinnzusammenhang einordnen, es nicht in seiner Kausalität erkennen und bewerten können. Leider gibt es Grund zur Annahme, dass uns die Fähigkeit, in Zusammenhängen zu denken, mehr und mehr abhanden kommt. Anders ist die Art und Weise, wie wir die Debatte über die Schuldenkrise führen, nicht zu erklären.
Wir fragmentieren die Problematik in unzählige Bestandteile und behandeln sie getrennt voneinander, so als hätten sie nichts miteinander zu tun. Dann bearbeiten wir die Bruchstücke ohne eine mögliche Wechselwirkung auf die anderen nachzuvollziehen. Und weil wir das nicht tun, sind wir unfähig, die Folgen, die sich aus der Summe der Einzelhandlungen ergeben, zu erkennen.
Praktisch tun wir in der Schuldenkrise, kurz gesagt, folgendes: Wir verordnen hoch verschuldeten Staaten radikale Sparpläne. Wir geben dem Drängen von Investoren nach, die immer höhere Einsätze verlangen. Wir ordnen Europa neu und setzen Regierungen ein, die von Technokraten statt von demokratisch gewählten Ministern gebildet werden.
Aber was bewirken wir damit?
Die den Griechen und Portugiesen aufgezwungenen radikalen Sparpläne führen zur Verarmung ausgerechnet jener gesellschaftlichen Gruppen, die einzig und allein in der Lage wären, wirtschaftliches Wachstum zu generieren. Sie treffen Geschäftsleute, Unternehmer, Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft und Rentner.
Den korrupten öffentlichen Dienst, der für die Schulden verantwortlich ist, treffen sie nicht. Stattdessen kollabiert die Wirtschaft, und die die Staaten verlieren vollends die Voraussetzung, die Kredite ihrer Gläubiger zu bedienen. Griechenlands und Portugals Schulden steigen, anstatt zu sinken.
Doch das begreifen wir nicht. Und weil wir nicht sehen, was unsere Austeritätspolitik anrichtet, forcieren wir sie noch. Wir reden uns ein, die Staaten müssten nur hart genug sparen, dann würden sie sich irgendwann schon wieder selbst finanzieren können. Bis dieser Zeitpunkt erreicht ist, befriedigen wir die Ansprüche der Gläubiger. Wir schnüren immer neue Hilfspakete. Inzwischen geht es um Billionen Euro. Wir machen unsererseits weitere Schulden, mit denen wir die von den Investoren diktierten Bedingungen erfüllen. Wir wollen retten und verschärfen die europäische Schuldenkrise in Wahrheit gleich doppelt: zum einen durch die Austeritätspolitik, zum anderen durch zusätzliche Schulden infolge der Hilfspakete.
Doch auch das ist uns offenbar nicht bewusst. Denn sonst würden wir den folgenden Schritt wohl kaum gehen. Da der nationale Handlungsrahmen für dieses Schuldenmachen ausgeschöpft ist, schaffen wir nunmehr neue politische Institutionen, mit denen wir diese Politik des Schuldenmachens fortsetzen können. Zu diesem Zweck beschließen wir den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und machen ihn zu einer Art Finanzministerium für die Eurozone. Ihn flankiert eine europäische Wirtschaftsregierung, die von Deutschland und Frankreich dominiert wird.
Das ist ein gewaltiger Schritt. Leider erkennen wir nicht, dass wir auf diese Weise demokratisch nicht legitimierte Institutionen dazu ermächtigen, existenzielle Entscheidungen für die finanzielle und damit letztlich auch soziale Verfasstheit unserer Gesellschaften zu treffen. Weder der ESM noch die Wirtschaftsregierung sind irgendeiner demokratischen Institution rechenschaftspflichtig. Vermutlich wird nicht einmal ein Konvent einberufen, um die europäischen Verträge entsprechend zu ändern. In Regierungskreisen heißt es, es genüge vollkommen, ein entsprechendes Protokoll anzuhängen.
Wir handeln in dem Glauben, auf diese Weise so weiterleben zu können wie bisher. Wir verändern die Welt um uns herum, schaffen neue Herrschafts- und Machtstrukturen und geben uns der Illusion hin, nur so werde alles beim Alten bleiben. Ja, wir bemerken nicht einmal mehr, dass wir Italien und Griechenland demokratisch entmündigen, indem wir ihnen sogenannte „Technokraten-Regierungen“ unter der Führung ehemaliger Investmentbanker verordnen, die ohne Widerspruch und kritisches Nachfragen das umsetzen, was die deutsche Regierungschefin und der französische Staatspräsident ihnen vorgeben.
Unsere Naivität ist unfassbar. Wir, die wir uns hochtrabend Wissensgesellschaft nennen, wir kommen gar nicht erst auf die Idee, dass es uns irgendwann einmal genauso ergehen könnte. Stattdessen lassen wir uns weismachen, das Notwendige zu tun, indem wir die Demokratie schleifen.
Woran sind wir nur so irre geworden? Wann und wo haben wir die Orientierung verloren, an welcher Stelle sind uns die Wegzeichen abhanden gekommen, die zu einer verantwortungsethischen Politik führen?
Immanuel Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft drei Grundfragen der Philosophie formuliert: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, in der Schuldenkrise einmal inne zu halten und sich diese drei Fragen zu stellen.
Zuerst heißt das, sich ein Gesamtbild dessen zu verschaffen, was ist; dann daraus entsprechende Handlungsoptionen zu entwickeln und im Sinne verantwortlichen politischen Handelns auf ihre Wirkung hin zu überprüfen. Es hilft nämlich nichts, einfach schneller zu laufen, wenn man nicht weiß, wohin.
Günther Lachmann am 7. Dezember 2011 für Welt Online