Krieg in Europa als Ergebnis politischer Naivität

Krieg / Stahlhelme / Graeber / Quelle: Pixabay, lizenzfreie Bilder, open library: kalhh; https://pixabay.com/de/photos/gr%c3%a4ber-stahlhelm-ruinen-3088790/ Krieg / Stahlhelme / Graeber / Quelle: Pixabay, lizenzfreie Bilder, open library: kalhh; https://pixabay.com/de/photos/gr%c3%a4ber-stahlhelm-ruinen-3088790/

Die vergangenen 30 Jahre EU-Russlandpolitik waren gelenkt von wirtschaftlichen Interessen und strategischer Naivität. Was das mit dem Ukraine-Krieg zu tun hat.

Putins Krieg gegen die Ukraine ist ein durch nichts zu entschuldigendes Verbrechen. Vorangegangen sind ihm Jahrzehnte, die geprägt waren von politischer Irrationalität, Fehleinschätzungen, und sogar politischer Naivität. In vielen Verhandlungsrunden auf Gipeltreffen haben vor allem die Vertreter der Europäischen Union den Sinn des Gesagten entweder nicht erfasst oder einfach ignoriert.

Was Russland will, hat Wladimir Putin laut und deutlich in seiner damals hochgelobten Rede vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2001 gesagt. Hier einige Auszüge aus dem Bundestagsprotokoll:

„Zwischen Russland und Deutschland liegt die große Geschichte“

„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.
(Beifall)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir, ein paar Worte zu den deutsch-russischen Beziehungen zu sagen – ich möchte das gesondert betrachten -: Die russisch-deutschen Beziehungen sind ebenso alt wie unsere Länder. Die ersten Germanen erschienen Ende des ersten Jahrhunderts in Russland. Am Ende des 19. Jahrhunderts lag die Zahl der Deutschen in Russland an neunter Stelle. Aber nicht nur die Zahl ist wichtig, sondern natürlich auch die Rolle, die diese Menschen in der Landesentwicklung und im deutsch-russischen Verhältnis gespielt haben: Das waren Bauern, Kaufleute, die Intelligenz, das Militär und die Politiker. Zwischen Russland und Amerika liegen Ozeane. Zwischen Russland und Deutschland liegt die große Geschichte.
Das schrieb der deutsche Historiker Michael Stürmer. – Ich möchte dazu feststellen, dass die Geschichte genauso wie die Ozeane nicht nur trennt, sondern auch verbindet.
(Beifall)

Zum Schluss will ich die Aussagen, mit denen Deutschland und seine Hauptstadt vor einiger Zeit charakterisiert wurden, auf Russland beziehen: Wir sind natürlich am Anfang des Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft und einer Marktwirtschaft. Auf diesem Wege haben wir viele Hürden und Hindernisse zu überwinden. Aber abgesehen von den objektiven Problemen und trotz mancher – ganz aufrichtig und ehrlich gesagt – Ungeschicktheit schlägt unter allem das starke und lebendige Herz Russlands, welches für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft geöffnet ist.
Ich bedanke mich.
(Anhaltender Beifall – Die Abgeordneten erheben sich)“

Frühe Kriegs-Warnungen

Mit stehenden Ovationen hat der Bundestag den russischen Präsidenten damals verabschiedet. Zu diesem Zeitpunkt hatte die NATO bereits Ungarn, Polen und die tschechische Republik aufgenommen, obwohl der Westen Michail Gorbatschow im Jahr 1990 versprochen hatte, keine ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes in das westliche Verteidigungsbündnis aufzunehmen. Mit anderen Worten: Die Amerikaner haben ebenfalls klar und deutlich gesagt, wie sie sich das weitere strategische Vorgehen des Westens in Osteuropa vorstellen. Und zum Teil hatten sie diese Vorstellungen bereits in die Tat umgesetzt.

Unumstritten war dieses Vorgehen damals selbst in den USA nicht. So warnte etwa der US-Historiker George Kennan, der während des Kalten Krieges die Eindämmungspolitik gegenüber der UdSSR entwarf und somit ein Experte für russische Befindlichkeiten war:

„Die NATO-Erweiterung wäre der folgenschwerste Fehler der amerikanischen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges. Es ist damit zu rechnen, dass diese Entscheidung nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit schürt, einen neuen Kalten Krieg in den Ost-West-Beziehungen auslöst und die russische Außenpolitik in eine Richtung drängt, die überhaupt nicht unseren Wünschen entspricht.“

Doch die US-Strategen schlugen Kennans Warnung in den Wind und kündigten stattdessen an, ein Raketenschild in Osteuropa stationieren zu wollen, obwohl dies ausdrücklich der NATO-Russland-Grundakte von 1997 widersprach. Außerdem stellten die USA die Abkommen zur atomaren Abrüstung infrage. Im Dezember 2001 kündigten Sie den ABM-Vertrag von 1972. Sie sahen sich als einzig verbliebene Weltmacht und agierten auch so.

Erinnerungen an Grosny

Dabei spielten sicher auch die Erfahrungen aus dem ersten Tschetschenien-Krieg eine wichtige Rolle. Moskau hatte fast drei Jahre mit den Tschetschenen über eine Unabhängigkeit verhandelt, dann rollten 1994 dennoch die Panzer. Heute wird angesichts der Belagerung von Kiew immer wieder an die Zerstörung Grosnys durch die russischen Streitkräfte erinnert. Damals stornierte die EU ein bereits unterzeichnetes Partnerschaftsabkommen mit Russland. Sie forderte einen Waffenstillstand, verurteilte die Menschenrechtsverletzungen und verlangte von der russischen Regierung, OSZE-Experten ins Kriegsgebiet zu lassen.

Dieser Krieg war der Krieg von Präsident Boris Jelzin. Aber er zeigte exemplarisch, wie Russland auf Separationsbestrebungen von Ländern reagiert, die es zu seinem Machtbereich zählt.

In der EU indes muss die Erinnerung daran schnell verblasst sein. Zwar vollzog die EU in den folgenden Jahrzehnten im Wesentlichen die sicherheitspolitischen Wünsche der wechselnden US-Regierungen nach, auch wenn diese den Bruch bestehender Vereinbarungen mit Russland bedeutete. Gleichzeitig aber baute Europa seine wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland immer weiter aus. Niemandem schien der sich in diesem Verhalten manifestierende Widerspruch aufzufallen: Einerseits halfen die EU-Staaten, Russland militärisch immer weiter zu bedrängen, andererseits machten sie das Land zu einem der wichtigsten Absatzmärkte und Energielieferanten.

An der Absurdität dieses Vorgehens ändern auch Entschuldigungen wie die des französischen Osteuropaexperten am Institut national des langues te des civilisations oriental, David Teurtrier, nichts, der sagt, die EU-Mitglieder wären den USA nicht immer ganz freiwillig gefolgt. Oft genug hätten die USA starken Druck ausgeübt. So auch im Georgien-Konflikt 2008. Washington habe erheblich auf seine europäischen Verbündeten eingewirkt, damit diese den Wunsch der Regierungen in Georgien und der Ukraine nach einem NATO-Beitritt guthießen, obwohl sich die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung sogar gegen einen Beitritt ausgesprochen hatte.

Staunen über den Krieg

Moskau reagierte damals übrigens mit dem gleichen Mittel, mit dem es bereits 1994 auf die Separationsbestrebungen der Tschetschenen reagiert hatte: mit Krieg. Und Moskau sah diesen Krieg als ebenso legitime Antwort auf die Politik des Westens an wie später die Annexion der Krim und die militärische Unterstützung der Separatisten im Donbass.

Genau genommen haben die Europäer in den vergangenen 20 Jahren zwar viel mit dem Kreml gesprochen, waren jedoch unfähig, eine eigene, von den USA unabhängige Position zu entwickeln. Sie betrieben aus wirtschaftlichen Motiven heraus die Verbrüderung mit Russland, folgten aber zugleich dem Wunsch der USA, den sicherheitspolitischen Einflussbereich eben dieses Russlands, mit dem die EU inzwischen wirtschaftlich so eng verbunden war, immer weiter zu beschneiden. Erst mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine dürfte vielen Politikern bewusst geworden sein, wie grotesk ihr Handeln war.

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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Nathan
Nathan
2 Jahre her

Ein Verbrechen? Geostrategisch betrachtet, und nur DARUM geht es, war es Notwehr. Und im Grunde geht es um einen Krieg zwischen den USA und Russland, wobei es bei den Amis um die für Russland tödlichen Wirtschaftssanktionen als Waffe geht, um Russland als Erz-Systemfeind zu zerstören. Die Sanktionswaffe, arrogant erprobt gegen Kuba, Venezuela, Libyen, Iran und auch gegen UNS, zu Trumps-Zeiten, von Biden z.T. aufrecht erhalten. Die USA will in seinem Weltkrieg die Welt in seinem Sinne und zu seinem Vorteil ERPRESSEN. Das ist und war auch Putin klar, der sich wehrlos den Machenschaften der aggressiven und drohenden US-Nato ausgeliefert sah,… Read more »

Manfred Richard Buder
Manfred Richard Buder
Reply to  Nathan
2 Jahre her

Danke, Sie bringen es auf den Punkt

fufu
fufu
Reply to  Nathan
2 Jahre her

„Putins Krieg“, fuer die Mehrzahl meiner Kontakte ist Putin der Boese. Scheints hat man seit Corona in gewissen Kreisen gemerkt, dass man der Masse mit medialem Dauerfeuer jeden Mist als Realitaet verkaufen kann.

fufu
fufu
Reply to  Nathan
2 Jahre her

„strangulierende Sanktionen“

Nicht zu vergessen die Ursachen der letzten beiden Weltkriege.

Skyjumper
Skyjumper
Reply to  Nathan
2 Jahre her

Russland als „Erzfeind“ ist etwa die Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte des Erzfeindes der USA (Großbritanniens) heißt Deutschland (EU). Russland ist trotz teilweiser bemerkenswerter Fortschritte technologisch ein Schwellenland. Daran ändern auch die sehr guten Ergebnisse im Bereich militärischer Technologie nichts. Schauen Sie sich mal an, was im Bereich ziviler Luftfahrt, landwirtschaftlicher Maschienen und ziviler Industrie (und zwar auch bis weit in die Förder- und Verarbeitungsbereiche der Rohstoffindustrie hinein) an westlicher Technik in Russland verbreitet ist. Der gefürchtete Erzfeind des ngelsächsischen Machtzentrums dieser Welt ist eine Kombination russischer Rohstoffe und westeuropäischer Organisations- und Ingenieurtechniken. Die Kombination erst würde die Vormachtstellung… Read more »

Rosi
Rosi
Reply to  Skyjumper
2 Jahre her

@Skyjumper

Der gefürchtete Erzfeind des angelsächsischen Machtzentrums dieser Welt ist eine Kombination russischer Rohstoffe und westeuropäischer Organisations- und Ingenieurtechniken. Die Kombination erst würde die Vormachtstellung der USA gefährden.“

Nicht gefährden, sondern damit hätte sich die Vormachtstellung der USA erledigt.

Deutschland im Bündnis mit Russland (u. erweitert als das von Putin erhoffte neue Eurasien) wurde immer schon und wird weiterhin durch die Angelsachsen boykottiert.

@Nathan
Nagel auf den Kopf getroffen!

Rosi
Rosi
2 Jahre her

Putin hätte längst die Ukraine überrennen können; warum tut er es nicht? Zermürbungstaktik – gegen Europa. Je länger dieser Krieg andauert, desto schlechter wird unsere Position; auch der Dollar gerät immer weiter unter Druck. Die Sanktionen gegen Russland waren doch leicht voraussehbar (Putin ist ein sehr guter Schachspieler) und setzt Russland kaum unter Druck. Und wer jetzt noch unseren Politdarstellern Naivität unterstellt, der hat wohl gar nichts kapiert. Sie waren und sind Handlanger und Marionetten der im Hintergrund agierenden Angelsachsen = Kriegstreiber. Die Zerstörung Deutschlands hat bereits vor vielen Jahrzehnten begonnen und bewegt sich nun Richtung Endphase (Endphase eingeläutet durch… Read more »

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