Streit um Karlsruher Kompetenzen
Staatsrechtler Josef Isensee sagt, das Verfassungsgericht habe mit allen Wahlrechtsurteilen seine Kompetenz deutlich überschritten. Nur Die Linke sieht das anders.
Das Bundesverfassungsgericht gerät wegen seiner Urteile zum Wahlrecht immer stärker in die Kritik. Die letzten vier Urteile seien sämtlich überflüssig, sagte er renommierte Staatsrechtler Josef Isensee der Welt. Zudem habe das Gericht in allen Fällen seine Kompetenzen „deutlich überschritten“. Zuvor hatten Unionsfraktionsfraktionschef Volker Kauder und die Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag, Renate Künast (Grüne), das Bundesverfassungsgericht attackiert.
„Das Verfassungsgericht hat nicht nur in den beiden Entscheidungen zum Europawahlrecht, sondern auch in den beiden Entscheidungen zum Bundestagswahlrecht seine Zuständigkeiten deutlich überschritten“, sagte Isensee. Das Gericht setze seine vertretbare Auslegung des Grundgesetzes an die Stelle der vertretbaren Auslegung durch das Parlament. Das Parlament aber habe den ersten Zugriff auf die Entscheidung und das Recht zur politischen Gestaltung. „Der erste Zugriff des Parlaments kann vom Bundesverfassungsgericht nur korrigiert werden, wenn das Parlament gegen Vorschriften der Verfassung verstößt. Ein solcher Verstoß liegt nicht vor“, sagte der Staatsrechtler.
Weimarer Verhältnisse verhindert
Ende Februar hatte das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Hürde für Europawahlen für verfassungswidrig erklärt. Sie verstoße gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, urteilte das Gericht. Außerdem hatte es den Gesetzgeber mit einer Änderung des Bundestagswahlrechts beaufrtragt.
Die Sperrklausel habe das ihre dazu beigetragen, Weimarer Verhältnisse zu verhindern, sagte Isensee. Sie verhindere nicht den Zugang neuer Parteien, schließlich seien die Grünen auch nicht von Anfang an dabei gewesen. „Sie baut aber eine Hürde auf, so dass sich die Parteien erst auf anderen Ebenen etablieren müssen, damit sie in den Bundestag kommen“, sagte der Staatsrechtler. Folglich sei die Klausel ein legitimer Stabilitätsfaktor, der sich auch in der Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus bewährt habe. „Die Einbuße an Gleichheit des Erfolgswertes der Wählerstimme, die durch die Sperrklausel bewirkt wird, ist gerechtfertigt, um der Funktionsfähigkeit des Bundestages willen“, sagte Isensee.
„Ein unfreundlicher Akt“
Er teile die Einschätzung des Verfassungsgerichts, dass das Europäische Parlament auf europäischer Ebene nicht annähernd die Bedeutung habe, die der Bundestag oder ein Landtag innerhalb Deutschlands hätten. „Aber es ist eben die Frage, ob es ein Beobachter sagt oder das Bundesverfassungsgericht als deutsches Staatsorgan. Im Munde des Bundesverfassungsgerichts wirkt dieses Urteil als eine Geringschätzung des europäischen Parlaments und damit als ein unfreundlicher Akt.“
Als Folge der jüngsten Rechtsprechung sei das jetzige deutsche Wahlrecht zur Bundestagswahl noch mangelhafter als das ursprüngliche. „Hier hat das Bundesverfassungsgericht ohne Not in das gewachsene, leidliche und sicher auch in vielerlei Hinsicht politisch kritikwürdige System eingegriffen. Insofern liegt hier ein Akt der Rechthaberei des Gerichts vor, der sich unglücklich auswirkt. Ich halte deswegen die letzten vier Urteile zum Wahlrecht alle für überflüssig“, so Isensee.
„Wachsenden Kompetenzen des Europäischen Parlaments“
Die Rechtsausschuss-Vorsitzende Künast verwies darauf, dass die von Karlsruhe gekippte Drei-Prozent-Klausel für die Europawahl ihren Sinn auch in den wachsenden Kompetenzen des Europäischen Parlaments gehabt habe. „Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht beachtet“, sagte sie der „Welt“. Außerdem werde im Verfahren um die Praxis der Europäischen Zentralbank, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen, offenkundig die Auffassung des Bundestages ignoriert. „Viele Abgeordnete stehen staunend davor und fragen sich, wo dieses Verfahren enden könnte“, sagte Künast mit Blick auf die für Dienstag angesetzte Urteilsverkündung.
Zuvor hatte Kauder das Bundesverfassungsgericht ermahnt, mehr Rücksicht auf die Politik zu nehmen. „Ich beobachte mit Sorge, ob das Bundesverfassungsgericht dem Grundsatz der richterlichen Selbstbeschränkung noch den genügenden Stellenwert beimisst“, sagte er der „Welt am Sonntag“. „Das Parlament als unmittelbar vom Volk gewähltes Verfassungsorgan muss seinen politischen Gestaltungsspielraum behalten“, sagte Kauder. „Ich bitte hier um mehr Rücksichtnahme.“ In einigen Urteilen, auch in der jüngsten Entscheidung zur Europawahl, habe Karlsruhe der Politik nicht mehr genügend Raum zur freien politischen Gestaltung gelassen.
Schützenhilfe von links
Die Linke verteidigte hingegen das Verfassungsgericht. „Mit geht dieses Gerichts-Bashing ziemlich auf die Nerven“, sagte die rechtspolitische Sprecherin Halina Wawzyniak. Inhaltlich stimme das 3-Prozent-Urteil mit dem Karlsruher Urteil gegen 5-Prozent-Hürde überein. Schon damals habe das Verfassungsgericht seine Entscheidung gut begründet. „Diejenigen, die dennoch glaubten, einen 3-Prozent-Hürde einziehen zu müssen, hätten wissen müssen was auf sie zukommt“, sagte sie. Seither hätten sich die Verhältnisse nicht geändert.