Politisches Schamanentum und die bittere Realität
Erinnert sich noch jemand an die Wirtschafts-Schlagzeilen zu Beginn dieses Jahres? An all die Wachstumseuphorie und die Jubelmeldungen vom „Aufschwung XXL“ des damaligen Wirtschaftsministers Rainer Brüderle, die so gar nicht zu den heutigen Rezessionsängsten passen wollen?
„Wir befinden uns auf einer Schnellstraße Richtung Vollbeschäftigung“, frohlockte Brüderle und präsentierte im Januar einen Jahreswirtschaftsbericht 2011 mit dem ganz und gar krisenfreien Titel: „Deutschland im Aufschwung – den Wohlstand von morgen sichern“.
„Wir gehen mit Siebenmeilenstiefeln voran – manche trotten im Gänsemarsch hinterher“, sagte Brüderle und erntete Kopfschütteln bei allen, die lieber ihrem gesunden Menschenverstand vertrauten als seinen luftigen Prognosen, die dann in dem Satz gipfelten: „Dieser Aufschwung wird noch lange andauern.“
Heue ist klar: Europa stürzt in die Rezession. In der gesamten Union wird das Bruttoinlandsprodukt „bis weit ins Jahr 2012 hinein stagnieren“. Und das betrifft nicht nur Krisenstaaten wie Spanien, Portugal oder Italien. Nein, auch Deutschland stagniert mit einem Minimalwachstum von 0,8 Prozent.
[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=TDxGkgLl3SM]Aber wie konnte es nur dazu kommen? Schließlich hatten die Bundesregierung und die sie beratenden Ökonomen zu Beginn des Jahres doch etwas ganz anderes angekündigt.„Deutsche Wirtschaft ist nicht zu bremsen“, etwa titelte die Deutsche Presseagentur am 9. April. Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn spricht im Juni von einem „guten Geschäftsklima“ in der deutschen Wirtschaft.
Und noch im August, als um sie herum die Börsen abstürzten, Griechenland bereits pleite war und sogar Italien ins Wanken geriet, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel im ZDF-Sommerinterview von alledem vollkommen unberührt: „Ich sehe nichts, was auf eine Rezession in Deutschland hindeutet.“
Sahen sie nicht, was um sie herum geschah? Oder wollten sie es nicht sehen? War es also reine Realitätsverweigerung? Jedenfalls war der Konjunkturindex des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH zu diesem Zeitpunkt bereits auf den tiefsten Stand seit dem Ausbruch der weltweiten Finanzkrise 2008 gestützt.
Anscheinend war der Bundesregierung entgangen, dass immer neue Hilfsprogramme in der Schuldenkrise nur das eine bewirken: Sie ziehen Milliarden-Summen aus der Realwirtschaft ab. Auch hat sich wohl niemand gefragt, was es bedeutet, wenn drakonische staatliche Sparprogramme den Kaufrausch der Südeuropäer beenden. Und niemand kam auf die Idee, dass die allein auf den Export ausgerichtete deutsche Wirtschaft nicht weiter wachsen kann, wenn ihr mit den USA und den Ländern Europas wichtige Absatzmärkte wegbrechen.
Unternehmerisches Wirtschaften ist vorausschauendes Denken und Handeln. Politik offenbar nicht.
Günther Lachmann am 10. November für Welt Online