Die Gesellschaft kündigt ihren Vertrag mit der Politik
Die Bürger Europas verlangen nach einer Erneuerung der Demokratie. Sie demonstrieren in Griechenland, Italien und Spanien für die Wiederherstellung der Herrschaft des Volkes und damit für die wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft.
Sie kämpfen gegen die Fortsetzung dynastischer Regierungswechsel in Athen, die allein durch ein korruptes System gestützt und ermöglicht werden. In Spanien wollen sie das Monopol von Sozialistischer Arbeiterpartei und Volkspartei „Partido Popular“ brechen, unter dem Teile der franquistischen Machtstruktur konserviert wurden. In Italien ziehen sie gegen eine nur notdürftig mit einer Art pseudo-monarchischer Maskerade verkleidete mafiöse Berlusconi-Herrschaft zu Felde. In allen Ländern streben sie nach der Befreiung von den Fesseln einer ruinösen, von Regierenden und Investmentbankern Hand in Hand betriebenen Schuldenpolitik.
Das ist die politische Wirklichkeit Europas im Sommer 2011. Nur wollen weder Regierende noch Parlamentarier diese Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen. Und akzeptieren wollen sie sie schon gar nicht. Stattdessen betreiben sie die Entdemokratisierung Europas. Sie versuchen, weitreichende Entscheidungen jeglicher parlamentarischen Kontrolle und damit jeder demokratischen Legitimation zu entziehen.
Nichts anderes ist der Vorstoß von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy für eine sogenannte gemeinsame „Wirtschaftsregierung“. Soweit bisher bekannt ist, wird sie aus dem Rat der Staats- und Regierungschefs der 17 Euro-Länder zusammengesetzt und soll zweimal im Jahr tagen. Den Vorsitz übernimmt EU-Ratspräsident Herman van Rompuy. Über die genauen Kompetenzen des Gremiums schweigen Merkel und Sarkozy wohlweislich, was darauf hindeutet, dass weder dem europäischen Parlament noch nationalen Parlamenten echte Mitspracherechte eingeräumt werden.
Mit keinem Wort hatten die beiden ihre Pläne zuvor angedeutet. So verhinderten sie jede Form der Kritik und zugleich einen politischen Entscheidungsprozess in den Parlamenten und in der Bevölkerung vor ihrem Treffen.
Diese Heimlichtuerei geschah bewusst. Denn sogar für die Zeit nach dem Treffen war gesorgt. Ein offensichtlich geschickt inszeniertes Gezänk um die Einführung von Eurobonds zur Finanzierung der Eurozone, trug dazu bei, dass der Plan der „Wirtschaftsregierung“ nicht zerredet wurde. Noch dazu lenkte der „Streit“ perfekt von den eigentlichen, weitergehenden Zielen des Kanzleramtes und des Pariser Präsidentenpalastes ab, nämlich dem Aufbau einer politischen Union der Eurostaaten.
Und das ist das eigentlich Ungeheure an diesem Vorgang. Da wird nämlich unter dem Deckmantel der Finanzkrise eines der größten und politisch folgenschwersten Projekte der Euro-Gruppe angeschoben, ohne die Öffentlichkeit und die Parlamente auch nur im Geringsten über die Tragweite der Ziele zu informieren.
Eine Zusammenführung des Regierungshandels, und sei es auch nur in einem Ressort, greift tief in die Souveränitätsrechte der beteiligten Nationalstaaten ein. Ein solcher Schritt muss daher zwingend in deren Parlamenten, und von den Parlamentariern in deren Wahlkreisen diskutiert werden. Und zwar bevor die Staats- und Regierungschefs entweder Macht- und Führungsstrukturen oberhalb der parlamentarischen Ebene schaffen oder sich an eine Änderung der europäischen Verträge machen und die Parlamente anschließend nur noch um ihre Zustimmung bitten. Schließlich geht es um das Selbstbestimmungsrecht einer Nation, um deren politisches Selbstverständnis. Mit ihrem Verhalten aber nehmen Angela Merkel und Nicolas Sarkozy darauf keinerlei Rücksicht.
Es sind bestenfalls vage Andeutungen, aus denen die tatsächlich angestrebten europapolitischen Ziele Merkels Tage nach ihrem Treffen mit Sarkozy erkennbar werden. In einem Beitrag für „Welt Online“ schreibt der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, für die nationale Idee sei in Europa kein Platz mehr. Da nationale Regierungen bei der Einhaltung der der Euro-Stabilitätskriterien versagt hätten, müssen „eine klare Konsequenz gezogen werden: eine verbindliche Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU“.
Am Wochenende meldet sich dann Finanzminister Wolfgang Schäuble in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“. Er habe immer gehofft, „dass der Euro schrittweise die politische Union herbeiführen“ werde, sagte er. „Dass es aber noch nicht so weit ist, ist einer der Gründe für das Misstrauen der Märkte.“
Die Rolle des Unschuldslammes spielt keiner besser als Schäuble. Die politische Union sei also kein politischer Wille Merkels oder Sarkozys, will er einem weismachen. Schuld seien „die Märkte“. Sie erzwängen ein weiteres Zusammenwachsen der Euro-Gruppe und verlangten von den Nationalstaaten die Aufgabe fundamentaler Rechte.
Warum ist die Politik nur so feige? Warum traut sie sich nicht, schlicht und einfach die Wahrheit zu sagen, die da vermutlich lautet: Ja, Schäuble, Merkel und Sarkozy wollen Eurobonds. Ja, Schäuble, Merkel und Sarkozy wollen eine politisch geeinte Eurozone. SPD und Grüne wollen es auch.
Die Antwort lautet: Politik und Wähler leben längst in verschienen Welten. Sie wollen schon lange nicht mehr dasselbe. Die einen rufen nach mehr Demokratie, die anderen begegnen der Forderung nach Offenheit und Transparenz mit Täuschung und Mauschelei.
In den Parlamenten ist die beratschlagende Rede, in der Aristoteles einst das zentrale Element der Politik sah, ausgerechnet in den wichtigsten Entscheidungen zur Finanzpolitik zur bloßen Akklamation der Regierungsentscheidungen verkommen. Und das vordringliche Ziel allen politischen Handelns heute ist der Selbstzweck. Es geht allein um den Machterhalt und um den Platz im Parlament.
Genau deshalb wenden sich die Menschen von den Politikern ab. Sie wollen, dass es wieder um ihre Interessen, Sorgen und Wünsche, schlicht um ihre Lebens- und Existenzgrundlagen geht. Sie sind nicht gegen ein politisch geeintes Europa, sie sind dafür.
In Windeseile haben sich die Demokratiebewegungen aller Länder über das Internet vernetzt. Einen so vitalen politischen Austausch über nationale Grenzen hinweg hat es in der europäischen Geschichte lange nicht mehr gegeben. Gemeinsam kämpfen sie für ein demokratisch erneuertes Europa und gegen Regierungen, die ihre Bürger hintergehen, Mitbestimmungs- und Beteiligungsprozesse schleifen und die Zukunft ganzer Gesellschaften an die Finanzmärkte verkaufen.
In zahlreichen Ländern, darunter Griechenland, Spanien und Italien, ist der Vertrag zwischen Politik und Gesellschaft bereits gekündigt. Der Sommer 2011 markiert deshalb den Niedergang und zugleich den Beginn einer demokratischen Epoche.
Günther Lachmann am 22. August 2011 für Welt Online