Mindestlohn-Vertrag schon brüchig

 Horst Seehofer bricht den ersten Koalitionsstreit vom Zaun: Rentner sollten keinen Mindestlohn bekommen. Die SPD ist schockiert, die Opposition voller Schadenfreude.

 

Kurz vor Weihnachten bricht Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) den ersten veritablen Koalitionsstreit vom Zaun. Auslöser ist ein Interview, das er der „Welt am Sonntag“ gab. Darin fordert er Ausnahmen bei Mindestlöhnen etwa für Rentner, die mehr schlecht als recht von ihrer Altersrente leben und noch etwas hinzuverdienen. Auch Saisonarbeiter und Praktikanten sollen keinen Mindestlohn erhalten. Die SPD ist empört und mahnt die Union zur Vertragstreue. Grüne und Linke können sich die Schadenfreude nicht verkneifen.

Der Unmut der SPD schert den bayerischen Ministerpräsidenten wenig, schließlich wusste er, dass jeder Angriff auf den Mindestlohn in den Augen der Sozialdemokraten eine Art Sakrileg ist. „Wir müssen Gesetze machen, die auf die Lebenswirklichkeit passen“, sagt Seehofer. Im Großen und Ganzen sei zwar auch er für den im Koalitionsvertrag vereinbarten Mindestlohn. „Ich werde aber aufpassen, dass er nicht zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führt.“

„Kluge Regelung“ gesucht

Im Koalitionsvertrag vereinbarten Union und SPD eine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde, die spätestens 2017 verpflichtend gelten soll. Bis dahin können die Tarifpartner auch Abschlüsse vereinbaren, die darunter liegen. Die Höhe des allgemein verbindlichen Mindestlohns soll in regelmäßigen Abständen von einer siebenköpfigen Kommission der Tarifpartner festgelegt werden.
Doch kaum ist die neue Koalitionsregierung im Amt, da soll der Mindestlohn schon nicht mehr nicht mehr allgemein verbindlich sein.

So sei das auch nie vereinbart worden, meint der neue CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Vielmehr hätten sich Union und SPD darauf verständigt, dass die Koalition „Probleme, z.B. bei der Saisonarbeit, bei der Umsetzung“ berücksichtige, sagt Tauber. „So steht es im Koalitionsvertrag und die Union hält daran fest.“ Beispielsweise brauche es bei Zeitungsausträgern oder Praktikanten eine kluge Regelung, also im Zweifel eben auch Ausnahmen.

„Der etwas eigenwillige bayerische Löwe“

Das sieht die SPD freilich ganz anders. „Der Koalitionsvertrag gilt in allen seinen Teilen, und er trägt auch die Unterschrift von Horst Seehofer“, sagt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). Und Schleswig-Holsteins SPD-Landeschef Ralf Stegner weist daraufhin, dass gerade der Mindestlohn für die SPD „ein elementarer und unumstößlicher Bestandteil des Koalitionsvertrages“ sei. Das müssten alle Beteiligten wissen. „Er war ein zentrales Element für die Zustimmung im SPD-Mitgliedervotum“, sagt Stegner. „Darum gehen wir davon aus, dass Arbeitsministerin Andrea Nahles gemäß dem Koalitionsvertrag einen Gesetzentwurf zum Mindestlohn schreiben und in den Bundestag einbringen wird.“

Der Versuch, bereits unterzeichnete Vereinbarungen hinterher in Frage zu stellen, sei typisch für Seehofer. „Es ist wohl der etwas eigenwillige bayerische Löwe, der nur eine Woche, nachdem wir eine gemeinsame Regierung gebildet haben, gegen Einzelheiten im Koalitionsvertrag anbrüllt, die der CSU nicht so gut gefallen“, sagt Stegner. Seehofer nutze „seine Beinfreiheit die ihm die Union lässt“, gern auch in Interviews. „Ungeachtet dessen, was Seehofer da gesagt hat, gehen wir davon aus, dass die Union vertragstreu ist“, so der schleswig-holsteinische SPD-Vorsitzende.

Das Parlament lahmgelegt

Bereits während der Koalitionsverhandlungen hatte Arbeitsministerin Andrea Nahles Ausnahmen beim Mindestlohn kategorisch abgelehnt. „Ausnahmen wird es nicht geben, trotz aller Fluchtfantasien in Teilen der Union“, sagte sie. „Ohne gesetzlichen Mindestlohn gäbe es keine große Koalition. Deshalb kann ich garantieren: Ab 1. Januar 2017 wird niemand in Deutschland weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen.“

Für die Opposition offenbart der Konflikt bereits jetzt die Schwächen der großen Koalition. „Wochenlang haben die Koalitionsverhandlungen das Parlament lahmgelegt. Und jetzt zeigt sich, dass der Koalitionsvertrag noch nicht mal den Monat übersteht, in dem er unterschrieben wurde“, sagt die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. „Horst Seehofer kann den Mund offenbar nicht voll genug nehmen.“

Wer hat das Sagen?

Mit der PKW-Maut für Ausländer und dem Verzicht auf Steuererhöhungen verspreche er das Blaue vom Himmel herunter. „Und nun fängt er an, weitere Differenzierungen beim Mindestlohn einzufordern“, sagt Göring-Eckardt. Es werde interessant sein, zu beobachten, „ob es sich die SPD gefallen lässt, die ohnehin wachsweichen Pläne weiter aufzuweichen“.

Unter diesen Vorzeichen sei es auch fraglich, ob es der neuen Familienministerin Manuela Schwesig gelingen werde, das Betreuungsgeld und die Extremismusklausel abzuschaffen. Mit der Seehofer-CSU sei das sicher nicht zu machen. „Wer bei der großen Koalition das Sagen hat, ist völlig unklar“, sagt die Grünen-Fraktions-Vorsitzende.

„Koalition des großen Streits“

So unklar sei das gar nicht, meint die Linken-Vorsitzende Katja Kipping. Es sei unübersehbar, dass die Union den Ton angebe. „Die SPD hat sich über den Tisch ziehen lassen. Der Koalitionsvertrag ist an dieser Stelle eine Mogelpackung, die nichts wirklich regelt“, sagt sie. Mit der Union werde die SPD bestenfalls einen Mindestlohn Light hinbekommen. „Das wird den Problemen nicht gerecht, und ich warne die SPD vor dem Wortbruch“, sagt Kipping. „Wir lassen das im Bundestag nicht durchgehen.“

Im Übrigen sei das Vorgehen Seehofers „bezeichnend für den Stil dieser Regierung“. „Das wird eine Koalition des großen Streits“, prophezeit die Linke-Vorsitzende, da SPD und Union nicht dasselbe wollten und bei schon nach dem Notausgang schielten. Unter diesen Voraussetzungen werde die Koalition nicht vom Fleck kommen. Von einer Gerechtigkeitswende könne jedenfalls nicht die Rede sein.

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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