Hilflose Politiker verspielen die Zukunft Europas

Jugendarbeitslosigkeit in Europa

Manchmal sagt eine simple Grafik mehr über den Zustand und die Zukunft Europas aus als alle Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs zusammen. Und die Botschaft dieser Grafik, die der in Vancouver lebende deutsche Journalist Markus Gaertner ganz hinten, auf Seite 49 im Mittelstandsbericht 2011 gefunden hat, ist eindeutig und niederschmettert zugleich, denn sie lautet: Europa verspielt seine Zukunft.

In 19 der insgesamt 27 Mitgliedsstaaten sind mehr als 20 Prozent der jungen Menschen unter 25 Jahren arbeitslos. Mit über 40 Prozent Jungendarbeitslosigkeit erreicht Spanien einen traurigen Rekord, der dem verhängnisvollen Zustand in jenen arabischen Ländern erschreckend nahe kommt, in denen eine aufbegehrende Jugend ihre Herrscher davonjagte. Oder anders gesagt, in Spanien sind, gemessen an den Zahlen der Vereinten Nationen, dreimal so viele junge Menschen ohne Arbeit wie im Rest der Welt. Denn dort liegt die Arbeitslosigkeit junger Erwachsener bei 13 Prozent.

Für Europa heißt das, nicht nur in den vermeintlich schwachen Ländern wie Litauen, Griechenland oder Lettland, sogar in großen Industriestaaten wie Italien und Frankreich starten Millionen junge Menschen in ein Leben ohne sichere Arbeit, ohne die Chance, eine Familie ernähren zu können, oftmals ohne Krankenversicherung und ohne die Hoffnung auf eine Rente, die das Alter absichert.

Die Italiener sprechen bereits von der „verlorenen Generation“. Für Europa aber sind es viele verlorene Generationen in Italien, Spanien, Griechenland, Frankreich, Irland, Ungarn, der Slowakei, Litauen oder Lettland. Schon bald wird der Verlust dieser Generationen Europa teuer zu stehen kommen. Denn diese jungen Menschen ohne Arbeit fallen nicht nur als wichtige Konsumenten im Wirtschaftskreislauf aus, die kaufen und als Nachfrager die Konjunktur in Schwung halten, sondern werden über Jahrzehnte hinweg die ohnehin überlasteten Sozialsysteme beanspruchen. Sie werden nie die Steuern zahlen können, die ihre überschuldeten Staaten bräuchten, um irgendwann einmal von den horrenden Defiziten herunterzukommen.

Sie fehlen aber auch in den Unternehmen. Dort würde ihr Wissen für die Erforschung neuer Produkte benötigt. Der Verlust dieser Kreativität führt zu einem Verlust an Innovationen und so letztlich zu einem Verlust realer Wertschöpfung, die wiederum neue Arbeitsplätze sichert.

Diese jungen Menschen selbst fühlen sich betrogen von der Generation ihrer Eltern, hintergangen und bestohlen von den Vertretern des Finanzkapitalismus und der Politik, die auf ihre Kosten gigantische Schuldenberge anhäufte. Sie sind überzeugt, kaum noch etwas verlieren, dafür aber umso mehr gewinnen zu können. Sie sind wütend, und nun, nach dem arabischen Frühling, will auch ihre Wut aufbegehren. In Spanien, Griechenland, Portugal, Frankreich und Großbritannien gehen sie auf die Straße.

Frankreichs Außenminister Alain Juppé diagnostiziert ein „verbreitetes Gefühl der Ungerechtigkeit“, dessen Ursache er in der „grenzenlosen Geldgier der Reichsten“ vermutet. Dennoch glaubt er, die Proteste könnten bald beendet sein, schließlich lebten die Europäer, anders als die Araber, bereits in Demokratien. Offenbar macht er sich über deren Zustand und über die soziale und wirtschaftliche Not ihrer Kinder keine allzu großen Sorgen.

Doch wenn in Spanien fast die Hälfte der jungen Menschen vom Erwerbsleben ausgeschlossen wird, ist das erstens ein unbestreitbarer Beleg für den ruinösen wirtschaftlichen Niedergang eines Landes und zweitens ein untrügliches Zeichen für bevorstehende, möglicherweise schwere gesellschaftliche Konflikte. Den Niedergang dokumentiert in dieser Woche besonders anschaulich die Provinz Kastilien-La Mancha. Da die Region mit rund 9 Milliarden Euro verschuldet ist, hat die neugewählte konservative Provinz-Chefin Maria Dolores de Cospedal nun den Bankrott erklärt. Sie weiß nicht, wie sie ab 1. Juli ihre 70.000 Bediensteten bezahlen soll.

Einen Vorgeschmack auf die noch kommenden Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft gaben die Jugendproteste vor den Regionalwahlen im Mai, als Zehntausende mit Protestcamps in 60 Städten gegen die hohe Arbeitslosigkeit und soziale Gerechtigkeit demonstrierten. Mit ihnen solidarisierten sich spontan Hunderte Demonstranten am Place de la Bastille in Paris. Wie die jungen Spanier forderten auch die Franzosen ihr Recht auf Arbeit und Wohnung ein. Und sie wählten bewusst diesen Ort, an dem im Juli 1789 die französische Revolution ausgebrochen war.

„Was wir anstreben, ist eine Weltrevolution“, zitiert die „Süddeutsche Zeitung“ einen Demonstranten. Die Jugend in Paris geißelt den internationalen Finanzkapitalismus und beschimpft die Politiker als Mittäter, die den Sozialstaat zerstören.

Allgegenwärtig in diesem Protest sind die Thesen des 93 Jahre alten Schriftstellers Stéphane Hessel. Nach seinem Bestseller „empört Euch“ nennen sich Demonstranten in Frankreich, in den Städten Spanien und nun auch in Griechenland „Die Empörten“.

Hessel fordert die jungen Leute auf, die Welt neu zu denken. Er findet die Vorstellung von einer Welt reizvoll, die ohne Geld und somit ohne Banken auskommt. „Aber es entsteht Neues, wenn Produzenten und Konsumenten zusammenkommen und sagen: Wir brauchen keine Bank, wie können uns gegenseitig helfen“, sagt er in einem „Zeit“-Gespräch. Hessel, der 1948 an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mitschrieb, verweist auf die vielen zunächst „unvorstellbaren“ Veränderungen. „Nehmen wir den Stalinismus. Er sah aus wie für die Ewigkeit gemacht, aber es kam ein Wind der Freiheit auf, und dann wurde seine Überwindung plötzlich möglich“, sagt Hessel in dessen Worten immer ein „Macht es möglich!“ mitzuschwingen scheint. Genau genommen verlangt er von den jungen Menschen nicht weniger als den Mut zur Utopie.

Inzwischen ist sein Ruf auch bis nach Athen gedrungen. Am vergangenen Sonntag versammelten sich dort 100.000 „Empörte“ friedlich auf dem Syntagma-Platz. Weder Parteifunktionäre noch Gewerkschafter führten sie. Ihre Empörung ist die Empörung des Bürgers über das bestehende System aus Finanzindustrie und Politik.

In ihrem Kern waren auch schon die Studentenproteste vor einem Jahr in Rom Demonstrationen gegen ein anachronistisches politisches System. Nur standen sie noch nicht unter dem Stern Hessels. Damals gingen Zigtausende für mehr Arbeitsplätze und bessere soziale Absicherungen auf die Straße. Doch bis heute hat sich an der katastrophalen Situation der italienischen Jugend nichts geändert. Unter den 15 bis 24-Jährigen sind 28,6 Prozent arbeitslos, im Süden des Landes sogar 38 Prozent. Der Rest hält sich, wie in Frankreich und Spanien, mit schlecht bezahlten Zeitverträgen über Wasser. Rund 30 Prozent der Mitarbeiter in Call-Centern besitzen einen Studienabschluss. Sie arbeiten für ein paar Hundert Euro im Monat und sind weder kranken- noch rentenversichert.

Wie es scheint, hat die Politik sich mit dieser Situation bereits abgefunden. „Der Spielraum volkswirtschaftlicher Politik zur Lösung dieser komplexen Herausforderung ist nahezu erschöpft“, sagt OECD-Generalsekretär Angel Gurria. Und der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman stellt resigniert fest: „Auf beiden Seiten des Atlantiks hat sich unter den Mächtigen der Konsens herausgebildet, dass nichts für mehr Arbeitsplätze getan werden kann.“ Er sieht die Politiker in einem Zustand der „gelernten Hilflosigkeit“: „Je mehr sie dabei versagen, das Problem zu lösen, desto überzeugte sind sie davon dass sie nichts ändern können.“

Mit jedem Tag sinkt der Wert des jugendlichen Heers der Erwerbslosen auf dem Arbeitsmarkt, weil das Wissen dieser jungen Menschen veraltet und sie irgendwann den Anschluss verpassen. Selbst wenn sich die Arbeitsmarktlage wieder verbessern sollte, werden die Unternehmen später nicht sie einstellen, sondern diejenigen, die nach ihnen mit frisch erwobenem Wissen von den Hochschulen kommen.

Daher wollen viele junge Arbeitslose ihre Länder verlassen. Ihr Ziel ist Deutschland, denn Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bei ihrem Madrid-Besuch im Februar und auch andernorts ausdrücklich um hochqualifizierte Arbeitskräfte geworben. Im andalusischen Granada verzeichnet das Goethe-Institut einen regelrechten Ansturm auf Sprachkurse, berichtet „Focus“. Und die Bundesagentur für Arbeit bestätigt einen „enormen Anstieg“ von Anfragen spanischer Interessenten nach Jobs in Deutschland. Die allermeisten dürften auch nun wieder enttäuscht werden, denn auch in Deutschland sind junge Akademiker kaum besser dran. Knapp 78 Prozent der Geisteswissenschaftler finden im ersten Jahr nach Abschluss des Studiums keinen Job. Und nach fünf Jahren sind davon immer noch 30 Prozent arbeitslos. Wenn überhaupt, dann beschäftigen Unternehmen junge Akademiker vor allem in schlecht bezahlten Zeitverträgen, die möglichst nicht verlängert werden, damit kein Anspruch auf Festanstellung entsteht. Besser dran sind nur Ingenieure und Naturwissenschaftler.

Günther Lachmann für Welt Online am 9. Juni 2011

Unser Newsletter – Ihr Beitrag zur politischen Kultur!

Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

×