Das Großartige an der griechischen Tragödie
An den Rändern Europas geschieht etwas Großartiges. Völker erheben sich. Sie tun etwas, womit niemand, und schon gar nicht die Politiker und Finanzmanager dieser Länder gerechnet hatten: Sie machen sich auf, die Geschicke ihrer Länder wieder selbst in die Hand zu nehmen. Oder um es mit Immanuel Kant zu sagen, sie befreien sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Sie folgen ihrem Verstand und der vernünftigen Einsicht, dass nur sie selbst das Dilemma aus Korruption, Schulden und wirtschaftlichem Niedergang beenden können. Warum auch sollten sie dieses Vorhaben noch den bisherigen Politikern und ihren Ökonomen überlassen? Erstens haben sie die Griechen und die Spanier in die Katastrophe geführt. Zweitens haben sie auch nicht ansatzweise eine Idee davon, wie die echte Demokratie, wirtschaftliches Wachstum und Wertschöpfung, die den Wohlstand aller sichert, wiederhergestellt werden können.
Stattdessen fallen die Ökonomen nun über die Politiker her. Ausgerechnet sie, die katzbuckelnd den Gordon Gekkos der Finanzmärkte hinterherliefen und die Politik zu all den verhängnisvollen Schritten trieben, die letztlich in die Krise führten, wagen es, all den Politikern, die ihrem Rat folgten, nun Versagen vorzuwerfen. „Die Euro-Krise zeigt immer mehr das Versagen der Politik“, sagt der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Und der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (ifw), Dennis Snower, stimmt ihm zu.
Bei den über 20 Prozent Arbeitslosen in Spanien aber, von denen viele nun auch noch ihr Dach über dem Kopf verlieren, obwohl fast eine Million Wohnungen leerstehen, und den Griechen, die nun nicht mehr wissen, wie sie bis zum Monatsende über die Runden kommen sollen, ernten die Ökonomen nur noch Verachtung. Die wütenden Bürger hinterfragen den Parteienstaat und die Strukturen ihrer Wirtschaft. Sie suchen nach neuen Wegen, ihre Gesellschaft zu organisieren, ganz so, als hätte ihnen jemand die Mahnung des Perikles in Erinnerung gerufen: „Denn wir halten denjenigen, der an den Angelegenheiten des Staates gar keinen Anteil nimmt, nicht für einen stillen und ruhigen, sondern für einen unbrauchbaren Bürger.“ Die Menschen auf den Straßen von Athen und Barcelona wollen brauchbare, mündige Bürger sein, die die Repräsentationskrise ihrer Länder überwinden.
Waren die Demonstrationen der Griechen anfangs noch von den Linken und Gewerkschaften gesteuert, so werden diese Gruppen inzwischen mehr und mehr marginalisiert. Über 100.000 Menschen kommen manchmal auf dem zentralen Syntagma-Platz gegenüber dem Athener Parlamentsgebäude zusammen. Es sind Menschen jeden Alters, aus allen Berufen und gesellschaftlichen Schichten. Ihr Protest wendet sich „gegen die ungerechte Verarmung der arbeitenden Bevölkerung, den Verlust der staatlichen Souveränität, der das Land in ein neokoloniales Lehen der Banker verwandelt hat, und die Eliminierung der Demokratie“ schreibt der in London lehrende Strafrechtler Costas Douzinas in „der Freitag“. Die Politiker sollten ihre Hüte nehmen und gehen, das sei der Wunsch der Griechen. Jeden Tag kämen die Menschen auf den öffentlichen Plätzen zusammen, um die nächsten Schritte zu besprechen.
„Die Parallelen zur klassischen Athener Agora, die sich nur ein paar hundert Meter entfernt zusammenfand, sind bemerkenswert“, schreibt Douzinas. „Wer reden will, bekommt eine Nummer und wird auf das Podium gerufen, wenn diese gezogen wird – eine Erinnerung daran, dass bei den Alten Griechen viele Amtsinhaber durch das Los ausgewählt wurden.“ Alle Redner hielten sich streng an die Rededauer von zwei Minuten, damit so viele wie möglich sich einbringen könnten. Die Themen der Demonstranten reichten „von Fragen der Organisation über neue Widerstandsformen und internationale Solidarität bis hin zu Alternativen zu den verhängnisvollen und ungerechten Sparmaßnahmen“. „Es gibt nichts, worüber nicht geredet werden könnte“, so Douzinas.
Ganz ähnlich beschreibt der spanische Soziologe César Renduelez den Protest in Madrid, Barcelona und anderen Großstädten des Landes. „Sozilogisch betrachtet ist das faszinierend, wie groß die Leidenschaft der Menschen zu reden und zuzuhören ist“, sagt er im Gespräch mit der „taz“. „Es ist wie eine Rückkehr zum eigentlichen Wesen der Demokratie. Man eröffnet einen Raum der Debatte – und zwar nicht, um pragmatische Entscheidungen zu treffen, sondern um grundsätzliche Fragen zu erörtern.“
Darin geht es um die besondere Prägung der Demokratien durch die lange Franco-Herrschaft in Spanien und durch das Regime der Obristen in Griechenland. So spricht etwa die Madrider Sozialwissenschaftlerin Ángeles Diez von einer „tiefen Legitimitätskrise“ der spanischen Demokratie, die bereits im Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie angelegt worden sei. Der Philosoph und Drehbuchautor Santiago Alba Rico sagt, die Demokratie werde durch Wirtschaftsstrukturen geschliffen, die den demokratischen Charakter der Institutionen unterliefen. In seinen Augen kommt die Repolitisierung der Gesellschaft einer Revolution gleich.
Tatsächlich fragen sich die Menschen auf den Straßen Griechenlands und Spaniens nach all ihren Erfahrungen, wie Kapitalismus und Demokratie zueinander stehen. Wenn es so ist, wie Helmut Schmidt in seinem Buch „Religionen in der Verantwortung schreibt, dass Kapitalismus weder „das Prinzip der Demokratie noch das Prinzip des Friedens umfasst“, wie ließe sich beides in einer anderen, neuen Form einer demokratischen Bürgerrepublik sichern, wo doch die bestehende sich als so mangelhaft erwiesen hat? Und ganz evident ist die Frage, wie gelingt es, den Kapitalismus wieder so zu organisieren, dass er den Menschen dient, sprich Arbeitsplätze und Wohlstand sichert?
Die Hoffnung, darauf Antworten zu finden, ist durchaus berechtigt. Zum einen kommt in diesen Ländern die intellektuelle Debatte über neue Formen der Demokratie in Gang. Zum anderen gab es bereits in der Vergangenheit Leute, die den Irrweg des Kapitalismus erkannten und vorhersagten. Dazu gehörte etwa der auch heute noch als Pessimist verschriene US-Ökonom Nouriel Roubini, oder auch William White von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Aber ihre Warnungen wurden ignoriert. Dabei sagte bereits im Jahr 1993 sagte eine Studie des US-Militär-Analysten Charles W. Taylor die Deindustrialisierung weiter Teile Europas, der USA und Australiens voraus (http://www.strategicstudiesinstitute.army.mil/pdffiles/pub245.pdf). Tatsächlich exportierten diese Länder in den folgenden Jahren Millionen Jobs nach Asien. Heute trägt dies maßgeblich zur hohen und weiter steigenden Arbeitslosigkeit etwa in den USA und Großbritannien bei.
Mit bemerkenswerter Klarheit beschrieb der Chinese Lau Nai-keung 2005 in einem Beitrag für die „China Daily“ die katastrophalen Folgen der amerikanischen Niedrigzins und Verschuldungspolitik. „Jeder Ökonom, der sein Geld wert ist, weiß, dass diese Situation unhaltbar ist“, schrieb er und verwies auf die Immobilienblase, deren Platzen 2008 die weltweite Finanzkrise auslöste. „Was ist, wenn die Zinsen steigen?“, fragte er. „Wie sollen all die neuen Hausbesitzer dann ihre Kredite abzahlen? Wie sollen Kunden mit Rekord-Schulden auf ihren Kreditkarten einkaufen?“
Inzwischen hören die Menschen auf Leute wie Lau Nai-keung. Und in die Stimmen der Demonstranten auf den öffentlichen Plätzen in Griechenland und Spanien mischen sich die Stimmen jener ökonomischen Querdenker, deren Publikationen in der Vergangenheit kaum ein angesehenes Journal druckte und aus deren Reihen kaum einer einen Lehrstuhl an einer renommierten Universität erhielt, weil sie die Unfehlbarkeit der dominierenden Lehre infrage stellten. Damit sie gehört werden, haben sie sich zusammengetan. Im Mai gründeten 3000 Wirtschaftswissenschaftler aus aller Welt als Bollwerk gegen den orthodoxen Mainstream die alternative „World Economic Association“.
Ohne Frage geht von den Rändern Südeuropas derzeit eine ungeheure Dynamik aus, eine Bewegung, die in seltsamem Kontrast zum Stillstand und der Ratlosigkeit von Staatschefs und den sogenannten führenden Ökonomen steht, die allesamt außerstande sind, die wahren Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Tief enttäuscht sind die Gesellschaften bereit, selbst auf die Suche nach dem Sachverstand zu gehen, der es ihnen ermöglicht, solche Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Leicht wird es vermutlich nicht werden. Aber sie tun das Richtige: Sie handeln.
Günther Lachmann am 23. Juni 2011 für Welt Online