Wie Merkel erpressbar wurde
Die EU wird den Griechen nachgeben. Denn wie soll Angela Merkel den Bürgern erklären, dass die Milliarden für die Griechenland-Rettung futsch sind?
Der britische Premierminister Churchill empfahl einmal, keiner Statistik zu trauen, die man nicht selbst gefälscht habe. Die Sitten sind nicht unbedingt besser geworden im Europa der andauernden Eurokrise.
In der letzten Woche erschien auf Zeit Online ein Artikel, der sich über das Thema „Wohin die Griechenland-Milliarden fließen“ beschäftigte.[1] Der Journalist Lukas Zdrzalek zeigt anhand der aktuellen Zahlen des Think Tanks MacroPolis auf, dass von den rund 230 Milliarden Euro der bisherigen Rettungsgelder der Euro-Mitgliedsländer und des IWF nur der geringe Anteil von 15 Milliarden direkt in den unmittelbaren Betrieb des Staates selbst gehen.[2] Addiere man noch indirekte Staatsausgaben hinzu, komme man auf eine Summe von 27 Milliarden Euro, was gerade einmal 11 Prozent der Gesamtsumme sei.[3] Das in der öffentlichen Meinung verankerte Klischee sei aber ein ganz anderes:
„Die Rettungsmilliarden helfen Griechenland vor allem dabei, Ärzte und Polizei zu bezahlen, einen aufgeblähten Staatsapparat am Leben zu erhalten und Rentnern einen schicken Lebensabend zu ermöglichen.“
Gerade der Kampf gegen Klischees über Griechenland ist ein Anliegen des griechischen Think Tanks MacroPolis, dessen Zahlen Zdrzalek bemüht. Der schreibt auf seiner Web-Seite, dass er bezüglich dieser falschen Vorstellungen über Griechenland „aims to correct this by cutting through the noise and providing real insight into developments in Greece“.[4]
Wenig vertrauenerweckend
Inhaltsverzeichnis
Natürlich könnte Lukas Zdrzalek sich und die Leser auch fragen, wie in Deutschland z. B. ein bestimmtes Klischee überhaupt entstanden ist und warum es eventuell den aktuell Regierenden eher nützlich als schädlich ist, schließlich wird und wurde die Euro-Rettung den Wählern ja auch mit der Begründung verkauft, dass man in europäischer Solidarität und natürlich nur übergangsweise wenigen gestrauchelten Euroländern wieder auf die Beine hilft. Eine verdeckte Bankenrettung als Grund kam in dieser Erzählung natürlich nicht vor. Solche Fragen stellt Zdrzalek aber lieber nicht, sondern listet nun auf, was – laut zitiertem Think Tank – wirklich mit dem Großteil der Rettungsmilliarden passiert ist:
- 132 Milliarden flossen in den Schuldendienst
- 35 Milliarden kostete Griechenland der Schuldenschnitt 2012
- 48 Milliarden dienten bis jetzt zur Rettung maroder griechischer Banken
Das sind schon einmal 215 Milliarden, die nicht ans griechische Volk gehen, wobei man allerdings wahrheitsgemäß darauf hinweisen müsste, dass die Griechen bzw. der übergroße Apparat der griechischen Bürokratie die dort aufgetürmten Summen durch vorgezogenen Konsum ja schon einmal verbraucht haben.
Irritierend ist aber etwas anderes: Wenn man nun die 27 Milliarden dazu zählt, die laut Zdrzalek bzw. Think Tank MacroPolis nicht für Schulden, Zinszahlungen für Schulden und Bankenrettung ausgegeben wurden, kommt man schon auf 242 Milliarden und somit eine größere Summe als die angegebene Gesamtzahl der Rettungsgelder eigentlich ausmacht.
Spätestens hier hätte Zdrzalek merken müssen, dass an den Zahlen, die der Think Tank aufgelistet hat, irgendetwas nicht stimmt. Auch die abgebildete Grafik enthält den Fehler: Als Gesamtsumme der Rettungsgelder wird 230 Milliarden angegeben, wenn man die aufgeführten Ausgaben aber zusammenzählt, kommt man auf insgesamt 254,4 Milliarden. Zdrzalek spricht von 11 Prozent der Summe der Rettungsgelder, die den Griechen selbst zu Gute kommen. Wenn man die Gesamtzahl von 230 Milliarden zugrunde legt, dann sind 27 Milliarden ca. 11,7 Prozent, legt man die aus der Grafik errechenbare Gesamtsumme von 254,4 Milliarden zugrunde, dann ergeben sich rund 10,6 Prozent. Vielleicht hat sich Lukas Zdrzalek gedacht, er nimmt mal eine Zahl, die irgendwie dazwischen liegt. Sehr vertrauenserweckend (providing real insight?) ist das nicht. Eine nähere Erläuterung des Zahlenwerks wird nicht gegeben weder in der Grafik selbst noch im Artikel.
Wunsch nach einer Transferunion
So funktioniert eben die Finanzmathematik à la Grèce, könnte man sagen, aber leider zeigt diese Art der Zahlenmagie auch, wie ein Teil der Journalisten in den Leitmedien versucht, eine bestimmte Politik – hier wohl die endgültige Durchsetzung der Transferunion, wie sie sich Tsipras und Varoufakis in den laufenden Verhandlungen wünschen – herbeizuschreiben. Anders kann man einen solch überhasteten Schnellschuss mit fragwürdigen Zahlen nicht erklären.
Es ist aber auch anzumerken, dass der von MacroPolis bzw. Lukas Zdrzalek aufgedeckte „Skandal“ wirklich nichts Neues ist. Die Rettungspakete dienten zu keinem Zeitpunkt in erster Linie den Griechen direkt, sondern vor allem der Rettung der Banken und Fonds, bei denen sie ihre exorbitanten Schulden gemacht hatten. Darüber hätte Zdrzalek sich z. B. durch Lesen der eigenen Zeitung schon 2011 informieren können:
„Ein Teil der 8,4 Milliarden Euro, die von Frankfurt nach Athen überwiesen wurden, kommt also tatsächlich nach Deutschland zurück. Zur Commerzbank, die griechische Anleihen in Höhe von 2,9 Milliarden Euro hält, zur Deutschen Bank, die Anleihen im Wert von 1,6 Milliarden besitzt. Es fließt auch nach Frankreich, zur Bank BNP (Anleihen im Wert von 5 Milliarden), nach Italien, zur Generali (3 Milliarden) und in die Niederlande zur ING (1,4 Milliarden). Es fließt zu fast allen großen Geldhäusern der Welt.“[5]
Oder auch die FAZ:
„Vier Fünftel der Tranche werden für Zins und Tilgungszahlungen verwendet, mehr als die Hälfte fließt zurück ins Ausland. Die von den Steuerzahlern der Geberländer finanzierte Tranche geht also wesentlich an die Finanzhäuser der Geberländer zurück“, konstatierte der Ökonom Jens Bastian laut FAZ.“[6]
Darum sind andere Zahlen zum Thema „Schulden und deren Tilgung“ sehr viel aufschlussreicher. Es betrifft die Gläubigerstruktur für die griechischen Schulden, wie sie sich zwischen 2010 und Ende 2015 entwickelt hat (folgender skizzenhafte Überblick wurde zusammengefasst aus Zahlenangaben verschiedener Grafiken im Internet):
Ungeheures Erpressungspotential
Das wäre eine wichtige Information gewesen, die man in oben zitiertem Artikel hätte beisteuern können, es war aber für Lukas Zdrzalek offenbar politisch nicht opportun. Die eigentliche Frage ist nicht, warum Griechenland selbst so wenig von den Rettungsgeldern sieht, sondern die Steuerzahler der Euroländer müssen ihre Regierungen fragen, warum die Schulden eines Landes, das einmal zu 100 Prozent mit seinen Schuldpapieren bei privaten Gläubigern in der Kreide stand, nun zu 80 Prozent (abzüglich allerdings IWF-Anteil) von ihnen geschultert werden sollen.
Nach und nach wurden die griechischen Schulden sozialisiert. Banken und andere privaten Käufer, die trotz des Schuldenschnitts von 2012 gut abkassiert haben mit griechischen Staatsanleihen, haben sich zurückgezogen und die Eurostaaten, EZB und IWF sind eingesprungen.
Außerdem wird bei Ansicht dieser Zahlen auch klar, welch ungeheures Erpressungspotential durch die Rettungspolitik der Merkel-Regierungen in die Hände der griechischen Politiker gegeben wurde. Sie haben in den anstehenden Verhandlungen immer noch gute Karten, sich durch weitere faule Kompromisse und gesichtswahrende Formulierungen irgendwie durchzulavieren. Denn welche Regierung in Europa will schon gern vor seine Wähler treten und sagen: „Das Geld der Griechenland-Rettungspakete ist zwar nicht weg, aber es haben jetzt leider andere.“
Anmerkungen
[1] Lukas Zdrzalek, „Wohin die Griechen-Milliarden fließen“, Zeit Online vom 6. Februar 2015
[2] siehe auch: Günther Lachmann, „Grieche kündigt Euro-Austritt an“, GEOLITICO vom
[3] siehe auch: Stefan L. Eichner, „Griechenland versinkt in Armut“, GEOLITICO vom 22. Oktober 2014
[4] MacroPolis – Greece in Perspective
[5] Mark Schieritz und Wolfgang Uchatius, „Wer kassiert unser Geld?“, Die Zeit vom 4. Juli 2011
[6] vergl. Jan Pehrke, „Rettungspakete aus Athen“, Heise Online vom 29. Dezember 2012