Noch im Untergang träumt Europa

Ergeht es uns wie Rom? Es muss nicht der Staat sein, der mit der Völkerwanderung untergeht, es reicht doch schon, wenn es Standards des Zusammenlebens sind, soziale Errungenschaften, eine von allen geschätzte Heimat.

Kaum ein Begriff ist inhaltlich so aufgeladen, wie der Begriff „Völkerwanderung“. Die Völkerwanderung am Ausgang der Antike war ein epochales Ereignis und führte zum Zusammenbruch des römischen Weltreichs im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Der östliche Teil konnte sich als Byzantinisches Reich noch tausend Jahre behaupten. Immer mehr an Macht und Einfluss verlierend bestand es an seinem Ende 1453 nur noch aus der Hauptstadt Konstantinopel. Der westliche Teil fiel trotz mancher Rückeroberungsversuche unter dem oströmischen Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert dauerhaft in die Hände germanischer und arabischer Eroberer.

Als bedeutendes Datum ging das Jahr 476 in die Geschichte ein, als der letzte weströmische Kaiser Romulus Augustulus vom germanischen Heermeister Odoaker sang- und klanglos abgesetzt wurde. Sein eigentlicher Name war Romulus Augustus, die Benennung „Augustulus“, das Kaiserlein, war nur noch ein Spottname. Der letzte Kaiser Westroms war so machtlos, dass man ihn am Leben lassen konnte, so schickte man ihn lediglich in den vorzeitigen Ruhestand. Rein rechtlich gesehen, war der oströmische Kaiser durch die Vakanz im westlichen Kaisertum immer auch Herrscher über die weströmischen Gebiete, de facto aber war damit offensichtlich, dass die römische Herrschaft im Westen beendet war.

Man kann allerdings mit guten Gründen anführen, dass die Vorgänge des Jahres 476 eher eine symbolische Bedeutung hatten. Der Untergang des weströmischen Reichs vollzog sich über Jahrzehnte, einen ersten Höhepunkt erreichend mit der katastrophalen Niederlage des römischen Heeres bei Adrianopolis 378 n. Chr. und sich fortsetzend mit Plünderungen Roms und immer neuen Wellen von Völkern aus dem Norden, die ins römische Reich einbrachen.

Misslungene Integration

Die komplexen Vorgänge in der Spätantike, die zum Zerfall des römischen Reichs führten, wurden im Laufe der Zeit in tausenden von Abhandlungen thematisiert, es ist ein weites Feld. Aber zu welchen Ergebnissen auch immer die einzelnen Autoren gelangten, es besteht kein Zweifel darüber, dass die um 375 n. Chr. einsetzende Völkerwanderung, wenn nicht die Ursache, so doch zumindest der Auslöser des römischen Zusammenbruchs war.

Uns ist die Darstellung eines Zeitzeugen erhalten geblieben, der den Beginn der für das römische Reich fatalen Ereignisse festgehalten hat. Ammianus Marcellinus (geb. um 330, gest. um 395) war einer der letzten bedeutenden Historiker in lateinischer Sprache, sein Geschichtswerk endet mit der Schlacht bei Adrianopolis. Ammianus beschreibt anschaulich, welcher Druck in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts bereits auf den Grenzen des römischen Reichs lastete[1]:

„Zu dieser Zeit bliesen im ganzen römischen Erdkreis die Signalhörner zum Kriege, und die aufgescheuchten wildesten Völker durchstreiften die ihnen am nächsten gelegenen Grenzgegenden. Die Alemannen verwüsteten gleichzeitig Gallien und Rätien, die Sarmaten und Quaden Pannonien, Pikten und Sachsen sowie Schotten und Attacotten erschütterten Britannien mit unablässiger Bedrohung; die Austorianer und andere Maurenvölker drangen heftiger als gewöhnlich in Afrika ein, und Thrakien verheerten die Räuberscharen der Goten.“

Nachdem er die Hunnen als „Ursprung der verschiedenen Katastrophen, welche das Wüten des Kriegsgottes, alles im Gemenge mit ungewöhnlichen Bränden in Bewegung setzte“, identifiziert hat, schilderte er, wie an der Donau eine als Terwingen bezeichnete Fluchtgruppe aus gotischen Kriegern und zivilem Anhang um Einlass in das römische Reich bat, um dort siedeln zu können und vor den Hunnen geschützt zu sein. Mit der klaren Absicht, die eigene militärische Schlagkraft durch sie zu erhöhen, wurde den terwingischen Goten erlaubt, über die Donau zu setzen, das war wohl noch im Jahre 376:

„Mit der Erlaubnis des Kaisers erhielten sie daher die Möglichkeit, die Donau zu überqueren und Teile Thrakiens zu besiedeln und zu gewinnen, und wurden bei Tag und Nacht haufenweise mit Schiffen, Kähnen und ausgehöhlten Baumnachen übergesetzt; einige versuchten auch, durch den äußerst gefährlichen Strom herüber zu schwimmen, der durch die häufigen Regenfälle noch angeschwollen war, wobei viele wegen des dichten Gedränges bei dem Versuch, gegen die Strömung anzukämpfen, ertranken.“

Die Integration der Goten in Thrakien misslang allerdings. Die Goten litten Hunger und wurden außerdem von korrupten Beamten ausgenutzt und schikaniert, so dass sie schließlich begannen, ihren Lebensunterhalt durch Überfälle und Plünderungen außerhalb ihres zugewiesenen Siedlungsgebiets zu sichern. Ursprünglich dazu ausersehen, die römischen Grenzen an der Donau zu schützen, wurden sie zur Gefahr für die römische Bevölkerung.

Offen zur weiteren Plünderung

Bis 378 eskalierte die Angelegenheit so weit, dass Flavius Valens, der Kaiser der römischen Osthälfte, mit seinem Heer der gotischen Kampfgruppe, die durch greutungische Goten (aus den Greutungen wurden später die Ostgoten) und iranische Alanen verstärkt wurde, bei Adrianopolis entgegentrat. Der Angriff war überhastet, weil Valens den Gegner unterschätzte und auf einen schnellen und leichten Sieg spekulierte, der sein Ansehen, vor allem in Konkurrenz zu seinem westlichen Mitkaiser Gratian, gesteigert hätte.

Die Entscheidung in dieser Schlacht brachten die greutungisch-gotischen und alanischen Reiter, die die römische Reiterei in die Flucht trieben und damit die Flanken des römischen Heeres öffneten. Die Ordnung im römischen Heer brach völlig zusammen, so dass auch der Kaiser selbst in den Untergangsstrudel geriet:

„Erst die Nacht, die kein Mondlicht erleuchtete, beendete die niemals ersetzbaren Verluste, die den römischen Staat teuer zu stehen kamen. Bei der ersten Abenddämmerung stürzte der Kaiser mitten unter den gemeinen Soldaten, wie zu vermuten ist, – denn zugegebenermaßen hat niemand versichert, das gesehen zu haben oder dabei gewesen zu sein-, von einem Pfeil lebensgefährlich verwundet, nieder, hauchte bald darauf seinen Geist aus und verstarb und wurde danach nirgends wieder aufgefunden. Da einige wenige Feinde nämlich noch lange an diesen Stätten verweilten, um die Toten auszuplündern, wagte keiner der Flüchtlinge oder Anwohner, dorthin zu gehen. (…).

Andere berichten, Valens habe seinen Geist nicht sofort ausgehaucht, sondern sich mit wenigen Leibwächtern und Eunuchen in ein nahegelegenes, zweistöckiges Landhaus zurückgezogen, dessen Stockwerke meisterhaft zusammengefügt waren, und während er von unerfahrenen Händen gepflegt wurde, sei er von Feinden umzingelt worden, die nicht wussten, wer er war, und deshalb sei er einer entehrenden Gefangenschaft entgangen.“

Der römische Kaiser des Ostens – so beschreibt Ammianus es in seiner zweiten Version – verbrannte schließlich jämmerlich, als die Belagerer ungeduldig wurden und das Haus anzündeten. Sollte dieser Bericht zutreffen, wäre der Tod dieses glücklosen Kaisers geradezu ein Sinnbild für die weiteren Ereignisse, die nun das Reich immer mehr in Bedrängnis brachten.

In der Schlacht bei Adrianopolis wurden 20.000 römische Soldaten getötet, zwei Drittel des römischen Bewegungsheeres im Osten. Es wurden Vergleiche zu den Niederlagen bei Cannae oder im Teutoburger Wald gezogen. Der Osten hatte damit kein intaktes Heer mehr, die Donau-Provinzen waren nun offen zur weiteren Plünderung. Die Donaugrenze bekamen die römischen Truppen seitdem nie mehr wirklich unter Kontrolle.

Und auch wenn die späteren römischen Herrscher, vor allem Kaiser Theodosius I., der Situation zwischenzeitlich wieder Herr werden konnten, war die Schockwirkung im römischen Reich ungeheuer groß. Heiden und Christen beschuldigten sich gegenseitig, durch ihr jeweiliges religiöses Verhalten den göttlichen Beistand für das römische Volk verwirkt zu haben. Die Signalwirkung auf alle Volksstämme von außerhalb, ihr Glück durch Zuwanderung in das wankende Reich zu versuchen, war beträchtlich, wobei die Völkerschwärme, die nun verstärkt in das Reich eindrangen, es eigentlich nicht zerstören wollten, sondern nur an seinem Wohlstand teilhaben.

Wohlstand gegen Kriegergesellschaften

Die Verluste bei Adrianopolis wogen schwer, die Römer hatten in immer größerem Maße Probleme, Soldaten zu rekrutieren, und die Barbarisierung des römischen Heeres beschleunigte sich. Der Zerfallsprozess des römischen Reichs schritt nun voran. Allerdings konnte der Osten, auch begünstigt durch die bessere Lage, sich letztendlich halten, es war das römische Westreich, das nun unerbittlich zerfiel.

Im Jahre 406 erzwangen Vandalen, Sueben und Alanen den Rheinübergang nach Gallien, 410 plünderten die Westgoten (hervorgegangen aus den terwingischen Goten) unter Alarich Rom. In der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 konnten der weströmische Feldherr Aetius die Hunnen nur noch mit Hilfe der mit den Römern verbündeten Völker der Westgoten, Franken, Sarmaten und Alanen abwehren, Rom hatte militärisch sonst nichts mehr anzubieten. Im Jahre 455 plünderten die Vandalen, vom inzwischen eroberten Nordafrika kommend, Rom erneut, ohne auf große Gegenwehr zu stoßen. Und 476, wie schon angemerkt, setzte der germanische Heermeister Odoaker den letzten weströmischen Schattenkaiser einfach ab.

Der Untergang des römischen Reichs im Verlauf der antiken Völkerwanderung durch Zerfall seiner Westhälfte und Bildung selbstständiger germanischer Königreiche hat seit jeher nach einer Erklärung verlangt – und die Diskussion ist immer noch nicht abgeschlossen. Der Althistoriker Alexander Demandt zählt in seinem Buch „Der Fall Roms“ (2. Auflage, München 2014, in der Folge FR) insgesamt 227 Faktoren, die zu verschiedenen Zeiten als Grund für den Niedergang Roms angeführt wurden, darunter etwa auch das „Gladiatorenwesen“, ein „schlechtes Schulwesen“, die „Seelenbarbarei“ oder „Seuchen“.

Manche Interpretatoren der Geschichte lassen den Untergang Roms schon mit Augustus beginnen, also der Einführung des Kaisertums ab 31 v. Chr., und für manche endete das römische Reich erst 1453 n. Chr. mit der Eroberung Konstantinopels durch die Türken. Demandt aber versteht den „Fall Roms“ als „Kürzel für die politische Auflösung des Reichsverbandes im 5. Jahrhundert und den damit verbundenen Niedergang der antiken Kultur“ (FR, S. 174).

Für Demandt sind vor allem zwei Faktoren für Roms Fall verantwortlich: ein immer stärker werdender Druck auf die Außengrenzen des Imperiums, der auf eine sich immer mehr ausbreitende Einstellung im Innern des Reiches stieß, die Reichsverteidigung zugunsten von Wohlstand und Wohlleben zu vernachlässigen. Einem Staat, der seine Prosperität über seine Kampfkraft stelle, könne man keinen Nachbarn wünschen, der die Prioritäten umgekehrt setze (FR, S. 490). Die römische Bevölkerung sei nicht in der Minderzahl gegenüber den eindringenden Germanen gewesen, sondern sie habe nicht mehr kämpfen wollen[2]:

„Was soll also das Insistieren auf dem angeblichen Bevölkerungsmangel Roms? Entscheidend sind nicht Quantitäten, sondern Qualitäten. Die römische Gesellschaft war ganz durch ökonomische und kulturelle Tätigkeiten geprägt, kaum mehr als ein Prozent der Gesamtbevölkerung diente im Heer. Die Germanenstämme hingegen waren Kriegergesellschaften, in denen jeder erwachsene Mann das Schwert zu führen verstand. Das verschob die Zahlenverhältnisse so weit, dass die Germanen den ‚Römern‘ im Felde auch quantitativ überlegen waren, (…).

(…). Ein Staat, für den dessen Bürger nicht kämpfen, ist dem Zerfall geweiht. Das ist keine Frage; die Frage ist, ob es schade um ihn ist.“ (FR, S. 578/579)

„Wenig bezeichnet den Unterschied in der Haltung der beiden Völker besser als die wechselseitige Verwendung der Kriegsgefangenen. Die Römer haben gefangene Barbaren überwiegend ins eigene Heer eingereiht, um Bauern zu sparen, während die Germanen viele Tausende von römischen Gefangenen in der Produktion verwendet haben, um eigene Leute für den Krieg zu gewinnen. Dieser Gegensatz in der Einstellung zum Kampf erklärt es, weshalb die immer ungeheure numerische Überlegenheit der Gesamtbevölkerung im Reich gegenüber den Barbaren sich nicht ausgewirkt hat. Es ist unser modernes demokratisch-egalitäres Menschenbild, das uns die Einsicht darin versperrt, wie unterschiedlich Interessen und die dafür eingesetzten Mittel sein können. Je weiter sich die Scheu vor den Waffen ausbreitet, desto weniger Waffen genügen, den gesamten Rest zu terrorisieren. Die politische Geschichte des Altertums ist immer von wohlbewaffneten und gutgeführten Minderheiten bestimmt worden.“ (FR, S. 589)

Die Grenzen der Integrationsfähigkeit

Lange Zeit konnte das Reich zwar durch Integration kleinerer Verbände nördlicher Völker, die in die Grenzabwehr eingebunden wurden, seine Stellung halten. Aber die neuen germanischen Großverbände z. B. der Alemannen, der Franken oder der Goten wurden zu viel gefährlicheren Gegnern Roms. Die Angriffe bzw. Zuwanderungsforderungen der zunehmend besser organisierten Germanen haben die Schwäche des römischen Imperiums schonungslos offen gelegt, und es so schließlich zu Fall gebracht. Denn „die Integrationsfähigkeit eines zivilisatorisch noch so überlegenen, politisch noch so liberalen Systems findet irgendwo eine Grenze“ (FR, S. 595). Diese Bemerkung Demandts passt in jede Zeit, auch in unsere.

Es gibt für Demandt außerdem keinen Zweifel, dass mit dem Fall Roms ein schwerwiegender und epochaler Einschnitt stattgefunden hat, der nicht wegdiskutiert werden kann:

„Die Rede von Kontinuität setzt das Eingeständnis von Diskontinuität im gleichen Zusammenhang voraus. Niemand früge danach, welche Traditionen in der Völkerwanderung erhalten geblieben sind, wenn nicht klar wäre, dass mindestens eine wesentliche von ihnen verloren gegangen ist: die überkommene politische Ordnung. Die Kontinuitätsforschung ist bloß die Kehr-Seite des Epochenbewusstseins. Sie kehrt die Reste zusammen, nachdem die Germanen politisch reinen Tisch gemacht haben.“ (FR, S. 241)

Mit dieser Anmerkung wendet er sich gegen die Theorie von einer bloßen Transformation der antiken in die mittelalterliche Welt, die in den letzten Jahren in der Geschichtswissenschaft vorherrschend war. In der Wikipedia wird die Transformationstheorie als weit verbreitet in der gegenwärtigen Forschung bezeichnet[3]. Es sei irreführend, von den politischen Veränderungen überhaupt auf einen Untergang Roms zu schließen. Vielmehr lasse sich in kultureller, sozialer und ökonomischer Hinsicht stattdessen ein langsamer Wandlungsprozess beobachten, an dessen Ende sich das Imperium Romanum in die Welt des Mittelalters transformiert habe, ohne dass radikale Brüche zu konstatieren seien.

Man kann dies als politisch korrekte Theorie über die „Veränderungen“ in der römischen Welt in der Völkerwanderungszeit beschreiben, passend zu unserer neuen globalisierten Zeit. Diese Sichtweise kehrt die bisherige geradezu um: Es gab gar keinen Untergang der antiken Zivilisation, sie wurde lediglich transformiert. Der Althistoriker und Archäologe Bryan Ward-Perkins nennt das spöttisch „eine viel tröstlichere Vorstellung vom Untergang des Römischen Reiches“ (Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation, Darmstadt 2007, S. 14; in der Folge URR). Wörter wie „Verfall“ und „Krise“, die an Probleme am Ende des Imperiums denken ließen und bis in die 1970er Jahre weit verbreitet gewesen seien, seien zum größten Teil aus dem Vokabular der Historiker verschwunden, um durch neutrale Begriffe wie „Übergang“, „Wandel“ oder „Transformation“ ersetzt zu werden. „Integration“ sei nun das große Modewort; es habe eigentlich keinen Bruch durch eine gewaltsame germanische Machtübernahme gegeben, sondern nur Integration und Assimilation.

Der Blick in Roms Spiegel

Ward-Perkins stellt diese Sicht auf das Ende der Antike, die Gewalt, Zerstörung und tatsächlichen Verfall der antiken Kultur in der Zeit der Völkerwanderung durch begriffliche Neufestlegungen ausblenden will, vehement in Frage. Die Gewalttätigkeit dieser Umbruchszeit und der zivilisatorische Niedergang, der damit einherging oder darauf folgte, kann sowohl in schriftlichen Quellen wie anhand archäologischer Untersuchungen (z. B. der Keramikproduktion oder des Umlaufs von Münzen) nachgewiesen werden. Das Fazit von Ward-Perkins am Schluss seines Buches lautet:

„Ich denke auch, es liegt eine wirkliche Gefahr für die Gegenwart in einer Vorstellung der Vergangenheit, die sich explizit vornimmt, jede Krise und jeden Niedergang auszuradieren. Das Ende des römischen Westens erlebte Schrecken und Verwerfungen einer Art, von der ich ehrlich hoffe, sie nie durchleben zu müssen; und es zerstörte eine komplexe Zivilisation, wobei die Bewohner des Westens auf einen Lebensstandard, der typisch für prähistorische Zeit war, zurückgeworfen wurden. Die Römer waren vor dem Untergang genauso wie wir heute sicher, dass ihre Welt für immer im Wesentlichen unverändert bleiben würde. Sie lagen falsch. Wir wären gut beraten, nicht genauso selbstgefällig zu sein.“ (URR, S. 190)

Damit soll nun das Thema in die Gegenwart geholt werden. Ein komplexes Ereignis, wie den Zerfall des römischen Reiches in der Völkerwanderung auch nur zu skizzieren, ist nicht einfach und führt auch zwangsläufig zu Vereinfachungen. Trotzdem muss der Vergleich zu aktuellen Geschehnissen gestattet sein, denn oft liest man nun den Begriff „neue Völkerwanderung“, um den Zustrom vor allem afrikanischer und nahöstlicher Flüchtlinge nach Europa im Jahre 2015 zu beschreiben. Wie vergleichbar sind die heutigen Vorgänge mit den damaligen Geschehnissen vor ca. 1600 Jahren? Die „alte“ Völkerwanderung in der Antike führte ohne Zweifel in das europäische Mittelalter, und wohin führt die „neue“?

Im journalistischen Mainstream ist man sich der Problematik der Begriffsverwendung teilweise bewusst, der Journalist Wolfgang Büscher diskutiert den Begriff „Völkerwanderung“ Ende August dieses Jahres in einem Artikel, sieht aber letztendlich vor allem die Unterschiedlichkeit der Vorgänge. Büscher sieht große Defizite bei der Handhabung des Asylrechts in Deutschland, aber eine Begrenzung des Zuzugs von Flüchtlingen sieht er offenbar als unmöglich an. Seine Beschreibung der aktuellen Fluchtbewegungen hat insgesamt nichts Beruhigendes an sich[4]:

„Diese Flucht jetzt scheint entgrenzt, sie hat nichts Lokales, Berechenbares, Endliches mehr – eine Weltflucht. Albanien, Syrien, Irak, Somalia, Südsudan, Mali, fast egal von wo, in Scharen brechen die Leute auf, als liefe ein Losungswort durch die scheiternden Staaten und Chaoszonen der Erde: Nach Europa!

(…).

Bisherige Formen der Bewältigung greifen nicht mehr – und die alten Begriffe auch nicht. Das Wort ,Flüchtlingswelle’ scheint plötzlich zu klein. Ist das noch eine Welle, die da heranrollt, oder ist es das Meer? Endet gerade eine Epoche? Werden unsere Kinder in einem anderen Land leben?“

Der Vergleich mit der Vorgängen in der Spätantike, der großen Völkerwanderung drängt sich geradezu auf:

„Plötzlich ist das Wort da. In Kommentaren, Debatten, Analysen. Es gibt dem, wovor wir so ratlos stehen, einen Namen, es hat eine Antwort parat auf die bange Frage: Wo soll das alles enden, etwa so wie damals, als Rom unterging unter dem Ansturm barbarischer Völker? Denn dies ist der ferne Spiegel, in den wir schauen: Roms Ende.“

Heute vor allem individuelle Fluchtgründe?

Dass alles so ende, wie damals in der antiken Völkerwanderung, sei nun einmal unsere Angst. Bei Angst helfe hinschauen, und was sei zu sehen? Eine explosive Mischung aus Not und Gier. Oder wer es vornehmer ausdrücken wolle: aus Not und Hoffnung. Und so beschreibt er die antike Völkerwanderung:

„Interessant wird es, wenn es wild wird. Wenn Völker ungebeten wandern – wobei die ,Völker’ alles andere als homogene Ethnien sind, es sind sehr gemischte Heerhaufen, bestehend aus 10.000 und mehr Kriegern, dreimal so vielen Frauen und Kindern, dazu Wagen und Vieh, zusammengehalten wird der bunte Zug von einem ehrgeizigen Wanderkönig und von dem Ziel, reiche Beute zu machen, zu plündern oder fruchtbares Land zu nehmen.“

Aber so „interessant“ wurde es nun einmal, wobei die zeitgenössischen Römer es in ihrer Mehrheit sicherlich nicht interessant fanden, sondern eher katastrophal. Büscher versucht nun den Unterschied zur heutigen Völkerwanderung weiter herauszuarbeiten:

„Die heute in Asien und Afrika losziehen, tun es jeder für sich, allenfalls in Kleingruppen. In der Spätantike zog niemand allein nach Rom, es sei denn, er wurde als Garantiegeisel eines Bündnisvertrags mitgeliefert. Der individuelle Flüchtling unserer Tage flieht aus seinen individuellen Gründen.“

Wolfgang Büscher zählt im Weiteren einige der heutigen individuellen Gründen für die massenhafte Migration auf: Verfolgung durch islamische Fanatiker oder blutrünstige Diktatoren; Perspektivlosigkeit im eigenen Land oder im bisherigen Flüchtlingslager; Erwartungen der eigenen Familie, als deren Sendboten er fungiert; Benutzung Europas als Ruheraum für islamistische Kämpfer; Flucht als billiges Reisen durch Europa. Schon gar nicht mehr genannt als Fluchtgründe wurden die vielen Kriegsgebiete im nicht-arabischen Raum, die es ja auch noch gibt.

Aber was sagt die Aufzählung individueller Gründe eigentlich aus? Natürlich zogen auch in der Spätantike weiterhin Menschen „allein“ (das heißt wohl meistens in einem kleinen Familienverband) in das römische Reich, lange Zeit war Rom immer noch ein Magnet für Menschen, die – aus ganz individuellen Gründen – versuchten, sich in die spätantike Gesellschaft zu integrieren. Den umherziehenden Heerhaufen der antiken Völkerwanderung schlossen sich Angehörige der verschiedensten Völker an, und auch bisherige Bewohner des römischen Reiches waren dabei: entlaufene Sklaven, entrechtete Bauern, bisherige Söldner, die den Dienst quittierten.

Alle hatten sehr wahrscheinlich ihre individuellen Gründe, aber alle hatten ein gemeinsames Ziel: sie waren auf der Suche nach einem besseren Leben. Die, die von außen kamen, wollten das durch Einlass in das römische Reich erzwingen. Hier kann man vergleichen, und das muss auch zulässig sein: die EU (vor allem Schweden, Österreich und Deutschland) ist das römische Reich der heutigen Flüchtlinge, ob sie nun nur auf Zeit oder für immer bleiben wollen. Die EU wird zum Fluchtziel einer unglaublich großen Zahl von Menschen, wir erleben die moderne Völkerwanderung.

Ignoranz und falsche Vergleiche

So richtig es ist, sich bewusst zu machen, dass es in der antiken Zeit zu einer Wanderung bewaffneter und militärisch organisierter Heerhaufe kam und dass hier der Unterschied zu den heutigen Vorgängen liegt, so falsch wäre es aber auch, auf jede Vergleichbarkeit zu verzichten. Auch wenn die Grundgegebenheiten der neuen Völkerwanderung anders sind, weil die Migranten einzeln bzw. in der Familie, aus individuellen Gründen und eben nicht in militärisch organisierten Großgruppen kommen, es ist die große Zahl, die entscheidend ist.

Das römische Weltreich ist in seinem Westteil zusammengebrochen, weil die große Zahl der Menschen, die sich Einlass verschaffen konnten, nicht mehr integrierbar war. Es kam zur Desintegration, zur Bildung eigener Reiche, über die kein römischer Kaiser mehr die Oberhoheit hatte. Es ist eine Binsenwahrheit, dass sich Geschichte en detail niemals wiederholt, aber ebenso kann man durch alle Zeiten beobachten, wie Staatswesen durch einen zu hohen Einwanderungsdruck überfordert werden und ganz oder teilweise zusammenbrechen.

Es stellt sich also im Rahmen eines solchen Vergleichs die Frage an den Teil der Gesellschaft, z. B. Politiker oder Journalisten, die die aktuelle Flüchtlingspolitik der amtierenden Kanzlerin für richtig halten und die Integrierbarkeit massenhaft zugewanderten Flüchtlingen in Deutschland als machbar postulieren, wie das mit dem Wohlergehen der indigenen Bevölkerung in Einklang zu bringen ist.

Und manchmal hört man gerade bei Politikern des linken Spektrums eine klammheimliche Freude heraus, wenn davon die Rede ist, dass Deutschland sich nun verändere, ob es das wolle oder nicht. Auch die Verwendung falscher Vergleiche ist in diesen Kreisen sehr beliebt. Schließlich, so heißt es, habe man ja nach dem zweiten Weltkrieg auch die Integration von Millionen Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten geschafft. Gerade dieser Vergleich ist natürlich Unsinn, wie man in einem Artikel über die Integration der deutschen Flüchtlinge in Deutschland von Michael Stürmer erfahren kann[5]:

„Man rückte zusammen auf engstem Raum, aber man teilte dieselbe Sprache, ähnliche Erinnerungen, Sitten und Gebräuche, Traumata und offene Wunden, dazu über Jahrhunderte geübte Sozialdisziplin, Wertmaßstäbe und Mentalitäten und dazu die Fähigkeit, in Verschiedenheit zu leben. Nichts davon gilt für die Neuankömmlinge heute.“

In der neuen Völkerwanderung sei die Masse der Ankommenden nicht auf die Gesellschaft, die sie aufnimmt, vorbereitet:

„Hunderttausende junger Männer von weither, viele traumatisiert, alle entwurzelt und, wenn sie im gelobten Land endlich ankommen, schwer enttäuscht, weil niemand ihre Hoffnungen erfüllen kann, sind nicht leicht zu integrieren: Je mehr von ihnen auf ihr vermeintliches und oft nicht tragfähiges Recht pochen, desto weniger Integration.“

Stürmer hält sich zurück mit weiteren Aussagen, in der Bevölkerung sind aber Ängste darüber, dass die Sicherheitslage immer brüchiger wird, gang und gäbe. Es ist auch nicht völlig aus der Luft gegriffen, sich im Gefolge eines sich ausdehnenden Flüchtlingsansturms die immer weitere Verbreitung von No-go-Areas und darin „herrschender“ Gruppen verschiedenster ethnischer Herkunft in unseren Städten vorzustellen.

„Alles wird gut“

Gehen wir zum Schluss wieder ein auf den Artikel von Wolfgang Büscher, der leider ein signifikantes Beispiel dafür ist, wie sich Politik und Journalismus im Deutschland dieser Tage in einander verklammert haben. Sein Ausblick auf die weitere Entwicklung, die seiner Meinung nach unabdingbar zu einer veränderten Gesellschaft führen wird, ist so fatalistisch wie die Haltung von Angela Merkel, die der Meinung ist, der Herrgott habe uns diese Aufgabe jetzt auf den Tisch gelegt, was eines der vielen Synonyme der Kanzlerin für die Alternativlosigkeit der von ihr eingeschlagenen Politik ist.

Gegen Ende seines Artikels schreibt Büscher:

„Das Wandern der Völker tat seine Wirkung, das Wandern der Millionen heute tut sie wahrscheinlich auch. Nichts bleibt, wie es ist. Macht und Kriegsglück wogen im fünften, sechsten Jahrhundert hin und her, aber am Ende ist die Welt eine andere. Oder heute die Stadt.“

Dieses ganze Zitat, gruppiert um die Wendung „wahrscheinlich auch“, könnte man in die ewige Bestenliste politisch korrekter Untertreibungen aufnehmen. Wolfgang Büscher nennt als Beispiel für die kommende Veränderung die verschiedenen Einwanderungsschichten der Stadt Duisburg, die nun um die neue Schicht der arabischen Flüchtlinge erweitert wird. Es wird völlig außer Acht gelassen, dass es sich bei den vorangegangenen Einwanderungsschichten um Arbeitsmigration gehandelt hat, das ist ein gravierender Unterschied. Büscher verbittet sich aber jedwede Weltuntergangsreden. Deutschland werde schon nicht untergehen. Deutschland, vor allem seine Großstädte werden sich eben verändern.

Fast möchte man meinen, er formuliert im Vorgriff auf die kommenden Ereignisse eine Art Transformationstheorie für die anstehenden Umbrüche: Alles wird gut und nicht so schlimm, unsere Gesellschaft wird nur im Rahmen der neuen Völkerwanderung in einen anderen Zustand transformiert. Die bestehenden Gesellschaften in Europa müssen lediglich weiter hilfsbereit sein und dafür sorgen, dass eventuelle Fehlentwicklungen entsprechend gesteuert werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass man sich über die Beherrschbarkeit bestimmter Vorgänge irrt.

Sicherlich hatten auch die römischen Herrscher lange Zeit die Vorstellung von einer Steuerung der Vorgänge an der Grenze und im Inneren des Reichs. Aber genau das krachende Scheitern einer „Intergrationspolitik“ in der Spätantike unter dem beständigen Druck immer neuer Einwanderungen beschreibt Wolfgang Büscher ja auch ziemlich anschaulich in seinem Artikel (Hervorhebungen von Grinario):

„Nicht mehr die militärisch, technisch und zivilisatorisch haushoch überlegenen Römer sind es, die von Zeit zu Zeit hinter ihrem Limes hervorkommen und Strafexpeditionen ins Barbaricum unternehmen. Jetzt sind es mächtige Barbarenfürsten, die dem Kaiser das Schutzgeld diktieren, das es ihn kostet, nicht von ihnen überrannt und geplündert zu werden. Und irgendwann liegt zumindest Westrom offen für jedermann da.

Alle Völker streben nun ins Imperium. Alle außer den Hunnen wollen römisch werden, viele eindringende Völker nehmen den katholischen Glauben an. Noch im Untergang leuchtet Rom.

Vorstellungen vom Untergang

Wie muss man Büscher hier verstehen? Haben die Römer einfach Pech gehabt, irgendwann war das Reich überfordert und alles ging seinen schicksalsmäßigen Gang? Er will den Untergang des weströmischen Reichs im Gefolge der Völkerwanderung jedenfalls dezidiert nicht als Maßstab für mögliche Entwicklungen in heutiger Zeit zulassen.

Dieser Ansicht muss man nicht folgen. Zum einen kann niemand heute wirklich wissen (auch gut gebildete und engagierte deutsche Journalisten nicht), welche sich gegenseitig verstärkende Faktoren in Richtung einer Destabilisierung eine in kurzer Zeit vollzogene Einwanderung von Millionen Menschen aus einem fremden Kulturkreis in einem europäischen Industriestaat auslösen wird. Die Ergebnisse der immerhin über Jahrzehnte hinweg erfolgten Einwanderung vor allem von Moslems in Frankreich z. B. sind nicht sehr ermutigend. Solange es also Möglichkeiten zur Steuerung gibt – und noch hätte man sie -, sollte man sie auch nutzen. Zumindest zeigt uns doch die antike Völkerwanderung auf, was passiert, wenn die Dinge unkontrollierbar werden.

Zum anderen kann der Begriff „Untergang“ sehr unterschiedlich definiert werden. Es muss nicht der Staat sein, der untergeht, es reicht doch schon, wenn es die bisherigen Standards des Zusammenlebens sind, soziale Errungenschaften, eine von allen geschätzte Heimat. Für viele der heute lebenden Deutschen wäre deshalb eine Transformation unseres Staates in eine Art Drittweltstaat durchaus mit der Vorstellung vom Untergang verbunden.

Es könnte zum Beispiel ein Staat sein, in dessen kleineren Teil die Wohlhabenden und ihr Personal sowie die von ihnen ausgehaltenen Kostgänger in ihren abgeschotteten und rund um die Uhr bewachten Wohnkolonien gut leben, während die Angehörigen der Mittel- und Unterschicht (aber braucht es dann diese Differenzierung noch?) sich im immer unregierbarer werdenden größeren Rest-Teil des Landes irgendwie durchschlagen müssen.

Beherrscht von kriminellen Clans?

Es wäre ein Staat, in dem nicht nur in den Großstädten brutale und meist bewaffnete Familienclans und Banden – es ist dann noch müßig zu unterscheiden, ob es sich um nicht integrierte Migranten oder sozial desintegrierte kriminelle Herkunftsdeutsche handelt -, die durch keine Staatsmacht mehr zu kontrollieren sind, den Ton angeben. Auch die ländlichen Regionen werden von diesem Niedergang nicht verschont bleiben. Die Polizei hat dann aufgegeben und kümmert sich vor allem darum, ob auch alle Bürger die Verkehrsvorschriften einhalten, und gibt Kurse über Sicherheitsmaßnahmen für die Wohnung.

Sicherlich ist das ein Worst-Case-Szenario, über dessen Wahrscheinlichkeit des Eintretens man streiten kann, andererseits haben auch die Römer sich 378 nicht vorstellen können, welch rasanter Zerfall der westlichen Reichshälfte mit dem Eindringen der Goten einsetzen würde. Und trotzdem ist es dann so geschehen. Es wäre zu einfach, Prognosen über negative Entwicklungen immer als haltlose Übertreibungen zu relativieren. Es gibt jetzt schon einige Ansätze einer Entwicklung auch in Europa hin zu den Zuständen in vielen Entwicklungsländern[6]. Im Rückblick auf einen solchen bitteren Niedergang werden unsere Nachfahren dann aber kaum auf die Idee kommen, davon zu schwärmen, wie Europa noch im Untergang geleuchtet hat.

 

Anmerkungen

[1] zitiert immer nach Goetz/Patzold/Welwei, Die Germanen in der Völkerwanderung, zweiter Teil, Darmstadt 2007

[2] Alexander Demandt, „Der Fall Roms“, 2. Auflage, München 2014

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Untergang_des_R%C3%B6mischen_Reiches

[4] http://www.welt.de/politik/deutschland/article145532343/Ist-das-die-neue-Voelkerwanderung.html

[5] http://www.welt.de/debatte/kommentare/article147425434/Die-Angst-vor-dem-Fluechtlingsansturm-ist-berechtigt.html

[6] http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2015/07/27/banden-krieg-in-schweden-in-malmoe-explodieren-handgranaten/