Die öffentliche und die verborgene Seite der Krise
In diesen Zeiten der Schuldenkrise geschehen bemerkenswerte Dinge. Gemeint ist nicht das, was täglich in den Nachrichten rauf- und runterläuft. Gemeint sind Ereignisse, von denen nur wenige Notiz nehmen und die einem, wenn man von ihnen erfährt, glatt die Sprache verschlagen, weil ihre Wirkung die demokratische Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland in ihren Grundfesten erschüttert. Nehmen wir nur diesen Satz: Deutschland sei seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu keinem Zeitpunkt ein souveräner Staat gewesen. Das sagte nicht irgendein Extremist, sondern kein geringerer als Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble jüngst auf dem European Banking Congress in der Alten Oper in Frankfurt.
Es war ein Satz von der Wirkung eines Sprengstoffanschlages auf das nationale Selbstverständnis der Deutschen, ausgesprochen von ausgerechnet jenem Mann, der im August 1990 den deutschen Einigungsvertrag unterzeichnete. Obwohl er schon vor einiger Zeit fiel und von einer ganzen Reihe aufmerksamer Internetmedien zitiert wurde, muss dieser Satz noch einmal thematisiert werden, weil er einfach so unglaublich ist. Das wiedervereinigte Deutschland soll kein souveräner Staat sein? Was ist es dann? Eine Besatzungszone? Und wenn ja, von wem besetzt? Kein einziger der anwesenden Top-Banker stellte Schäuble diese Fragen. Und wäre das Ereignis nicht auf Video dokumentiert worden, man würde es kaum glauben.
Es braucht nicht viel Fantasie sich vorzustellen, was geschehen wäre, hätte das ein Linker behauptet. Aber nun sagte es der Bundesfinanzminister einfach mal so dahin, weil er die Preisgabe nationaler Souveränitätsrechte an das von Angela Merkel geplante neue Europa herunterspielen möchte. Und niemand widersprach ihm.
Schäuble leitete diese Passage seiner Rede mit den Worten ein: „Die Kritiker, die meinen, man müsse eine Kongruenz zwischen allen Politikbereichen haben, die gehen ja in Wahrheit von dem Regelungsmonopol des Nationalstaates aus.“ Diese durch das Völkerrecht geschützte Souveränität sei aber in Europa spätestens mit den beiden Weltkriegen „längst ad absurdum geführt“ worden. Und weil dies so sei, formulierte er jenen folgenschweren Satz: „Und wir in Deutschland sind seit dem 8. Mai 1945 zu keinem Zeitpunkt mehr voll souverän gewesen.“
[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=Cr03QY9qSIE&feature=related] Deswegen sei der Versuch, in der europäischen Einigung, „eine neue Form von governance zu schaffen“. In dieser neuen Form gebe es dann halt nicht eine politische Ebene, die für alles zuständig sei und, gestützt auf „völkerrechtliche Verträge, bestimmte Dinge auf andere überträgt“. Nein, so stellt sich Schäuble die Zukunft Deutschlands und Europas nicht vor.
„Nach meiner festen Überzeugung wird das 21. Jahrhundert ein sehr viel zukunftsweisender Ansatz als der Rückfall in die Regelungsmonopolstellung des klassischen Nationalstaates vergangener Jahrhunderte“, referierte Schäuble vor den Bankern. „Ich möchte Ihnen ganz klar sagen, dass ich ziemlich überzeugt bin, dass wir in einer Zeit von weniger als 24 Monaten in der Lage sind und in der Lage sein werden, das europäische Regelwerk so zu verändern. Wir brauchen nur das Protokoll Nr. 14 im Lissabonvertrag so aufzubauen, dass wir daraus die Grundzüge einer Fiskalunion schaffen (…)“.
So einfach ist das, wenn es nach Wolfgang Schäuble geht, mit diesem neuen Europa, das künftig die Wirtschafts- und Finanzpolitik für die Staaten der Eurozone übernehmen soll. Und wer das so formuliert wie der Bundesinnenminister, der vermittelt den Eindruck, als handele es sich bei dem, was Kanzlerin Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy planen, um eine ganz normale, fast schon alltägliche Änderung politischer Abläufe. Dabei geht es um einen historischen Wandel, dessen Ausmaß vielen Bürgern wohl noch gar nicht bewusst ist.
„Die planen die Wiedereinsetzung eines Wiener Kongresses in Brüssel“, ereiferte sich der SPD-Europaparlamentarier Martin Schulz auf dem SPD-Parteitag in Berlin, ohne auf Interesse zu stoßen. „Alle halbe Jahre kommen 17 Regierungschefs hier zusammen, tagen hinter verschlossenen Türen, teilen anschließend ihren erstaunten Untertanen mit, worauf sie sich meistens nicht verständigt haben, und das nennen sie Wirtschaftsregierung. Ich meine, wir leben nicht in Zeiten des Feudalismus“, schimpfte er.
Der von Schulz angestellte Vergleich ist nicht falsch. Tatsächlich wird Europa neu geordnet, und zwar nicht nur finanzpolitisch, sondern machtpolitisch und geografisch. Nichts anderes geschah 1814/1815 im Wiener Palais am Ballhausplatz. Und noch eine Parallele drängt sich auf: Damals wie heute missachten die Herrschenden die Freiheits- und Selbstbestimmungsbedürfnisse der Menschen.
In diesem neuen Europa soll der Euroraum näher zusammenrücken, die Briten könnten an Einfluss und Bedeutung verlieren. Mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wird ein weiteres Herrschaftsinstrument geschaffen. Aber beseitigt das die Ursachen der Krise? Wer dieser Tage etwa 200 Experten im Berliner Hotel „Adlon“ am Brandenburger Tor zugehört hat, der mag das kaum glauben. Unter dem Motto „Auslaufmodell Euro –Lösungswege für Europa“ diskutierten unter anderen die Professoren Marcus Kerber von der TU Berlin, Thorsten Polleit von der Frankfurt School of Finance and Management, Eberhard Hamer als Vorsitzender der Deutschen Mittelstandsstiftung e. V. und Wilhelm Hankel miteinander. Anders als in der Politik ging die Debatte soweit, dass sogar das Geldsystem als solches infrage gestellt wurde. Einig waren sich einige Teilnehmer darüber, den Banken das Recht der Geldschöpfung zunehmen. Wer es nicht weiß: Bei jeder Kreditvergabe schaffen die Banken neues Geld, da ihr Kreditvolumen das der Einlagen bei Weitem übersteigt. Das Recht der Geldschöpfung solle allein der Zentralbank zustehen. Debattiert wurde auch über umlaufgesichertes Geld oder Schwundgeld, das permanent im Wert sinkt. All diese Themen spielen in der politischen Debatte keine Rolle.
In der Summe stehen diese Eindrücke, angefangen von Schäubles Rede vor den Bankern über den Vergleich mit dem Wiener Kongress bis hin zu den Überlegungen zum Geld im „Adlon“ in einem seltsamen Kontrast zu den täglichen Nachrichten aus Politik und Wirtschaft. Sie offenbaren etwas, das vordergründig nicht in Erscheinung tritt. Fast scheint es zwei Wirklichkeiten zu geben. Die eine wird als Projektion von Gipfelbildern und Fensterreden wahrgenommen. Die andere bleibt meist verborgen.
Günther Lachmann am 8. Dezember 2011 für Welt Online