Das Versagen der Eliten
Europa braucht Hilfe. Seine politische Führung wird der sich verschärfenden und weiter ausbreitenden Schuldenkrise nicht Herr. Sie bekämpft ihre Symptome, aber nicht die Ursachen. Europas politische Institutionen und seine Staats- und Regierungschefs scheinen blind für die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert werden. Sie müssten gestalten, schwerwiegende Fehler der Vergangenheit korrigieren und dem Kontinent eine neue Perspektive geben. Stattdessen flüchtet die politische Elite in einen Aktionismus, der nur zu leicht als Ausdruck purer Hilflosigkeit entlarvt wird. Oder um es mit den Worten des Nobelpreisträgers Paul Krugman zu sagen, die Krise ist eine logische Folge der „Unweisheit der Eliten“.
Als vor einem Jahr die Europäische Zentralbank (EZB), die EU-Kommission und die Staats- und Regierungschefs ein Milliarden schweres Hilfspaket für Griechenland schnürten, hofften sie, die Gefahr gebannt zu haben. Ein Jahr später sind sie maßlos enttäuscht, denn die Lage in Griechenland hat sich sogar noch verschärft, und das politische Europa ist ratlos.
Durch das von der Regierung in Athen durchgesetzte drastische Sparprogramm sinkt das Inlandsprodukt jährlich um drei Prozent, gleichzeitig muss das Land 18 Prozent auf zweijährige Staatsanleihen zahlen. So wächst der Schuldenberg, und Griechenland braucht weitere 27 bis 60 Milliarden Euro aus Europa. Was immer die politische Elite Europas bisher gegen die Schuldenkrise unternahm, es blieb wirkungslos.
In Deutschland, wo die Abgeordneten des Bundestages demnächst außer über Griechenland, auch über ein Hilfspaket für das ebenfalls hoch verschuldete Portugal und den geplanten neuen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) beraten, formiert sich Widerstand gegen diese Politik. Vor allem FDP-Politiker wollen die Milliardenhilfen stoppen. Möglicherweise werden sie auf dem Bundesparteitag der Liberalen am Wochenende darüber abstimmen.
Aber auch Unionsabgeordnete äußern Vorbehalte, was deren parlamentarischen Geschäftsführer, Peter Altmaier, auf Höchste alarmiert. Er erwarte eine breite parlamentarische Zustimmung für den Euro-Rettungsschirm, ließ er seine Parteifreunde wissen. Die Kanzlermehrheit sei in einem solchen Fall selbstverständlich.
Altmaier deutet die Zeichen der Zeit auf seine Weise. Für ihn ist die Euro-Politik des vergangenen Jahres letztlich eine einzige Erfolgsgeschichte. Als gäbe es die wachsenden Schuldenberge in Griechenland, Portugal und Spanien nicht, spricht von einer „neuen Qualität der Zusammenarbeit in Europa“. „Die europäische Solidarität bei gleichzeitiger Verpflichtung auf Stabilität war richtig“, sagt Altmaier und rät dazu, die Debatte über Griechenland „zu versachlichen“. „Warten wir doch erst einmal ab, was der Internationale Währungsfonds uns in dieser Woche zu Griechenland sagt.“
Aufs Abwarten verlegte sich die Bundesregierung unter ihrer Kanzlerin Angelas Merkel in den vergangenen Jahren der Schuldenkrise immer wieder. So verzögerte sie die Griechenlandhilfe und trieb die Kosten für die Schuldentilgung und damit auch die Garantieleistungen der deutschen Steuerzahler weiter in die Höhe. An diesem Verhalten hat sich offenbar nichts geändert, denn bereits seit dem 18. März 2011 liegt Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine schriftliche Stellungnahme des „Wissenschaftlichen Beirates beim Finanzministerium“ vor. Darin warnt dieser eindringlich vor dem geplanten neuen Europäischen Stabilitätsmechanismus.
„Mit dem ESM wird eine Institution geschaffen, die zwar kurzfristig eine Stabilisierung der Finanzmärkte bewirkt, gleichzeitig aber die Fehlsteuerung in der Finanzpolitik und auf den Kapitalmärkten verfestigt“, zitiert der Berliner Wirtschaftsprofessor Marcus C. Kerber in der „Neue Zürcher Zeitung“ aus der Stellungnahme des Beirats. „Finanzhilfen fließen in Länder mit maroden Staatsfinanzen. Diese Hilfen werden von den Steuerzahlern in den Ländern mit solideren Staatsfinanzen getragen. Das nimmt der Politik Anreize, Verschuldungs- und Finanzkrisen vorzubeugen, sowohl in den Ländern, die Hilfen empfangen, als auch in den Ländern, die Hilfen leisten. Daran ändern die an die Hilfen gebundenen Konditionen für die Nehmerländer wenig. Zudem behalten private Investoren ein falsches Risikoverhalten bei. Das begünstigt beispielsweise die vielfach beklagte Sozialisierung der Verluste bei Privatisierung der Gewinne.“
Bislang ist diese Kritik von der Politik kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn debattiert worden. Auch der Beitrag Kerbers, der eindringlich an die Verantwortung der Parlamentarier appelliert, konnte daran etwas ändern. Dabei müsste er Anlass sein, die Grundlagen europäischer Politik einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, ohne dabei in das ewige Jammern über den Verlust von Zuständigkeiten an Brüssel zu verfallen.
Der US-Ökonom Krugman hat es getan. In „Die Unweisheit der Eliten“ schreibt er über die europäische Krise: „Die wahre Geschichte der europäischen Krise ist eine von politischen Führern, die mit dem Euro zwar eine gemeinsame Währung schufen, aber nicht die Institutionen, die nötig gewesen wären, um mit den Auf- und Abschwüngen in der Eurozone fertig zu werden.“
Altkanzler Helmut Schmidt sieht das ähnlich und konstatiert eine „Krise der Europäischen Union“. Allerdings sei nicht der Euro das Problem. „Die weitgehende Handlungsunfähigkeit des Europäischen Rates, der Ministerräte, des Europäischen Parlaments in Straßburg und ebenso der 27-köpfigen Kommission in Brüssel hat nicht etwa der Euro verschuldet“, schreibt Schmidt in der „Zeit“. „Die Ursachen liegen in den fehlerhaften, weil absolut unzureichenden Beschlüssen der Maastrichter Konferenz 1991/92.“ Eine EU mit 27 Mitgliedsstaaten, die am Einstimmigkeitsprinzip festhalte, sei keine handlungsfähige politische Instanz. „Weder gibt es eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik, noch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (siehe Libyen!) oder eine gemeinsame Energiepolitik, wie die deutsche Kernkraft-Wende zeigt“, legt der Altkanzler die gravierenden Defizite der Europäischen Union offen. Zugleich lässt er keinen Zweifel an der Notwenigkeit der Europäischen Union, wenn er an die 60 Jahre Frieden erinnert, von denen besonders Deutschland profitiert habe.
In der Tat ist Europa mehr als eine Geschäftsidee, die nun durch den drohenden Bankrott einiger Teilhaber vom scheitern bedroht ist. Europa ist ein historisches Projekt, das zwar erst durch die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten möglich wurde. Es wäre aber ein Fehler, diese ökonomische Zusammenarbeit nun als Ziel europäischen Handelns zu isolieren. Ein solches Denken verleitet leicht zu dem trügerischen Schluss, der Rückzug ins Nationale könne am Ende erfolgversprechender sein. Solche Tendenzen gibt es in nahezu allen Ländern, die die EU finanziell tragen.
In Deutschland sei der Vorrang nationaler Interessen nie so offen in Erscheinung getreten wie unter Kanzlerin Angela Merkel, stellt der Philosoph Jürgen Habermas fest. Sie versuche gar, der EU deutsche Züge zu verleihen. „Genschers Vorstellung von der ,europäischen Berufung’ eines kooperativen Deutschlands spitzt sich immer stärker auf einen unverhohlenen Führungsanspruch eines ,europäischen Deutschlands in einem deutsch geprägten Europas’ zu“, schrieb Habermas im April in der „Süddeutschen Zeitung„. Merkels Vorgehen liege jedoch nicht reifliche Überlegung oder eine kohärente politische Strategie zugrunde, vielmehr sei es schlicht das Ergebnis eines demoskopiegeleiteten Opportunismus. Überhaupt scheine Politik heute „in einen Aggregatzustand, der sich unter den Verzicht auf Perspektive und Gestaltungswillen auszeichnet, überzugehen“, schreibt Habermas. Vielleicht aber hat sie sich auch schon vor langer Zeit von diesem Anspruch verabschiedet. Denn ohne das Zutun der politischen Elite Europas wäre die Schuldenkrise gar nicht erst möglich geworden.
Günther Lachmann am 11. Mai 2011 für Welt Online