Ruhe ist noch lange nicht!
Das Europa von heute ist nicht mehr das Europa von gestern. In Frankreich haben die Wähler den konservativen Präsidenten Nicholas Sarkozy davongejagt, in Griechenland haben sie in ihrer Wut und Verzweiflung Links- und Rechtsradikale auf die konservative Nea Dimokratia und die Panhellenischen Sozialistische Bewegung (Pasok) gehetzt, die das Land über Jahrzehnte in Korruption und Schulden erstickten. Hier wie dort wollten die Wähler den Wandel, eine vollständige Erneuerung der europäischen Politik, sie wollten sie so radikal wie selten zuvor.
Voller Freude über ihren Sieg „stürmten“ die Anhänger des neu gewählten französischen Präsidenten François Hollande gestern Abend symbolisch die Bastille. Aber haben diese Wahl-Revolutionäre ihr Ziel tatsächlich erreicht?
Ihnen wurde viel versprochen. Hollande, warb damit, er wolle Schluss machen mit dem deutschen Spardiktat, den französischen Machtanspruch in Europa erneuern und im eigenen Land die Wirtschaft ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen. Links- und Rechtsradikale in Griechenland wollten die Rückzahlung der Staatsschulden stoppen und so die Lebensbedingungen wieder verbessern. Sowohl Hollande als auch die griechische Opposition bedienten so die Sehnsucht der Menschen nach einer grundlegenden Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die vor allem der mächtigsten Frau Europas angelastet werden: Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Zweifellos waren die Wahlen in Griechenland und Frankreich auch Wahlen gegen Angela Merkel, gegen ihre Vorstellungen eines künftig noch enger verzahnten Europas, in dem die Nationalstaaten gewichte Souveränitätsrechte verlieren. Es waren Abstimmungen gegen die von ihr betriebene Gängelung der Staaten durch eine Zentralmacht in Brüssel, gegen den Verlust von Demokratie durch „Expertenregierungen“. Diese Wahlen waren also eine klare Absage an das System Merkel in Europa.
Aber sie haben das System nicht nachhaltig beschädigt. In Griechenland werden die Nea Dimokratia und die Pasok vermutlich mit Hilfe einer kleinen Partei eine Regierung bilden und den bisherigen Kurs weiterfahren, so gut es irgendwie geht. Und Frankreichs neuer Präsident Hollande hat im Grunde bereits vor seinem Wahlsieg den Weg zu Merkel gesucht und damit bewiesen, dass ihm der Mut zu einer vollständig neuen Politik fehlt, wie sie die Wähler von ihm erhofften.
Der Fiskalpakt, den er ursprünglich komplett neu verhandeln wollte, wird jetzt um einen „Wachstumspakt“ ergänzt. Das klingt erst einmal gut, aber hinter diesem großen Wort verbirgt sich nichts, was Merkel nicht sofort unterschreiben könnte. Hollande fordert mehr Spielraum für die europäische Investititonsbank (EIB) und will sogenannte „Projektbonds“ einführen. Die Idee stammt aber nicht einmal von ihm, sondern vom früheren Investmentbanker und heutigen italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti. Mit diesen Anleihen sollen große Infrastrukturprojekte, etwa europaweite Energienetze finanziert werden. Und da das meiste Geld von privaten Investoren kommen soll, ist das für die Kanzlerin also kein Problem.
Innenpolitisch steht Hollande vor riesigen Herausforderungen. Die Staatsschulden wachsen beängstigend, die Arbeitslosigkeit ebenso. In der Amtszeit von Sarkozy haben über eine Million Franzosen ihren Job verloren. Merkel und die EU werden Hollande ein hartes Sparprogramm empfehlen. Und da er keine wirklich fundamentalen neuen Ideen mitbringt, dürfte Hollande diese Empfehlung umsetzen, sprich sich dem Diktat der EU unterwerfen.
Damit wird er nicht nur seine Wähler in Frankreich enttäuschen, sondern auch all die Bürger in Europa, die eine Erneuerung von Politik und Demokratie von Grund auf anstreben. Und so schwelt die durch den wirtschaftlichen Abstieg hervorgerufene Unruhe in den Gesellschaften weiter. Existenzangst gibt es inzwischen nicht nur in Griechenland, Portugal und Spanien. Sogar die Niederlande geraten in diesen teuflischen Sog, der bald vielleicht auch Frankreich mit hinunter ziehen könnte. Weil die Niederländer die EU-Schuldenkriterien nicht einhalten können, sausen die Zinsen für ihre Staatsanleihen in die Höhe. Gleichzeitig platzt eine über Jahrzehnte aufgepumpte Immobilienblase.
Weil dies so ist, wird sich die Stimmung in Europa weiter verfinstern und den Wunsch der Menschen nach einem Wandel noch verstärken. Die Wahl-Revolutionäre in Paris haben sich zu früh gefreut. Weder Hollande noch die Opposition in Griechenland werden den von ihnen erhofften Wandel herbeiführen. Für Europa heißt das: Ruhe ist noch lange nicht.
Günther Lachmann am 7. Mai 2012 für Welt Online