Das Versagen der Sicherheitsdienste ist eine Gefahr für die Demokratie
In einer Zeit umwälzender Veränderungen, in der Ordnungen sich auflösen und die Menschen an Orientierung verlieren, stand der Rechtsstaat immer noch als letzte Bastion der Demokratie. Bei aller Verzagtheit der Menschen vor der Schuldenkrise in Europa und ihren Ängsten angesichts einer Politik, die gegenüber den Finanzmärkten machtlos erscheint, war ihnen dieser Rechtsstaat doch immer sicher. Einst schützte er ihre Freiheit und ihr Leben vor dem Terror der Roten Armee Fraktion, dann vor gewaltbereiten Islamisten; und in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts bewahrte er die institutionellen Kräfte der Demokratie, indem das Gericht ein ums andere Mal die Stellung des Parlaments gegenüber der Regierung stärkte und die im Grundgesetz garantierten Bürgerrechte vor Beschneidungen durch den Gesetzgeber bewahrte.
Nun jedoch steht dieser furchterregende Verdacht im Raum, die deutschen Sicherheitsdienste könnten ein gerüttelt Maß an Mitschuld an der rechtsextremen Mordserie der Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund haben. Mit jedem weiteren entdeckten Unterstützer, mit jeder neuen Aussage von Zeugen, die Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in den Jahren nach ihrem Untertauchen gesucht und gefunden haben wollen, geraten die ermittelnden Behörden weiter ins Zwielicht, also dorthin, wo gewöhnlich nur jene stehen, die von ihnen verfolgt werden.
In der Geschichte der Bundesrepublik gab es einige Skandale der Sicherheitsbehörden. Der Verfassungsschutz hatte sein Celler Loch, der Bundesnachrichtendienst seine Plutonium-Affäre, und in Köln sollen vor zehn Jahren sechs Polizisten einen Ruhestörer so sehr misshandelt haben, dass dieser an den Folgen seiner schweren Verletzungen starb. All das waren einschneidende Ereignisse, und doch treten sie vor dem nun aufgekommenen ungeheuerlichen Verdacht zurück.
Wie um Himmels Willen, so fragt man sich, war es möglich, dass die Sicherheitsbehörden dieser Terroristen nicht habhaft wurden? Warum nur ahnten 32 Landeskriminal- und Verfassungsschutzämter nicht im Geringsten, dass die drei hinter jener Mordserie steckten, der die Polizei über zehn Jahre lang ratlos hinterher recherchierte?
Dabei hatte sich die rechte Szene in den 90er-Jahren doch offen als Mörderbande zu erkennen gegeben. Davon zeugen Pogrome wie Solingen oder Mölln und weit über 100 tödliche Angriffe gegen Einzelpersonen. Der erste geschah 1990 in Eberswalde, wo 50 Neonazis eine Gruppe von Arbeitern aus Angola und Mosambik angriffen und dabei den Angolaner Antonio Amadeu töteten. Unvergessen ist die Hetzjagd von Guben im Februar 1999, bei der Neonazis den algerischen Flüchtling Omar Ben Noui vor den Augen der Polizei in den Tod trieben.
Es ist die vornehmste Aufgabe der Sicherheitsbehörden eines Rechtsstaates, Schaden von der Demokratie abzuwenden, deren elementare Voraussetzung zu schützen, nämlich Freiheit und Bürgerrechte. In Hunderten von Fällen hatten Neonazis in den 90er-Jahren deutlich gemacht, dass sie diesen Rechtsstaat nicht nur politisch bekämpfen, sondern ihn mit Gewalt zerstören wollen. Ihre Opfer waren vornehmlich Migranten. Genauso handelten die drei jungen Leute aus Jena, die Ausländer hassten, zutiefst rechtsextrem gesinnt und als gewaltbereit bekannt waren. Und trotzdem sollen sie den Sicherheitsbehörden irgendwie durchgegangen sein? Das ist nur schwer vorstellbar.
Was immer die in Thüringen und im Bund eingesetzten Arbeitsgruppen jetzt herausfinden mögen, wird die Sicherheitsbehörden belasten. Denn was könnte es in diesem Fall noch Entlastendes geben? So gerät mit der Aufarbeitung dieses Skandals erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine tragende Institution unserer Gesellschaftsordnung ins Wanken. Die Rekonstruktion dieses Falles erschüttert den bisher unerschütterlichen Glauben der Deutschen an den Rechtsstaat und beschädigt das ohnehin schwindende Vertrauen in die demokratischen Kräfte.
Günther Lachmann am 22. November 2011 für Deutschlandradio Kultur