Europäischer Neo-Imperialismus

Namhafte Autoren warnen in der Ukraine-Krise vor einer einseitigen Schuldzuweisung an Russland. Sie erkennen Parallelen zum 1. Weltkrieg und einen EU-Neo-Imperialismus. 

In der Ukraine hat sich die Lage seit Ende Juli/Anfang August weiter verschärft. Der Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 war ein barbarischer Akt, der aufgeklärt und gesühnt werden muss. Das ist selbstverständlich, und sollte es Versuche der Vertuschung geben, von welcher Seite auch immer, sind sie zu überwinden. Die Angehörigen der Opfer haben ein Recht auf vollständige Aufklärung, ihr Leid ist unerträglich genug. Bis jetzt gibt es aber keine klaren Beweise, von welcher Partei die Maschine vom Himmel geholt wurde. Trotzdem wurden die Wirtschaftssanktionen ausgeweitet und der Tonfall und die Kritik gegenüber Russland härter.

Während die große Mehrheit in Politik, Wirtschaft und Mainstreammedien den aus Anlass des Flugzeug-Abschusses verschärften Kurs gegenüber Russland als absolut gerechtfertigt ansieht, zeigt sich zumindest in einem kleinen Teil der Veröffentlichungen zum Thema „Ukraine-Krise“ ein deutliches Unbehagen an einem Vorgehen, das die Gefahr beinhaltet, in einer immer engeren Eskalationsspirale keine Möglichkeit eines Ausstiegs mehr zu haben.

Nicht alle, die in Deutschland zum Thema „Ukraine-Krise“ veröffentlchen, wollen sich so ohne Weiteres in eine Phalanx von entfesselten „Stoppt-Putin-jetzt“-Schreiern einreihen lassen. Es gibt immer noch Leute, die darauf drängen, wenigstens zu versuchen, eine Verständigung und vielleicht sogar einen Interessenausgleich mit Russland herzustellen. Und für manche ist das, was sich in einigen Teilen der deutschen Medien abspielt, hart an der Grenze zur Kriegspropaganda. Munter immer weitere Eskalationstufen anzugehen, ohne auf die eventuellen Folgen zu achten, war aber noch nie eine gute Option.

Journalistisches Elend

Eine der letzten ernsten Warnungen vor einer Eskalation der Situation in der Ukraine kam vom Journalisten, Autor und Mitglied der Geschäftsführung der Verlagsgruppe Handelsblatt Gabor Steingart, die er am 8.8.2014 auch in englisch und russisch auch im Online-Portal des Handelsblatts veröffentlichte.[1] Man muss Steingart für diesen Beitrag loben, auch wenn man als Euroskeptiker immer noch die Hände über den Kopf zusammenschlägt, wenn man an seine völlig irrsinnige „Wir-kaufen-griechische-Staatsanleihen“-Initiative zurückdenkt, die er als Chefredakteur des Handelsblattes 2010 gestartet hatte. In seinem neuesten Beitrag im August 2014 kritisiert Steingart sowohl die deutsche Regierung als auch die eigene Zunft:

„Regierung und Medien schalten angesichts der Ereignisse in der Ukraine von besonnen auf erregt um.“

„Erregt“ ist dabei noch eine sehr milde Beschreibung dessen, was sich z. B. der Spiegel mit seinem „Stoppt-Putin-jetzt“-Cover im Juli geleistet hatte. Man muss schon sehr lange in die deutsche Geschichte zurückgehen, um ein solches journalistisches Elendsprodukt zu finden. Aber Steingart wird deutlicher, denn die Einleitung zu seinem Beitrag könnte genau dieses unerträgliche Geschreibsel der Spiegel-Redaktion meinen: „Ein jeder Krieg geht mit einer geistigen Mobilmachung einher, einem Kriegskribbeln. Selbst kluge Köpfe sind vor diesen kontrolliert auftretenden Erregungsschüben nicht gefeit.“

Die „geistige Mobilmachung“ in Politik und Journalismus ist es, die nun auch Steingart auf die Barrikaden treibt:

„Die Staats- und Regierungschefs des Westens haben im Angesicht der kriegerischen Ereignisse auf der Krim und in der Ost-Ukraine plötzlich keine Fragen mehr, nur noch Antworten. Im US-Kongress wird offen über die Bewaffnung der Ukraine diskutiert. Der ehemalige Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski empfiehlt, die dortigen Bürger für den Häuser- und Straßenkampf auszurüsten. (…). Der deutsche Journalismus hat binnen weniger Wochen von besonnen auf erregt umgeschaltet. Das Meinungsspektrum wurde auf Schießschartengröße verengt.

Blätter, von denen wir eben noch dachten, sie befänden sich im Wettbewerb der Gedanken und Ideen, gehen im Gleichschritt mit den Sanktionspolitikern auf Russlands Präsidenten Putin los. Schon in den Überschriften kommt eine aggressive Verspannung zum Ausdruck, wie wir sie sonst vor allem von den Hooligans der Fußballmannschaften kennen. (…). Westliche Politik und deutsche Medien sind eins.“

Offen kritisiert Steingart den außenpolitischen Kurs der USA seit Beginn des neuen Jahrhunderts:

„Alle Konflikte werden hochgekocht. Aus dem Angriff der Terrorgruppe namens Al Qaida wird ein globaler Feldzug gegen den Islam. Unter fadenscheinigen Gründen bombardiert man den Irak, bevor die US-Luftwaffe in Richtung Afghanistan und Pakistan weiterfliegt. Das Verhältnis zur islamischen Welt darf als zerrüttet gelten.

Hätte der Westen die damalige US-Regierung, die ohne Beschluss der UN und ohne Beweise für das Vorhandensein von ‚Massenvernichtungswaffen‘ im Irak einmarschierte, nach den gleichen Wertmaßstäben beurteilt wie heute Putin, wäre George W. Bush unverzüglich mit Einreiseverbot in die EU belegt worden. Die Auslandsinvestments von Warren Buffett hätte man einfrieren, den Export von Fahrzeugen der Marken GM, Ford und Chrysler untersagen müssen.

Die amerikanische Neigung zur verbalen und dann auch militärischen Eskalation, das Ausgrenzen, Angiften und Angreifen, hat sich nicht bewährt. Die letzte erfolgreiche militärische Großaktion, die Amerika durchgeführt hat, war die Landung in der Normandie. Alles andere – Korea, Vietnam, Irak und Afghanistan – ging gründlich daneben. Jetzt wieder Nato-Einheiten an die polnische Grenze zu verlegen und über eine Bewaffnung der Ukraine nachzudenken ist eine Fortsetzung der diplomatischen Ideenlosigkeit mit militärischen Mitteln.

Diese Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Politik – und zwar immer an der Stelle, wo die Wand am dicksten ist – bringt Kopfschmerzen und sonst nicht viel. Dabei gibt es im Verhältnis Europas zu Russland in der Wand eine große Tür. Und der Schlüssel zu dieser Tür heißt Interessenausgleich.“

Hinweis auf Willy Brandt

Die harte Gangart der Amerikaner gegenüber Russland sei wohl auch schon dem amerikanischen Wahlkampf geschuldet. Das hat aber mit dem Interesse der Europäer nichts zu tun. Steingart empfiehlt der deutschen Regierung unter Hinweis auf die durchaus erfolgreiche Politik eines Willy Brands, den Eskalationsweg der Amerikaner zu verlassen. Schließlich bestehe für Deutschland, ja eigentlich ganz Europa, nicht nur über die geografische Nähe, sondern auch über die viel engere wirtschaftliche Verflechtung mit Russland eine ganz andere Interessenlage.

Steingart schreibt richtig, dass jeder Fehler mit einem Denkfehler beginne. Ein Denkfehler sei es, wenn man glaube, dass nur der andere von Wirtschaftsbeziehungen profitiere und also unter ihrem Entzug leide. Bestrafung und Selbstbestrafung seien zwei Seiten derselben Medaille.

„Es ist nicht sinnvoll, weiter hinter dem strategisch kurzatmigen Obama herzulaufen. Man sieht doch, wie er und Putin geradezu schlafwandlerisch auf ein Schild zusteuern, auf dem steht: Kein Ausweg.“

Aber auch schon im Juli 2014 wurden andere Journalisten und Autoren aktiv, denen der außenpolitische Kurs der Mehrheit in Politik und Publizistik langsam, aber sicher Angst macht.

Bei aller kritischen Haltung zu Wladimir Putin und der russischen Politik ist Michael Stürmer (Historiker und Chefkorresepondent der WELT) im Online-Portal der WELT die Angst vor einer unkontrollierten Eskalation der Situation wie vor hundert Jahren beim Beginn des Ersten Weltkriegs anzumerken, wenn er über die „Kunst des begrenzten Rückzugs“[2] im Ukraine-Konflikt schreibt :

„Wenn es nicht gelingt, wieder einen dem Ernst der Lage angemessenen Gesprächston zu finden und dazu die Bereitschaft, einander zuzuhören und ,backchannels’ zu aktivieren, dann werden bald aus Treibern nur noch Getriebene. Das gilt für den Kreml-Herrn, der Kräfte des Ressentiments, des Nationalismus und der Gewalt entfesselt hat, deren er nicht mehr leicht Herr wird. Es gilt aber auch für jene, die mit Bestrafungen verschiedener Art, von symbolisch bis schmerzhaft, ihn wieder in den Kooperationsmodus zwingen wollen.

Das Wort des Sommers 1914 lautete ,Schlafwandler‘: Bei ruhiger Betrachtung wussten alle Beteiligten, dass jeder für sich mehr zu verlieren hatte, als jemals militärisch zu gewinnen war. Geschichte, nach Jacob Burckhardt, macht ,nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer‘. Davon allerdings ist die Welt des Sommers 2014 weit entfernt.“

Moskaus Angst vor Einkreisung

Desweiteren hat Stürmer gerade in jüngster Zeit einen Artikel des russischen Sicherheitsexperten und Leiters Moskauer Carnegie-Zentrums, Dmitri Trenin, aus dem Englischen übersetzt und dafür gesorgt, dass er in Deutschland von einem größeren Publikum gelesen werden kann.[3] In diesem Artikel wird die Situation, wie sie sich aktuell ergeben hat, nicht mit dem Kalten Krieg gleichgesetzt, sondern mit der Situation des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.

Trenin sieht ein neues „Great Game“ der Großmächte „neuen Typs“, das gerade gespielt wird. Deutschland habe seinen außenpolitischen Minimalismus überwunden und sei als neue europäische Großmacht mit dabei. Es soll hier nicht vertieft werden, inwiefern Trenin die deutsche Rolle in der europäischen Politik eventuell überschätzt, interessant ist vor allem, dass Trenin die jetzige Eskalation eindeutig als Machtkampf zwischen USA und den europäischen Verbündeten auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite ansieht, als Kampf konkurrierender Mächte:

„Die Ukraine-Krise begann im Spätherbst 2013 als innenpolitischer Konflikt über die künftige wirtschaftliche Orientierung des Landes in der Welt. Daraus entstand ein Konkurrenzkampf zwischen Russland und den USA, wobei die EU und ihre führenden Mitgliedsstaaten wichtige Rollen spielten.“

Diese Lage sei entstanden, weil nach der Beendigung des Kalten Krieges kein neues Sicherheitssystem entwickelt worden sei, in das auch Russland eingebunden gewesen wäre und das dann auch seine Sicherheitsinteressen berücksichtigt hätte:

„Die Krise wurzelt in der unbefriedigenden Lage nach dem Kalten Krieg. Als der Zweite Weltkrieg endete, wurden die Besiegten einbezogen in die neuen Sicherheitssysteme der atlantischen Region: Nato und EWG. Der Kalte Krieg indes endete anders. Es gab keine ähnliche Einbeziehung über Mittel- und Ostmitteleuropa hinaus. Schlimmer noch: Die Osterweiterung der Nato weckte in Moskau Angst vor Einkreisung. Daraus entstand die Entschlossenheit, nach dem Beitritt Polens, der Balten, Bulgariens und Rumäniens jedem weiteren Schritt der Allianz Richtung Osten entgegenzutreten. Der Versuch der USA, Georgien und die Ukraine einen Membership Action Plan Richtung Nato anzubieten, endete 2008 in einem kurzen Krieg Russlands und Georgiens. Das hätte, was die Ukraine betrifft, Warnung sein können.

2014 stellt sich nicht die Frage der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, sondern es geht um Assoziation mit der EU – ohne Gewissheit späterer Mitgliedschaft. Doch für Wladimir Putin bedeutete es eine bedenkliche Kombination, als der Februarumsturz in Kiew die halben Zugeständnisse von Präsident Janukowitsch annullierte. Putin sah die 6. Flotte der US-Marine schon in Sewastopol. Er löste sofort Alarm aus und startete damit lange vorbereitete Notfallmaßnahmen auf der Krim.“

Parallelen zu Nordafrika

Hier ist eine etwas andere Sicht auf die Ereignisse gegeben, und man sollte sich auch auf Seiten der „westlichen“ Hardliner mit ihren „Stoppt-Putin-jetzt“-Plattitüden fragen, ob man wirklich alle Dimensionen dieses Konflikts bedacht hat.

Äußerst kritisch äußert sich am 30.7.2014 auch der Chefanalyst der Bremer Landesbank Folker Hellmeyer zu den Vorgängen. In einem Artikel mit der Überschrift „Offener Wirtschaftskrieg und Finanzkrieg in der ersten Runde“ beschreibt er u. a. die geopolitische Implikationen der Krise:[4]

„Dabei geht es um die Kontrolle von Rohstoffen und militärisch bedeutsamen Regionen. Hier gibt es in den letzten 13 Jahren eine Phalanx von Entwicklungen, die an Eindeutigkeiten und auch ungesühnten Völkerrechtsverletzungen eine deutliche Sprache spricht.

(…). Die Veränderung[en] der finanziellen und ökonomischen Grundlagen während der letzten 20 Jahre sind ausgeprägt. Sie gehen zu Lasten des ,Westens’ und zu Gunsten der Schwellenländer. Diese Entwicklungen sind messbar. So wachsen die aufstrebenden Länder mit circa 5% und die Industrienationen mit lediglich 2%. Die Devisenreserven Chinas, Russlands und Brasiliens sind dramatisch höher als die Reserven der USA oder der Eurozone. Mehr noch stellen diese Länder circa 52% der Weltwirtschaftsleistung und 5 Mrd von 7 Mrd. der Weltbevölkerung.

Es geht aktuell um einen Wirtschafts- und Finanzkrieg, der hier vom Zaun gebrochen wird. (…).

Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete die Wirtschaftssanktionen als unumgänglich. Die EU habe immer wieder betont, „dass die völkerrechtswidrige Annexion der Krim (laut diversen Staatsrechtlern eine „Sezession“) und die fortdauernde Destabilisierung der Ostukraine nicht hinnehmbar sind“, erklärte Merkel.

Hat der Westen nicht die gesamte Ukraine durch das Agieren gegen eine demokratisch gewählte Regierung, so schlecht sie auch immer gewesen sein mochte, im Rahmen eines Maidan-Staatsstreichs, destabilisiert? Was war Aktion, was war Reaktion?

Hat der Westen berücksichtigt, dass Milionen Menschen im Osten und Süden der Ukraine nicht notwendig ,Maidaner’ waren. Warum sind mehr als 130.000 Menschen aus der Ostukraine in russischen Auffanglagern und 95.000 Menschen in andere Gebiete der Ukraine geflüchtet (Quelle UNHCR)?

Unverändert kommen vom Westen Anschuldigungen, die dann nicht mit Beweisen unterlegt werden.

Weder ist klar, wer auf dem Maidan geschossen hat (Ausgangspunkt), noch ist klar, was in Odessa (Massaker) passierte und auf die US-Satellitenfotos zum Absturz warten wir immer noch.Sind es nicht die Kräfte in Kiew, die jetzt verhindern, dass neutrale Kräfte den Absturzort untersuchen? Warum gibt die Regierung in Kiew nicht den Funkverkehr der Maschine mit dem Tower frei?

Gibt es nicht zu viele offene Fragen (auch hier kein Präjudiz) und zu wenige belastbare Fakten, um in den Modus Wirtschafts- und Finanzkrieg gegen Russland einzutreten?

Mehr noch verweigert sich Russland bisher einer angemessenen Antwort auf die westliche Sanktionspolitik. Die Abhängigkeiten der EU von Energielieferungen Russlands sind ausgeprägt. Weiß die EU, mit welchem Einsatz sie ultimativ agiert? Das gilt vor allen Dingen bezüglich der immer noch kritischen Situation; in der sich die Eurozone befindet.

Wurde in Brüssel, Paris, Strassburg, Wien oder Berlin die Frage nach dem ,Wem nützt es?’ gestellt?

Unter Umständen könnte es hilfreich sein, die eigene Rolle, die die EU hier spielt, bezüglich ethischer und moralischer Aspekte zu überprüfen. Die Parallelen in der Ukraine zu den Situationen in Nordafrika und dem Nahen Osten sind ausgeprägt und ,können’ als Indiz einer geopolitischen Qualität der aktuellen Politik interpretiert werden. Wäre das die Agenda der EU?“

Ideologisierung der Außenpolitik

Während von Bundeskanzlerin Merkel die Maßnahmen gegen Russland als „unumgänglich“ bezeichnet werden, also eigentlich eine Umschreibung des Begriffs „alternativlos“, wird von einem Angehörigen der deutschen „Gegenelite“ durch wenige gezielte Fragen die Absurdität einer solchen Aussage von der „Unumgänglichkeit“ einer bestimmten Politik offengelegt. Hellmeyer veröffentlicht zwar weitgehend auf Plattformen, die nicht zum publizistischen Mainstream gehören, doch gehört er über seine Position im Bankensektor zu den wenigen hohen Funktionsträgern im Banken- und Wirtschaftsbereich, die eine deutliche Gegenposition zur offiziellen Außenpolitik einnehmen.

Ebenfalls noch im Juli erschien im Stern ein langer Artikel des ehemaligen Kulturstaatsministers im Kabinett Schröder Julian Nida-Rümelin zur Ukraine-Krise.[5] Sein zentraler Vorwurf an die deutschen Medien ist, dass „wenig Resistenz gegen eine Ideologisierung der Außenpolitik des Westens“ gezeigt würde. In einer voll entwickelten Demokratie erwarte man aber eine gewisse kritische Distanz gegenüber Nato- und CIA-gesteuerten Informationen und nicht Auslassungen, die stark nach Krigspropaganda klängen.

Nida-Rümelin sieht eine verzerrte Wahrnehmung der Fakten aufseiten der Westmedien. Auch wenn das Präsidialsystem Putins zunehmend autokratische Züge angenommen hätte, zeigt ein Vergleich mit den Zuständen in Saud-Arabien z. B. wie scheinheilig die Kritik sei. In Russland gebe es Wahlen zwischen konkurrierenden Pareien, ehebrechende Frauen würden nicht gesteinigt und es würden auch keine isamistischen Terroristen finanziert. Allerdings ist Saud-Arabien ein enger Verbündeter der USA, das mache wohl den Unterschied bei der Beurteilung aus.

Nida-Rümelin setzt sich auch mit dem Vorwurf an Russland auseinander, eine neo-imperialistischen Politik zu betreiben. Er kehrt den Spieß allerdings um und stellt die Frage, welche europäische Macht den in den letzten Jahrzehnten außerordentlich expandiert hätte und kommt nur auf einen Namen: die Europäische Union.

„Die Europäische Union, ein staatliches Gebilde sui generis mit eigener Gesetzgebung und eigener Regierung, wenn auch in einer schwachen Form der europäischen Kommission, eigenem Parlament und europäischen Parlamentswahlen hat sich dagegen seit dem Ende der Sowjetunion gewaltig ausgedehnt. Die Zahl der Mitgliedsstaaten hat sich fast verdoppelt, die Wirtschaftskraft ist die größte der Welt, noch vor den USA und erst recht vor China, und die Einflusssphäre der EU reicht weit über die Mitgliedsstaaten hinaus.

Vor diesem Hintergrund gehört schon eine gehörige Chuzpe hinzu, von Neo-Imperialismus gerade im Hinblick auf Russland zu sprechen.“

Auch die USA gebärdeten sich seit Jahrzehnten imperialistisch mit dem Anspruch, entscheiden zu können, welche Regimes legitim und welches illegitim seien und welches zu stürzen sei, wie im Irak oder in Libyen, oder welches weiter unterstützt werden müsse, wie z. B. Saudi-Arabien. Nicht ohne eine gewisse Süffisanz merkt Nida-Rümelin an, dass die USA in jeder mit der heutigen Situation in Europa vergleichbarer Situation auf dem amerikanischen Kontinent mit militärischen Mitteln eingreifen würden. Die EU habe mit ihren ständigen „Geländegewinnen“ jedenfalls eine Strategie der Ausdehnung des territorialen und politischen Einflusses verfolgt, allerdings in einer zivilen Form. Das Lockmittel war stets eine wirtschaftliche Prosperität, die den Ländern mit der Mitgliedschaft in der EU versprochen wurde. Es war im Grunde, so könnte man etwas flapsig hinzufügen, das Versprechen der blühenden Landschaften in der EU-Version. Nida-Rümelin skizziert die Lage Russlands, wie man sie auch im Westen sehen könnte, wenn man sich ein bisschen Mühe geben wollte:

„Unterdessen scheint es zu einem EU-Automatismus geworden zu sein, durch Assoziierungsabkommen Länder auf den Weg zu führen, an dessen Ende die Vollmitgliedschaft steht. Dieser Prozess wird mit einer bemerkenswerten außenpolitischen Naivität vorangetrieben.

Im Falle der Ukraine ist diese Strategie bis auf weiteres gescheitert. Hier sollte ein Land auf den Weg der EU- und NATO-Mitgliedschaft geführt werden, hier sollte ein Staat Nato-Mitglied werden, auf dessen Territorium die Schwarzmeerflotte Russlands per Vertrag nach dem Ende der Sowjetunion stationiert ist, es sollte ein Land in die EU-Wirtschaft integriert werden, das dafür noch keineswegs reif ist, das ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf aufweist, das nur ein Bruchteil des durchschnittlichen EU-BIP pro Kopf und auch nur die Hälfte desjenigen Russlands hat.

Ein Land, das von Oligarchen beherrscht wird, unabhängig davon, welche beiden Hauptkräfte des Landes, die pro-europäischen oder die pro-russischen, sich jeweils durchsetzten. Es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Strategie der Osterweiterung der EU auch das Ziel verfolgte, Russland einer seiner letzten verbliebenen wirtschaftlichen Einflusszonen zu berauben.

(…).

Reicht die außenpolitische Vorstellungskraft der Kommentatoren tatsächlich nicht aus, um sich in die Situation einer russischen Regierung, unter wessen Führung auch immer, hineinzuversetzen? Im Osten eine lange Grenze mit der zweiten, zunehmend aggressiv auftretenden Supermacht China, im Süden Erosionserscheinungen durch den um sich greifenden Islamismus, im Westen Abkoppelung von den „Pufferstaaten“ in Osteuropa.“

Nida-Rümelin beschließt seinen Kommentar mit den Worten:

„Der Vorwurf des Neo-Imperialismus klingt nach Kriegs-Propaganda, er ist geeignet, die Situation in der Ukraine militärisch eskalieren zu lassen, er ist ein deutliches Beispiel für double standards, für die ungleiche Bewertung von gleichartigen Fällen. Wir sollten ihn nicht mehr erheben, schon deshalb, um nicht leichtfertig einer Eskalation der Ukrainekrise das Wort zu reden. Wohin eine solche, wenn auch ungewollte Eskalation führen kann, zeigt die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges.“

Auch Nida-Rümelin hat Angst vor der weiteren Eskalation des Konflikts, auch er verweist auf die Parallelen zum Ersten Weltkrieg – und er warnt natürlich völlig zu Recht. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wieder die gleichen Fehler zu machen, wäre auf jeden Fall abgrundtief dumm und geradezu kriminell im Hinblick auf unsere Kinder.

 

Anmerkungen

[1] Gabor Steingart, „Der Irrweg des Westens“, Handelsblatt: http://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/politik-der-eskalation-der-irrweg-des-westens-/10308844.html#

[2] Michael Stürmer, „Ukraine-Krise braucht Kunst des begrenzten Rückzugs“, Die Welt: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article130453788/Ukraine-Krise-braucht-Kunst-des-begrenzten-Rueckzugs.html

[3] Dmitri Trenin, „Rückkehr der Großmächte“, Die Welt: http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article130414931/Rueckkehr-der-Grossmaechte.html

[4] Folker Hellmeyer, „Offener Wirtschaftskrieg und Finanzkrieg gegen Russland in der ersten Runde“, Cashkurs: http://www.cashkurs.com/kategorie/gesellschaft-und-politik/beitrag/offener-wirtschaftskrieg-und-finanzkrieg-gegen-russland-in-der-ersten-runde/

[5] Julian Nida-Rümelin, „Die Vorwürfe gegen Putin klingen stark nach Kriegs-Propaganda“, Stern: http://www.stern.de/politik/ausland/kommentar-zur-ukraine-krise-die-vorwuerfe-gegen-putin-klingen-stark-nach-kriegs-propaganda-2127154.html

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