Wie neue Religionen die Rationalität verdrängen

Rationalitaet / Religionen / Qiuelle: Pixabay, lizenzfreie Bilder, open library: 4653867; https://pixabay.com/de/photos/anbetung-gottes-gl%c3%bccklich-dankbar-2101347/ Rationalitaet / Religionen / Qiuelle: Pixabay, lizenzfreie Bilder, open library: 4653867; https://pixabay.com/de/photos/anbetung-gottes-gl%c3%bccklich-dankbar-2101347/

Neue Realitätsverweigerer: Wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird die Rationalität immer mehr durch neue Religionen mit irrationalen Bekenntnissen verdrängt.

Viele Anleger sind zeitgeistgetrieben und machen was ihnen die Medien einflüstern. Das war schon immer so. Es gab zum Beispiel viele Leichtgläubige, die 1916, 1917 und 1918 immer noch in Kriegsanleihen investierten. Das Geschäft – soweit es überhaupt als solches und nicht als Haltung verstanden wurde – entpuppte sich als totaler Flop.

Die Kriegsanleihen der Jetztzeit haben oft mit dem Kampf gegen den Klimawandel zu tun. Ich nenne nur mal exemplarisch Tesla, Nel Asa und Delivery Hero. Tesla bedient die Elektro-, Nel Asa die Wasserstoff– und Delivery Hero die Fahrradkirche. Unterbezahlte Kuriere fahren Fastfood mit dem E-Vehikel oder dem Lastenfahrrad aus. Wie trendy!

Glaube gegen Rationalität

1918 konnte man sich die Risiken des Kriegs ausmalen, wenn man nicht voreingenommen war. Auch derzeit kann man sich ein Bild von den Siegchancen der Köche und Ausfahrer machen. Die Lieferhelden haben seit Jahren ein märchenhaftes Umsatzwachstum. Aber was nutzt das, wenn man im Jahr Sieben der Firmengeschichte mit jeder gelieferten Essensportion im Wert von 12,33 Euro sage und schreibe 7,00 Euro Verlust macht? Und was sind das für Trottel, die aktuell 119 Euro für eine Aktie bezahlen, die 7 Euro Verlust produziert?

Sicher, bei Amazon hat die Strategie funktioniert, über Wachstum in die Gewinnzone zu kommen. Man muss allerdings dagegenhalten, bei wie vielen Firmen und Startups dieses Vorgehen gescheitert ist. Und es muss nicht immer eine Vollkatastrophe sein.

Zalando macht seit Jahren Gewinn. Wenn man sich die Marge ansieht, verzweifelt man allerdings: Sie liegt bei einem bis zweieinhalb Prozent, wobei über die Jahre kein Aufwind zu erkennen ist. Die Aktie hat seit Jahren ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 100. Das ist eigentlich unakzeptabel. Trotzdem hielt beispielsweise Allianz Global Investors einen Anteil von über 8 Milliarden Euro. „Die Allianz, die kann‘s“, sagte man früher.

Neue Realitätsverweigerer

Die Börse ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die Rationalität wurde insbesondere im 21. Jahrhundert immer mehr durch neue Religionen mit irrationalen Bekenntnissen verdrängt. Die Taxometrie versucht das Brüsseler Glaubenssystem systematisch zu hinterlegen, ihm einen rationalen Anstrich zu geben. Realwashing sozusagen. Und die Kleinanleger (und nicht nur die) laufen den trendigen Nachrichten hinterher.

Je eskapistischer und gewagter, desto wirksamer. Wenn man Elon Musk oder Cathie Woods beobachtet, so fallen die herausragenden Entertainer-Qualitäten auf. Selbst Mondreisen und Bitcoininvestments, die mit dem Geschäft weniger als nichts zu tun haben, sollen unsere Fantasie beflügeln.

Die derzeitige Welle der Realitätsverweigerung kann man mit der der spätkaiserzeitlichen Jugendbewegung vergleichen, die auch das Gefühl über den Verstand, die Kultur über die Ökonomie triumphieren ließ.

Reflexhaft entstanden ab dem endenden 19. Jahrhundert zahllose Lebensreformansätze, die notwendig immer eine Ausgestaltung als Heilstheorien erfuhren, von den Nudisten und Wandervögeln über die Anthroposophen bis hin zu den Okkultisten. Gelüftete Schlafzimmer, bequeme Unterwäsche, Reformkleider, Kneipp-Sandalen, Leibesverrenkungen in Kraftkunstinstituten, Vegetarismus, Reformhäuser, Lichttherapien und die Nachrichten vom „Berg der Wahrheit“ im Tessin sollten die Gebrechen der Gesellschaft nicht lindern, sondern heilen.

„Vorherrschaft des Verstandes brechen“

Achim Preiss hat es ausformuliert: „Als das geeignete Instrument zur Fortschrittsbeherrschung oder – unterwerfung erschienen Religionssysteme. Es gründeten sich zu diesem Zweck meist jugendoptimistische Vereinigungen, Bünde, Sekten, die alle an dem Entwurf einer neuen, nicht-chaotischen Lebenskultur arbeiteten und die ein gemeinsames Feindbild hatten – den nur von Kommerz und Hochtechnologie angetriebenen Fortschritt. Die praktizierten Formen der neuen Lebenskultur zielten darauf, das Gefühl in die Lage zu bringen, den Verstand zu kontrollieren, die Vorherrschaft des Verstandes zu brechen, um damit die Vormacht der Technik zu beenden.“ Was sind Fridays for Future und die Brüsseler Kommission anderes?

Da sind wir nun nach 100 Jahren Achterbahn wieder beim idealistischen Urschleim angelangt. Selbst an der erzkapitalistischen Börse, diesem verruchten Hort des Mammons, walten zunehmend die emotionalen Kräfte.

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Über Wolfgang Prabel

Wolfgang Prabel über sich: "Ich sehe die Welt der Nachrichten aus dem Blickwinkel des Ingenieurs und rechne gerne nach, was uns die Medien auftischen. Manchmal mit seltsamen Methoden, sind halt Überschläge... Bin Kommunalpolitiker, Ingenieur, Blogger. Ich bin weder schön noch eitel. Darum gibt es kein Bild." Kontakt: Webseite | Weitere Artikel

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Wolfgang Wirth
Wolfgang Wirth
2 Jahre her

Die Hinweise auf die Lebensreformbewegung um 1900 herum sind durchaus interessant und es finden sich auch tatsächlich Parallelen zur Gegenwart, doch würde ich diese eher in den Bereichen „Klimaschutz“ und „Veganertum“ verorten als bei beim Thema „Aktien“. Angesichts von Geldmengenwachstum, Nullzins und Inflation hat ein Engagement in Aktien ja nichts mehr so viel mit der Rentabilität zu tun, sondern einerseits mit dem Wunsch nach schlichtem und durchaus realistischem Werterhalt und andererseits mit dem Hoffen auf Kurssteigerungen, was ja angesichts der Vielzahl ähnlich denkender Anleger im Moment noch funktioniert. Weil die Gelddruckorgie weitergehen dürfte, ist auch kein drastischer Börseneinbruch absehbar. Von… Read more »

Frido
Frido
Reply to  Wolfgang Wirth
2 Jahre her

Selbstverständlich, in Sachwerte investieren um sich vor Inflation zu schützen, und Anteile von Unternehmen sind (auch) Sachwerte, allerdings ist die richtige Auswahl entscheidend.

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