Diese Krisen-Politik beschleunigt den Zerfall Europas
Hat sich eigentlich mal jemand gefragt, was aus Emmanouel Kastanakis geworden ist? Sein Befinden sagt nämlich mehr über die Zukunft Europas aus als jeder Staats-Gipfel oder irgendwelche Billionen schwere Rettungsfonds. Kastanakis ist ein mittelständischer Unternehmer in Thessaloniki. Er verkauft unter anderem Gasheizungen und vertritt so namhafte deutsche Firmen wie Thyssen, Wolf oder Stiebel Eltron in Griechenland. Sein Unternehmen stand kurz vor dem Börsengang, als 2010 die Schuldenkrise über Griechenland und Europa hereinbrach. Im Juli habe ich hier über ihn berichtet. Jetzt haben wir wieder einmal nachgefragt. Die Firma gibt es zwar noch. Aber sein Leben ist ein täglicher Kampf gegen die Pleite.
Wie ihm ergeht es Zigtausenden in ganz Südeuropa. Der Name Kastanakis steht stellvertretend für all die Bauunternehmen, Tischlereien, Klempnereien, Elektro- und Maschinenbaubetriebe und Transportunternehmen, kurz für die gesamte mittelständische Wirtschaft in Griechenland, Spanien und Portugal. Ihr Geschäft ist mit der Krise zusammengebrochen, ihre Mitarbeiter sind arbeitslos. Millionen Bürgern in ganz Europa wurde auf einen Schlag die Existenzgrundlage genommen.
In ganz Europa sind 23 Millionen Menschen ohne Arbeit. Im Mai dieses Jahres lag die Arbeitslosenquote bei den unter 25-Jährigen im Euroraum bei 20 Prozent. In Spanien sind 44,4 Prozent der Jugenlichen ohne Job, in Griechenland 38,5 Prozent. Nicht besser ist die Lage in Ländern, die derzeit keiner im Blick hat. Die Slowakei meldet 33,7 Prozent arbeitslose junge Menschen, Litauen 32,9 Prozent. Diese Jugend hat keine Zukunft.
Wer also wirklich wissen will, wie es um Europa bestellt ist, der muss nicht auf die Gipfel der Staats- und Regierungschefs schauen und deren Billionen schwere Rettungsschirme, sondern auf die Menschen. Der muss nach den vielen Millionen Arbeitslosen fragen und nach den Tausenden vor dem Ruin stehenden Betrieben. Nur wer um die gravierende Schwäche der europäischen Wirtschaft weiß, kann etwas über die innere Verfasstheit des Kontinents, seine demokratische Stabilität und die Qualität der Politik sagen, die für all das verantwortlich ist.
Ob die Staats- und Regierungschefs nun drei, vier oder zehn Rettungsschirme spannen, hat auf die wirtschaftliche Entwicklung nicht den geringsten Einfluss. Von den Milliarden, die bisher ausgegeben wurden unter dem Vorwand, Europa zu retten, ist noch nicht ein Cent bei den Menschen angekommen. Im Gegenteil, jeder Euro, der den Hunger der Spekulanten stillt, fehlt der realen Wirtschaft und damit den Bürgern Europas. Es ist schlichtweg ein Witz zu glauben, so Europa retten zu können.
Niemand wird je die Schuldenkrise beenden, wenn es ihm nicht gelingt, die Menschen in Lohn und Brot zu bringen. Wo sonst sollen die Staaten das Geld herbekommen, mit dem sie die riesigen Schuldenberge wieder abtragen können, wenn nicht von ihren Unternehmen und Bürgern? Sie sind auf die Steuereinnahmen einer florierenden Wirtschaft angewiesen.
Aber wo ist der Plan für einen Aufschwung, der in den Krisenstaaten Arbeitsplätze und Wohlstand schafft? Es gibt ihn nicht. Der ganze Rettungsaktionismus der Politik erinnert an Leute, die, um einem verunglückten Autofahrer zu helfen, blindlings über die Straße laufen und dabei unter die schweren Räder eines Busses geraten.
Die Politik übersieht die eigentliche Gefahr, nämlich den Niedergang der Realwirtschaft. Dabei sind die Anzeichen unübersehbar. Gerade erst hat die Europäische Zentralbank ihre Konjunkturprognose deutlich gesenkt. Das heißt, für Millionen Menschen in Europa gibt es vorerst keine Hoffnung. Es ist diese Entwicklung, die den Zerfall Europas beschleunigt.
Günther Lachmann am 26. Oktober für Welt Online