Regierung fürchtet ein Zerbrechen ihrer ESM-Strategie

EZB und ESM sollen gemeinsam Staatsanleihen kaufen. So will es EZB-Chef Draghi. Ein Urteil des Verfassungsgerichts wird es nach Aussagen von Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle in diesem Jahr voraussichtlich nicht mehr geben. Wankt die Rettungsstrategie?

Aus einer dunklen Ahnung könnte nunmehr Gewissheit werden. Denn ein endgültiges Urteil über die gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und den Fiskalpakt eingereichten Verfassungsklagen wird in diesem Jahr wohl nicht mehr gesprochen. Darauf deuten Aussagen des Gerichtspräsidenten und des Gerichts selbst hin. Damit tritt das Verfassungsgericht vielfach geäußerten Erwartungen entgegen, wonach es noch im Oktober im Hauptverfahren entscheiden werde. Gleichzeitig wächst in Teilen der Bundesregierung offenbar die Sorge, dass ihre auf dem ESM und der Europäischen Zentralbank (EZB)basierende Rettungsstrategie ins Wanken geraten könnte.

„Es ist von uns keine offizielle Ankündigung herausgegeben worden, dass im Oktober noch ein Entscheidungstermin bestimmt wird“, sagte nun ein Gerichtssprecher der „Welt“. Das Verfahren sei sehr aufwendig. So stünden noch Beratungen zu Fragen aus, die im Verfahren auf einstweilige Anordnung noch nicht Gegenstand gewesen seien. Hierzu gehörten etwa die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank.

Zuvor hatte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle in einem Interview mit der französischen Tageszeitung Le Monde gesagt, das Gericht werde „sicherlich versuchen, so schnell wie möglich zu einem Ende zu kommen“. „Ob das allerdings noch in diesem Jahr gelingt, hängt von vielen Faktoren ab“, sagte Voßkuhle.

Das heißt, wann das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache über die Klagen gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus urteilt, steht in den Sternen. Genau diese ungeklärte Lage macht einige Mitglieder der Bundesregierung nervös. Und dafür gibt es gute Gründe.

Einer ist der Grundsatzbeschluss der Europäischen Zentralbank (EZB) vom 6. September beschlossen, künftig wieder Staatsanleihen notleidender EU-Staaten am Finanzmarkt zu kaufen. Dieser Beschluss kollidiert mit der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Karlsruhe hatte den Ankauf in früheren Entscheidungen für unzulässig erklärt. Außerdem ist vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine Klage des irischen Abgeordneten Thomas Pringle anhängig. Der EuGH soll klären, ob der ESM überhaupt mit den EU-Verträgen vereinbar ist.

Es gibt also für die Politik in der Sache noch schwerwiegende Unwägbarkeiten. Nichts wäre der Politik lieber, als diese baldmöglichst auszuräumen. Doch dazu müssten die Gerichte in ihrem Sinne entscheiden. Aber werden sie das tun?

Das Verfassungsgericht wird kaum hinter seine bisherige Rechtsprechung zurückkönnen und die Anleihekäufe mutmaßlich erneut für unzulässig erklären. Früher konnte die Bundesregierung damit ganz gut leben, weil die Ankäufe unabhängige Entscheidungen der EZB waren. Das aber hat EZB-Chef Mario Draghi mit dem Beschluss vom 6. September geändert. Er verknüpfte künftige Anleihekäufe eng mit dem ESM und damit mit der Politik. Draghi besteht nämlich darauf, dass EZB und ESM gemeinsam Anleihen kaufen.

Durch diesen Schachzug bindet Draghi Regierungen und Parlamente geschickt in seine Krisenstrategie ein. Das heißt, in Deutschland muss dann der Bundestag jeden Kauf von Staatsanleihen durch den ESM und damit praktisch auch durch die EZB politisch legitimieren. So blieben die juristisch höchst umstrittenen Ankäufe auch im anlaufenden Bundestagswahlkampf ständig Teil der öffentlichen Debatte.

Schon allein das kommt der Regierung ungelegen. Kaum abschätzbar aber wären die Folgen für den politischen Betrieb, wenn Karlsruhe auch im ESM-Hauptverfahren die Ankäufe untersagen sollte. Mitten im Wahlkampf könnte die Zahl jener Abgeordneten leicht zunehmen, die sich aufgrund der ihnen aus der Bevölkerung entgegenschlagenden Stimmung dieser Politik verweigerten.

Im Vergleich zu diesem Szenario ist die Sorge, der EuGH könne eine Unvereinbarkeit des ESM mit den EU-Verträgen feststellen, eher gering. Schließlich ist der EuGH für seine europafreundliche Rechtsprechung bekannt. Und in keinem anderen Land sind die Gegner der „Rettungspolitik“ so zahlreich wie in Deutschland.

Sofort nachdem das Verfassungsgericht im September die Eilanträge gegen den ESM abgewiesen hatte, gingen weitere Eilanträge ein. Sie sollten verhindern, dass das ESM-Gesetz durch Bundespräsident Joachim Gauck ratifiziert würde. Auch die Wuppertalerin Sarah Luzia Hassel-Reusing war unter den Antragstellern. Am 26. September bekam der Bundespräsident  einen Brief von ihr, in dem sie Gauck über ihren Eilantrag informierte. Doch schon tags drauf ratifizierte der Präsident das ESM-Gesetz.

„Das ist schon enttäuschend“ sagt sie, die fest davon überzeugt ist, dass der ESM in Europa eine vergleichbare Strategie verfolgen wird wie der Internationale Währungsfonds in den 1980er Jahren in Südamerika. Damals soll der IWF mit seinen drakonischen Sparvogaben Staaten wie Argentinien in den Bankrott getrieben haben. Armut und Hunger seien dort die Folge gewesen. „Der ESM ist in Artikel 3 an die Praxis des IWF gebunden“, sagt Hassel-Reusing. „Und ich kann nur inständig hoffen, dass das Gericht nicht demnächst irgendwann sagt: Zu spät, ist eh schon alles ratifiziert.“

Die Politik jedenfalls dränt zur Eile. Für den 8. Oktober hat Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker den Gouverneursrat einberufen. Die erste Sitzung soll am Rande eines Treffens der Euro-Gruppe stattfinden. Auch die Banken rechnen bereits fest mit dem ESM.

In einem der „Welt“ vorliegenden Rundschreiben vom 27. September informiert die Deutsche Bundesbank alle „Banken (MFIs)
und Rechenzentralen der Sparkassen und Kreditgenossenschaften“ darüber, dass die neue Institution internationalen Status erhalte, vielleicht vergleichbar mit der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel. „Die Europäische Zentralbank (EZB) hat festgelegt, dass der ESM als eine internationale Finanzierungsorganisation innerhalb der Europäischen Währungsunion (EWU) zu klassifizieren ist. Durch den Status einer internationalen Organisation erhält der ESM einen eigenen Länderschlüssel“, schreibt die Bundesbank. Die BIZ war übrigens am 17. Mai 1930 von internationalen Banken im Rahmen einer Neuregelung der deutschen Reparationszahlungen gegründet worden. Auch damals war eine Krise der Anlass.

Geschrieben für die „Welt

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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