Die Krisen-Politik muss die Rechts-Links-Logik überwinden

Wir werden die Marktwirtschaft ganz sicher nicht abschaffen. Also müssen wir sie besser verstehen, wenn wir die europäische Krise überwinden und zuversichtlicher in die Zukunft blicken wollen.

 

Die beiden Fernsehduelle der Spitzenkandidaten aller im Bundestag vertretenen Parteien für die Bundestagswahl sind gelaufen. Die Formate der beiden Sendungen hätten kaum unterschiedlicher sein können.

Während das „Duell“ zwischen Angela Merkel (CDU) und Peer Steinbrück (SPD) bisweilen eher wie eine getrennt vorgenommene Abfrage von mehr oder weniger vorbereiteten plakativen, aber oberflächlichen Antworten und vage begründeten Versprechungen daher kam, lieferten sich Rainer Brüderle (FDP), Jürgen Trittin (Grüne) und Gregor Gysi (Linke) eine hitzige Debatte, die immer wieder der Kontrolle der beiden Moderatoren entglitt.

Die Vertreter der kleinen Bundestagsparteien gingen dabei angesichts der auf 60 Minuten begrenzten Zeit in rasendem Tempo mit Fakten und Details derart in die Tiefe der angesprochenen Themen, dass die meisten Wähler Schwierigkeiten gehabt haben dürften, der Debatte nicht nur zu folgen, sondern die drei Parteien auch zu beurteilen. In der TV-Befragung von Merkel und Steinbrück bekamen sie in 90 Minuten dagegen viel zu wenig Handfestes und viel zu wenig Streitgespräch geboten, um sich ein Urteil über die Wählbarkeit der beiden Parteien bilden zu können.

Merkel nicht haushoch überlegen

Insofern stellt sich die Frage, was man aus den beiden TV-Runden für die Wahl eigentlich mitnehmen konnte.

Im Wesentlichen ist klar geworden, dass die Bundeskanzlerin ihrem Herausforderer Peer Steinbrück durchaus nicht haushoch überlegen ist, wie es die Umfragen der Meinungsforschungsinstitute zur Kanzlerfrage bisher suggerierten.

Ferner ist deutlich geworden, dass es zwischen den Parteien im Bundestag in vielen Fragen Unterschiede gibt, obwohl sich das in ihrem Abstimmungsverhalten im Bundestag nicht immer widergespiegelt hat. Erkennbar wurde aber auch, dass es bei den verschiedenen Parteien zum Teil Übereinstimmungen in den Positionen gibt, die eine Basis für Koalitionsgespräche bieten könnten.

Keiner will die Große Koalition

Die wichtigste Information, die die Wähler aus den Fernsehrunden ziehen konnten, ist die nach den denkbaren Koalitionen. Rainer Brüderle (FDP) hat eine Koalition der FDP mit SPD und Grünen kategorisch ausgeschlossen und zwar wegen der Unvereinbarkeit der Wahlprogramme und aus marktideologischen Gründen. Die FDP hat sich insofern de facto auf eine Koalition mit der Union festgelegt.

Festgelegt hat sich auch Jürgen Trittin (Grüne). Er schloss eine Koalitionsregierung mit der Union aufgrund nicht überbrückbarer programmatischer Unterschiede aus. Was offenbar keine Partei will, ist eine Große Koalition.

Allerdings ist in der TV-Runde der Eindruck entstanden, als habe Peer Steinbrück diese zunächst einmal nur für sich selbst ausgeschlossen. Ausdrücklich hat er zudem gesagt, dass es mit ihm als Kanzler keine Koalition der SPD mit der Linkspartei geben wird, weil er die Linke nicht für koalitionsfähig hält. Er steht folglich nur als Kanzler einer von SPD und Grünen geführten Regierung zur Verfügung.

Gemeinsamkeiten

Gleichwohl haben die beiden TV-Runden der Spitzenkandidaten der Bundestagsparteien gezeigt, dass es inhaltlich gesehen bei SPD, Grünen und Linken in einigen Punkten Übereinstimmungen gibt oder Positionen nahe beieinander liegen.

Dreikampf im TV: Gregor Gysi, Rainer Brüderle und Jürgen Trittin / Foto: GEOLITICO

Dreikampf im TV: Gregor Gysi, Rainer Brüderle und Jürgen Trittin / Foto: GEOLITICO

Das legt für die Wähler den Schluss nahe, dass es mit Peer Steinbrück nach der Wahl nur Rot-Grün geben kann, andere Koalitionen für die SPD ohne ihn jedoch denkbar sind. Steinbrück steht für „Klare Kante“. Wenn es bei der Wahl nicht für Rot-Grün reicht, dann sollte man annehmen dürfen, dass er den Weg für andere Koalitionen der SPD freimacht, sofern der Wahlausgang und die inhaltlichen Übereinstimmungen das erlauben.

Noch etwas sehr Wichtiges ist in den beiden TV-Runden deutlich geworden. Union und FDP haben hinsichtlich des wichtigsten Themas, nämlich der europäischen Krise, den Eindruck vermitteln wollen, sie hätten eine erfolgreiche Politik betrieben. Für Deutschland soll es demnach wirtschaftlich, auf dem Arbeitsmarkt und finanziell gesehen gut weitergehen und in den europäischen Krisenstaaten soll es aufwärts gehen, wenn ihr Kurs fortgesetzt wird.

Merkel will Zuversicht vermitteln

Die drei Oppositionsparteien hingegen haben aufzuzeigen versucht, dass die Regierungspolitik für Deutschland erstens weit weniger erfolgreich war als behauptet – vor allem unter Hinweis auf die prekäre Beschäftigung und die drohend Altersarmut. Ferner bemühten sie sich aufzuzeigen, dass die europäische Krisenpolitik, die die Bundesregierung forciert, die Krisenstaaten in Südeuropa in eine Abwärtsspirale mit wirtschaftlicher Talfahrt, hoher und weiter steigender Arbeitslosigkeit gedrückt hat und das ohne bei den Staatsschulden eine Verbesserung zu erreichen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass dadurch weitere Volkswirtschaften in Europa, z. B. Frankreich, unter Druck geraten und die Krise letztlich auch in Deutschland ankommen wird, auch wenn das jetzt noch nicht der Fall ist.

Das größte Risiko von Union und FDP bei der Bundestagswahl dürfte sein, ob die Wähler darauf vertrauen, dass deren Politik tatsächlich in Deutschland wirtschaftliche Stabilität und Prosperität sicherstellen kann. Deswegen haben Angela Merkel und Rainer Brüderle auch genau diese Zuversicht zu vermitteln versucht. Das war ihr roter Faden in den beiden TV-Runden.

Risiken der Krisenbekämpfung

Die drei Oppositionsparteien haben folgerichtig versucht, bei den Wählern Zweifel am bisherigen politischen Kurs und der damit begründeten Zuversicht der Regierungsparteien zu wecken oder zu schüren. Darin liegt ihre größte Chance bei der Bundestagswahl, aber auch ihr größtes Risiko. Letzteres deswegen, weil sie damit rechnen müssen, dass die Wähler zwar dem regierungspolitischen Kurs misstrauen, aber zugleich auch ihren Fähigkeiten, es besser machen zu können.

Zwar ist in Deutschland für die meisten Wähler noch nicht viel von Krise zu spüren. Gleichwohl sehen sie aber sehr wohl, wie sich die Krise bei unseren europäischen Nachbarn auswirkt und wie sie sich innerhalb Europas ausbreitet. Sie sehen auch die immensen Kosten und finanziellen Risiken der Krisenbekämpfung.

Wird es uns auch treffen? Oder wird alles gut, wie die Regierungsparteien behaupten? Das sind die Fragen, die sich viele bei dieser Bundestagswahl stellen werden. Ausschlaggebend dürfte jedoch sein, ob und wie viele Wähler es einer möglichen anderen Regierungskoalition zutrauen, eine überzeugendere, bessere Politik zu machen und die europäische Krise effektiver zu bekämpfen.

Das Rechts-Links-Problem

Das Problem dabei ist, dass in Politik und Gesellschaft nach wie vor in den Kategorien „Rechts – Links“, „wirtschaftsnah – arbeitnehmernah“, „liberal – sozial“, „Marktwirtschaft – Planwirtschaft“ und „Kapitalismus – Sozialismus“ gedacht, geworben und gewählt wird. Mit der wirtschaftlichen Realität hat das jedoch praktisch gar nichts mehr zu tun. Denn was wir in der Realität haben, sind Mischformen dessen, wofür die Begriffspaare stehen. Die reine, freie Marktwirtschaft gibt es nicht und es kann sie auch gar nicht geben.

Protest der Rentner in Griechenland / Foto: GEOLITICO

Protest der Rentner in Griechenland / Foto: GEOLITICO

Was erschwerend hinzukommt, ist folgendes: Parteien, die sich auf der rechten, wirtschaftsnahen und marktwirtschaftlichen Seite einordnen und damit beim Wähler um Stimmen werben, tun das seit Dekaden deswegen, weil sich ihre Politik an der liberalen Marktlogik der Wirtschaftstheorie (klassische und/oder neoklassische Wirtschaftstheorie) orientiert.

Die Politik und Keynes

Parteien, die sich auf der linken, sozialen Seite des Parteienspektrums einordnen, sind deswegen zwar nicht automatisch für Planwirtschaft und Sozialismus und damit wirtschaftsfeindlich. Sie haben aber prinzipiell das Problem, dies glaubhaft zu vermitteln, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie dabei auf keine andere, alternative Marktlogik rekurrieren.

Vielmehr berufen sie sich immer wieder mehr oder weniger stark auf die keynesianische Theorie, die Umverteilungspolitik und in wirtschaftlichen Krisenzeiten Konjunkturstimulierung nahelegt – so auch jetzt. Oder sie präferieren die klassische Form der interventionistischen, das heißt auf korrigierende, steuernde Eingriffe in die Wirtschaft setzende Industriepolitik, mit der spezifische Branchen und sogenannte „National Champions“ bzw. große, international ausgerichtete Konzerne gezielt gefördert werden.

Peer Steinbrück hatte deswegen als damaliger Bundesfinanzminister beispielsweise die Übernahme der Dresdner Bank durch die Commerzbank unterstützt und begrüßt, weil dadurch neben der Deutschen Bank ein zweiter „National Champion“ im Bankensektor entstand. Zur Erklärung: Industriepolitik ist ein aus dem Englischen abgeleiteter Begriff und steht entgegen der verbreiteten Annahme nicht für den Industriesektor, sondern für den Begriff Branchen- oder sektorale Wirtschaftspolitik.

Ein Rechtfertigungsproblem

Das Problem: Keynesianismus und Industriepolitik bauen ebenfalls auf der wirtschaftsliberalen Marktlogik (aus der neoklassischen Theorie) auf. Damit reduzieren sich die Unterschiede zwischen Rechts und Links, aber eben auch zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft sowie Kapitalismus und Sozialismus letztlich auf die Frage, ob staatliche Interventionen in die Wirtschaft befürwortet oder abgelehnt werden.

Wer für die freie Marktwirtschaft ist, ist in wirtschaftsliberaler Lesart gegen Interventionen, weil er davon ausgeht, dass die realen Märkte – wie in der wirtschaftsliberalen Theorie angenommen wird – selbstregulierend sind und am besten funktionieren, wenn der Staat bzw. die Politik nicht in die Wirtschaft eingreift. Jede Partei aber, die Interventionen befürwortet, hat insofern automatisch ein Rechtfertigungsproblem, so lange sie sich im Grundsatz derselben Marktlogik bedient bzw. so lange sie sich nicht auf eine andere Marktlogik stützen kann, die das Wann, Warum und Wie von Interventionen schlüssig erklärt.

Das Dilemma der Opposition

Das heißt, wenn die aktuelle wirtschaftsliberale Politik und europäischen Krisenpolitik der Schwarz-Gelben Bundesregierung als falsch angesehen und herausgestellt werden, dann kranken die angebotenen Alternativen der „linken“ Oppositionsparteien an zweierlei:

  • Erstens liegt ihren Konzepten im Grundsatz implizit dieselbe Marktlogik zugrunde wie der Wirtschafts- und Krisenpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung und damit haben sie dieselben, mit dieser Logik verbunden Schwächen und Fehler eingebaut.
  • Zweitens können sie differenzierte Interventionen bei markt- und wirtschaftsstrukturellen Problemen, mit denen wir es in der europäischen Krise zu tun haben, nicht schlüssig begründen, weil das weder die keynesianische Theorie noch die klassische theoretische Fundierung der Industriepolitik hergibt.

Es ist deswegen keineswegs überraschend, dass die Oppositionsparteien in den beiden TV-Duellen mit ihrer Kritik an der auf die Wirtschaft, die Finanzmärkte und die europäische Krise gerichteten Politik der schwarz-gelben Bundesregierung überzeugender wirkten als mit ihren Vorschlägen für eine andere, bessere Politik. Die Überzeugungskraft einer alternativen krisenpolitischen Konzeption resultiert nicht aus den jeweils eingeschlossenen Einzelmaßnahmen, sondern aus der Schlüssigkeit der zugrunde liegenden Logik, an der alle Maßnahmen des Konzepts ausgerichtet sind.

Ungleichgewichte in Europa

Die wirtschaftlichen Perspektiven sind den Bürgern bei von einer Krise oder einem Krisenszenario geprägten Wahl naturgemäß besonders wichtig. Wir haben gegenwärtig keine Krise in Deutschland und es ist unklar, inwieweit das Krisenszenario bei der Wahlentscheidung der Bürger eine Rolle spielen wird. Es dürfte jedoch unstrittig sein, dass die Überwindung der Staatsschuldenkrise in den betroffenen europäischen Volkswirtschaften stockt und sich die Wirtschafts- und Beschäftigungskrise dort vertieft und in Europa ausdehnt. Von einer Eindämmung der Krise kann also keine Rede sein.

Straßenbild aus Athen / Foto: GEOLITICO

Straßenbild aus Athen / Foto: GEOLITICO

Tragfähige Staatshaushalte hängen nicht nur vom Ausgabenverhalten ab, sondern auch von soliden Einnahmen. Deswegen kommt es entscheidend darauf an, die Wirtschaft in Schwung zu bringen und das heißt, die markt- und wirtschaftsstrukturellen Probleme und Ungleichgewichte in Europa zu lösen. Das können die Krisenstaaten definitiv nicht alleine schaffen. Wie das gelingen kann, darüber hat es aber bisher noch nicht einmal eine echte, konstruktive Debatte gegeben. Daran wird sich vor der Bundestagswahl wohl auch nichts mehr ändern.

Wo ist die Perspektive?

Wir werden die Marktwirtschaft ganz sicher nicht abschaffen. Also müssen wir sie besser verstehen, wenn wir die europäische Krise überwinden und zuversichtlicher in die Zukunft blicken wollen. Das ist eine zentrale Heraus-forderung. Unsere Oppositionsparteien haben das offenbar noch nicht erkannt. Sie sind im alten Rechts-Links-Schema des Wahlkampfes stecken geblieben. Eine überzeugende Perspektive konnten sie vor allem deswegen bisher auch noch nicht aufzeigen. Einen Wettbewerb der Konzepte hat es im Wahlkampf nicht gegeben. Union und FDP haben ihre Identität jedoch praktisch fest an die wirtschaftsliberale Marktlogik gekoppelt. Sie werden daran festhalten. Andernfalls steht ihnen eine tiefe Identitätskrise bevor.

Mit diesen schweren Hypotheken gehen die Parteien jetzt in die Wahl. Es ist eine Wahl, bei der es für die Wähler am Ende wahrscheinlich einfach nur darum gehen wird, ob die mit einer Politik des „Weiter so“ verbundenen Sorgen größer sind als die Angst vor der Ungewissheit wie es weitergeht, wenn man diese Politik am Wahltag stoppt.

Die einzigen, die in jedem Fall davon profitieren, wenn die Wähler diese Politik nicht stoppen, könnten indes „die Märkte“ sein. Was das in einer von Oligopolen gekennzeichneten Wirtschaftsrealität bedeutet, darüber soll sich jeder seine eigenen Gedanken machen.

 

Über Stefan L. Eichner

Als Ökonom beschäftigt sich Stefan L. Eichner seit 1990 mit den Themen: Europäische Integration, Wirtschafts- und Industriepolitik, Industrieökonomik und Wettbewerbstheorie. 2002 stellte er in einer Publikation eine neue Wettbewerbstheorie vort, die er "evolutorischer Wettbewerb" nennt. Kontakt: Webseite | Weitere Artikel