Europas römische Bestimmung (II)
Auch vor 2000 Jahren im spätrepublikanischen Rom wurden Debatten über die eigene Krise und Lösungswege aus dieser Krise abgehalten. Am Ende zerfiel das Reich. Eine Besprechung des Buches „Auf dem Weg ins Imperium” in drei Teilen*.
Im ersten Teil der Besprechung zu David Engels Buch „Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen“ (kurz: AWI) wurden Engels Überlegungen über eine umfassenden Identitätskrise der Europäische Union geschildert. Da die Ähnlichkeiten mit der Römischen Republik der Spätzeit für den Althistoriker Engels evident sind, vergleicht er diese beiden Kulturen in ihrer kritischen Phase. Deshalb wurde auch die krisenhafte Entwicklung im spätrepublikanischen Rom im ersten Teil kurz geschildert.
David Engels führt, wie schon angemerkt den Vergleich über 12 Krisenindikatoren durch. Einer davon ist „Toleranz“. Diesen Indikator behandelt er vor allem im Zusammenhang mit dem Thema „Masseneinwanderung“ und kommt zu dem Schluss:
„Die römische wie die europäische Identitätskrise hängen also teilweise mit einer ebenso raschen wie tief greifenden ethnischen Umordnung der Gesellschaft zusammen. Der übermäßige Bezug auf die ‚Toleranz‘ zur Begründung einer immer ‚offeneren‘ Gesellschaft ruft bei den Einheimischen zunehmend ein Gefühl der Unzufriedenheit hervor, da die Überfremdung an die Grenzen des Erträglichen stößt.“ (AWI, S. 98)
Zuwanderungs-Problem
Inhaltsverzeichnis
Im spätrepublikanischen Rom entwickelte sich erst durch die Zuwanderung verarmter Römer und Italiker, dann durch den „massiven Zustrom von Sklaven aus den barbarischen Randgebieten des Reiches, Kriegsgefangenen, Kaufleuten oder sonstigen Immigranten, welche in Rom ihr Glück suchten“ (AWI, S. 93) ein Großstadtproletariat, was den Niedergang der bürgerlichen Identität und Solidarität besiegelte:
„[D]ie alte römische Bürgerschaft entwickelte sich zu einer diffusen Masse ohne inneren Zusammenhalt und ohne gemeinsame, über Brot und Spiele hinausgehende Ideale.“ (AWI, S. 93)
An diesem Punkt sieht David Engels auch die Entwicklung in der EU durch die stattgefundene Masseneinwanderung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angekommen. Es sei eine Gesellschaft in einem Stadium, in dem aus der Duldung des „Anderen“ dessen Idealisierung geworden sei, während „vorsichtige Selbstabgrenzung“ von den politischen Eliten inzwischen „mit einem Akt der Feindschaft“ verwechselt würde:
„[So] müssen selbst einfachsten Versuche, kollektive Identität überhaupt definieren zu wollen, als politisch unkorrekt erscheinen, da die entsprechenden staatlichen Institutionen sich nur noch für die Garantie der Autonomie des Einzelindividuums verantwortlich fühlen, nicht aber für das Überleben der durch sie ursprünglich gebildeten kulturellen Gruppierung.“ (AWI, S. 78)
Ein weiterer Krisenindikator für eine Gesellschaft ist für Engels die Religion, denn es sei wohl kaum zu bestreiten, dass die Religionen eine der ältesten und mächtigsten Integrationsfaktoren menschlicher Gesellschaft darstellten (AWI, S. 165). Zur Einschätzung der krisenhaften Entwicklung einer Gesellschaft ist die Entwicklung ihrer religiösen Gegebenheiten deshalb absolut notwendig. Religion ist für David Engels nicht ein Wert unter vielen anderen, eine Sache, die sich nur auf den Bereich einer „rein persönlichen geistigen Freizeitgestaltung“ reduzieren lässt, sondern sie hat in einer Gesellschaft die Funktion eines Fundaments, das erst den Rang aller sonstigen Werte einer Gesellschaft (wie z. B. Wohltätigkeit, menschliche Grundrechte, sittliche Erziehung) bestimmt und ihnen dauerhafte Gültigkeit verleiht:
„Der Niedergang der Religion ist daher ein weiteres bedeutendes Zeichen für die tiefe Krise der europäischen Gesellschaft und die auch ansonsten überall festzustellende Entsolidarisierung der staatlichen Einrichtungen mit ihrer kulturellen Vergangenheit.“ (AWI, S. 167)
Noch im 19. Jahrhundert hätte man die abendländische Zivilisation noch weitgehend mit dem Christentum europäischer Prägung gleichgesetzt, das endete aber mit dem 20. Jahrhundert. Nach den Weltkriegen und den grauenhaften, von totalitären Ideologien angerichteten Katastrophen sei es zur Ablehnung aller nicht universalistischen Werte gekommen. Engels sagt es so nicht, aber man könnte diesen Umdenkungsprozess wohl auch den Einstieg in ein Konzept globalistischer, die Denk- und Glaubensinhalte der Einzelgesellschaften überformender Werte nennen.
Abendländische Entschuldigungskultur
An anderer Stelle formuliert Engels sarkastisch, dass die Grundwerte der Europäischen Union durchaus den Rahmen für einen künftigen Weltstaat bilden könnten, aber eben keine spezifisch abendländisch-europäische Färbung mehr hätten (AWI, S. 64). Diese Entwicklung betraf nach Ansicht Engels auch die christliche Religion, von der sich speziell in Europa immer mehr Menschen abgewandt hätten:
„Gleichzeitig wie die Verbundenheit mit der eigenen Geschichte, der eigenen Kultur und dem eigenen Wesen entschwand somit auch ein weiteres bedeutsames europäisches Identitätsmerkmal aus der Liste der politisch korrekten Bezugsgrößen, und das, obwohl gerade die christliche Religion uns bis heute als eines der in der Forschung am häufigsten genannten Elemente zur Bestimmung europäischer Identität begegnet.“ (AWI, S. 168)
Engels nennt in diesem Zusammenhang mit diesem Niedergang der christlichen Religion in Europa auch das Aufkommen einer „abendländischen Entschuldigungskultur“, in der die Beschimpfung der kollektiven Vergangenheit (Kreuzzüge, Inquisition, Missionsarbeit in den Kolonien) zu einem etablierten Ritus geworden sei. Nimmt man einmal die Kreuzzüge als Beispiel, so hat sich im Gegensatz zum entschuldigungseifrigen Westen bisher noch keine Autorität des moslemischen Glaubens z. B. für die gewaltsame Unterdrückung des Hinduismus und des Buddhismus bei der Eroberung Indiens durch den Islam im Mittelalter entschuldigt; Schätzungen gehen von 80 Millionen Toten aus. Wohlgemerkt: David Engels hält solche Entschuldigungen für fern zurückliegende Ereignisse für nicht angemessen, er fragt sich allerdings, warum dieses Argument nicht auch für die christliche Religion und die europäischen Gesellschaften des Mittelalters Geltung habe, und sieht diese Einseitigkeit als klares Symptom der Krise.
Nach Ansicht Engels kann man einen geradezu schwindelerregenden Zerfall der religiösen Überzeugungen der indigenen europäischen Bevölkerung beobachten und das an den universellen Werten einer universellen Weltbürgergesellschaft ausgerichtete Verhalten der Staatsorgane tut ihr Übriges:
„Da es wegen des sogenannten Kulturchristentums durchaus möglich ist, sich als Europäer zu fühlen, ohne sich innerlich zum christlichen Glauben zu bekennen, es aber sehr schwierig ist, sich etwas als Teil der arabisch-muslimischen Welt zu begreifen, ohne dem Islam und seiner vielschichtigen Gesellschaftsordnung anzugehören, bedeutet die religiöse Neutralität der europäischen Institutionen in Wirklichkeit eine ungewollte Schwächung der einen und Stärkung der anderen Glaubensgemeinschaft. Und so ist denn als Folge der Herabstufung des Religiösen zu einer angeblich überwundenen geschichtlichen Etappe die Entstehung eines ungeahnten religiösen Synkretismus zu nennen, der sich in vielerlei Hinsicht nur mit dem spätrepublikanischen Rom vergleichen lässt (…).“ (AWI, S. 180)
Wachsender Vertrauensverlust
Im Rom der späten Republik hatten sehr viele Bürger nichts mehr mit der traditionellen römischen Staatsreligion zu tun. Während sich die Oberschicht humanistischen Philosophien wie den Stoikern oder den Epikureern zuwandte, mit Seneca wurde dann ein stoischer Philosoph Erzieher des jungen Kaisers Nero, huldigte die breite Masse des Stadtvolks neuen religiösen Kulten aus dem hellenistischen Osten, z. B. dem Kult der Magna Mater oder dem Isis-Serapis-Kult, in denen es vorwiegend um die persönliche Nähe zu einer Gottheit und das Heil des Einzelnen ging. Sowohl im Rom der späten Republik wie auch im heutigen Europa, so stellt Engels resigniert und leicht verbittert fest, führe das Postulat universalistischer Werte eben nicht zur humanistischen Aufgeklärtheit der Masse, sondern eher zu einem Rückfall derselben in einen „halb primitiven, halb spätzeitlichen Aberglauben“ (AWI, S. 195).
Als Abschluss zur Darstellung der Argumente David Engels über eine Vergleichbarkeit der unguten Entwicklung der heutigen EU mit der des spätrepublikanischen Roms soll noch der Krisenindikator „Freiheit des Einzelnen“ erwähnt werden. Die langfristige Absicherung der Freiheit des Einzelnen ist eine der Grundfunktionen jedes Staates. Darunter fällt auch die Fähigkeit eines Staates, die Freiheit seiner Bürger dauerhaft zu schützen. Engels stellt hier einen wachsenden Vertrauensverlust der Bürger in die Institutionen des eigenen Staates wie der EU fest:
„Dieses verloren gegangene Vertrauen in die persönliche Sicherheit bezieht sich vor allem auf zwei Felder: zum einen auf die Bekämpfung des Verbrechens im Einzelfall, und zum anderen auf die langfristige Aufrechterhaltung der Ordnung über die Gesamtheit des jeweiligen Staatsgebietes. Beide Bereiche sind in einer tiefen Krise.“ (AWI, S. 228)
David Engels nennt beispielhaft die Aufstände in den französischen Vorstädten im Jahre 2005 und merkt an, dass die Gefahr für die eigene Sicherheit auch in vielen europäischen Großstadtgebieten ein Thema sei, hätte er das Buch später geschrieben, wäre sicherlich das politische Phänomen PEGIDA in Deutschland in diesem Zusammenhang erwähnt worden.
Er bleibt aber insgesamt etwas undeutlich, wie sich dies mit dem spätrepublikanischen Rom vergleichen lässt. Engels sieht in beiden Staatsgebilden eine Zunahme der wirtschaftlichen Not, der Verelendung und des Verbrechens. Nur ist es ein weiter Weg von einem über Veranstaltungen und Wahlen gegen die Politik der aktuellen Regierung protestierenden Bürgertum hin zu einem von den politischen Eliten angezettelten Bürgerkrieg mit zehntausenden von Toten.
Beängstigende Perspektive
In Rom hatten die Bürger schließlich genug von der Republik und sehnten sich danach, dass endlich ein starker Herrscher über eine propagandistisch verschleierte Militärdiktatur die konkurrierenden Adligen in die Schranken verwies. Eine solche Entwicklung mit den heutigen Verhältnissen in der EU zu vergleichen, liegt nicht unbedingt auf der Hand. Es gibt eben auch Grenzen eines solchen Vergleichs.
Halten wir aber fest, dass in der Sicht David Engels auch für die EU die Gefahr besteht, dass sich angesichts rechtfreier Räume mitten in unserer Gesellschaft der Ruf nach einem starken Staat immer weiter verstärkt, in dem man unter Verzicht auf persönliche Freiheit wenigstens wieder in Ruhe und Ordnung leben kann.
Alles in allem ergibt sich aus dem Vergleich mit dem spätrepublikanischen Rom eine beängstigende Perspektive für die EU, wie Engels in einem Zeitungsartikel selbst zusammenfasst:
„Denn da die gegenwärtigen politischen Eliten weder den Mut noch die Macht besitzen, eine adäquate und langfristige Reform in Gang zu setzen, werden sie weiterhin, wie der spätrepublikanische Senat, Produktionsverlagerung, Arbeitslosigkeit, Bildungsschwund, Bevölkerungsrückgang, Immigration, Demokratiedefizit, Staatsverschuldung, Überalterung und explodierende Sozialbudgets mit dilatorischem Fortwursteln beantworten – bis es zu spät ist und innerhalb der nächsten 30 Jahre der große, nicht nur wirtschaftliche Bankrott ansteht.“[1]
Überlassen wir seinen Historikerkollegen die wissenschaftliche Einschätzung, ob Engels interkultureller Vergleich anhand der von ihm ausgewählten Krisenindikatoren methodisch statthaft ist oder nicht. Aber David Engels eigentliche Aussage in diesem Buch ist ja politischer Art. Es geht ihm um die weitere Entwicklung in der Europäischen Union. Wenn es nach Engels ginge, sollte sich die EU zu einem demokratischen Bundesstaat bewusst weiter entwickeln. Was er aber kommen sieht, ist das nicht mehr steuerbare Abdriften dieses politischen Gebildes in Richtung eines undemokratischen, bürokratischen Imperiums.
Das Denken der Eliten
Mit dem Begriff Imperium verbindet sich laut Engels, wie schon gesagt, nicht zwingend die monarchische Herrschaftsform. Ein Imperium könne auch oligarchisch (wie das Karthagische Reich) oder demokratisch (wie das Attische Seereich) aufgebaut sein. Folgende Merkmale hätten aber alle Imperien (AWI, S. 371):
- eine expansionistisch, weitgehend auf Allmacht zielende Politik,
- eine große administrative Geschmeidigkeit in der Verwaltung der beherrschten Gebiete,
- die Existenz einer Hegemonialmacht,
- ein ausgeprägter Glaube an die Überlegenheit des eigenen Staates über alle anderen,
- die Präsenz eines relativ geschlossenen Kerns einer politischen Elite, die willens und fähig ist, eine dauerhafte Kontrolle über das Herrschaftsgebiet auszuüben und die außerdem in der Lage ist, abgestuft nach der Nähe zur herrschenden Gesellschaft, einen relativen materiellen Wohlstand zu sichern.
Engels beschreibt in seinem Buch alle imperialen Attribute der aktuellen EU, aber sicherlich sehr nachvollziehbar ist seine Darstellung anhand des ersten Punkts, des Willens zur Expansion.
Er schreibt, dass „die europäischen Institutionen seit ihrer Gründung wesentlich auf eine systematische Ausweitung ihrer Grenzen angelegt sind und diese Expansion bis heute betreiben, bedenkt man etwa die aktuellen Beitrittsdiskussionen mit den ehemaligen jugoslawischen Staaten, der Türkei, der Ukraine und Island“. (AWI, S. 372)
Die jüngsten Ereignisse in der Ukraine zeigen im Übrigen auf, wie richtig Engels mit seiner Einschätzung der imperialen Ambitionen der europäischen Elite gelegen hat. Engels hält es in seinem Buch durchaus für möglich, dass sich das EU-Imperium in seinem Expansionsdrang nicht dauerhaft auf europäische Gebiete beschränken muss; er nennt zum Beispiel Israel als einen der möglichen außereuropäischen Kandidaten (was von ihm nicht positiv beurteilt wird).
Von den anderen imperialen Kennzeichen, die behandelt werden, sei hier noch der, auch aus Engels Sicht, geradezu peinliche Glaube der europäischen Eliten an die „wesensgemäße Überlegenheit“ der EU über andere Staaten in Sachen der Menschenrechte genannt, den man nur noch mit dem Begriff „Selbstbeweihräucherung“ beschreiben könne.
Der Autor sieht das EU-Imperium nicht bröckeln, sondern sich verfestigen, da die Finanzkrise vor allem in der Eurozone die Tendenz zu einer immer intensiveren europäischen Integration beschleunigt habe, wobei „schwache Randstaaten wie etwa Griechenland oder Zypern nach Art bevormundeter Provinzen um das deutsch-französische Wirtschafts- und Entscheidungszentrum zu gravitieren beginnen und zu reinen Vollzugsinstanzen anderswo getroffener Entscheidungen degradiert werden“ (AWI, S. 428). Ob ausgerechnet Griechenland mit Schuldenberg und Steuerloch sowie seinem Übermaß an Vetternwirtschaft und Beamtentum als Beweis taugt, sei dahingestellt. Die aktuelle sozial-nationalistische griechische Regierung dürfte den Euro-Patrioten Engels auch nicht gerade erfreuen.
Von den europäischen Eliten werde außerdem auf der Basis eines „rationalistischen Kosmopolitismus“ versucht, unter Aufgabe der traditionellen Ideale der Vergangenheit eine politisch korrekte gesamteuropäische Identität zu erschaffen. Identität aber, so Engels, könne man nicht konstruieren. Auf diese Weise könne man den Zusammenhalt des europäischen Einigungsvorganges, der von unten, von den Menschen her gestützt wird, nicht gewährleisten. Auch das verstärkt die Tendenz zum autoritären Imperium.
Imperialer Kompromiss
Engels hält es für möglich, dass sich die EU über einen „imperialen Kompromiss“ in eine „caesaristische“ bzw. bonapartistische Staatsform hin entwickelt. Oder muss man letztlich unterstellen, dass er in Anbetracht anderer Optionen resigniert sogar hofft, dass EU-Europa, falls nicht demokratisch, so doch wenigstens undemokratisch zusammengehalten wird? Liest man die Vorstellungen des Autors im „Postscriptum“-Kapitel darüber, warum ein Zerfall Europas in Einzelstaaten katastrophal wäre und welche Politik ein imperiales EU-Europa dann umsetzen könnte bzw. müsste, muss man das wohl annehmen. Man verspürt doch eine gewisse Verzweiflung des Autors über die bestehende politische Landschaft in Europa.
Eine politische Entwicklung hin zu einer autoritären Lösung, ein möglicherweise entstehendes EU-Imperium wäre nicht die Neuauflage „eines tatsächlichen ‚Kaiserreiches‘ nach römischem Muster, sondern vielmehr die einer autoritären, plebiszitären und konservativen Reform unserer Gesellschaft, welche in ihrer allgemeinen Struktur, sicherlich nicht in ihren präzisen Details der Umwandlung der römischen Republik in das Principat des Augustus ähneln dürfte“. (AWI, S. 435).
„Die genaue Form, welche dieser imperiale Kompromiss annimmt, ist letztlich strukturell unerheblich: sei es ein starker direkt gewählter europäischer Präsident, ein aufgeklärter Principat, eine Diktatur im Stile der 1920er-Jahre, ein Protektorat der Republik durch einen oder mehrere Generäle, eine immer wieder erneuerte Präsidentschaft wie in vielen südlichen Staaten oder eine strategische Partnerschaft zwischen Präsident und Premierminister wie im Russland Putins und Medwedews. Alle diese Lösungen sind nur äußere Erscheinungen, welche letztlich Antwort auf einen identischen inneren Zustand zu geben versuchen: Die Vielschichtigkeit der politischen Einrichtungen, der Mangel an kollektiver Identifizierung mit dem Staat, die Polarisierung der Gesellschaft und die verworrene Konkurrenz zwischen Parteien, Experten, Wirtschafts- und Finanzgruppen haben den Nationalstaat wie auch die Europäische Union in einem solchen Maße lahmgelegt, dass die ‚Demokratie bedrohlich für die Stabilität des gesamten Erdteils und seiner dauerhaften Entwicklung geworden zu sein scheint.“ (AWI, S. 442)
Aber solch ein „Weg ins Imperium“ sei, so Engels, nicht schicksalhaft vorgegeben. Als Leser wird man allerdings in Anbetracht der Vorgänge um den Untergang der Römischen Republik eher pessimistisch gestimmt, denn hier handelte es sich nach Meinung der meisten Historiker um eine Krise ohne Alternative. Eine demokratische Entwicklung in der EU jedenfalls würde voraussetzen, dass sich die EU-Völker als ein Staatsvolk begreifen, es müsste eine EU-Identität entstehen. Zur Lösung der Identitätskrise, um die verschüttete Identität Europas wiederzugewinnen und die Entwicklung hin zu einem autoritären Imperium zu verhindern, verweist Engels, wie könnte es für einen Historiker anders sein, auf die Vergangenheit:
„Daher kann der Europäer, der sich genauso wie der Römer auf die Suche nach seiner verschütteten Identität begeben hat, nur dann fündig werden, wenn er an die Vergangenheit anschließt – zwar einer nach dem ewigen Gesetz der Geschichte neu verstandenen und mit neuem Sinn erfüllten Vergangenheit, aber eben einer Vergangenheit, deren Pflege und Würdigung die Wertschätzung des gegenwärtigen Menschen für seine Vorläufer bezeugt und durch die allein die Gegenwart überhaupt als solche verstanden werden kann und nicht als geschichtsloses, andauernd wiederholtes Jahr null.“ (AWI, S. 429).
Und nach Meinung David Engels „verfügt Europa eher über zu zahlreiche tief verankerte identische Werte und gemeinsame geschichtliche Erfahrungen, als dass es nötig oder ratsam wäre, all dies als bloßes, nunmehr überwundenes Mittel zum Zweck gleichsam vom Tisch zu wischen und sprichwörtlich bei null zu beginnen, nämlich bei der ‚Menschheit‘ “. (AWI, S. 430)
Eine überzeugende Beschreibung der zahlreichen Werte, die eine europäische Identität ausmachen, wird von Engels allerdings nicht geliefert, hier ist er eher unkonkret. Es ist zwar richtig, wenn Engels, den Soziologen Luhmann zitierend, anmerkt, dass Identität sich vor allem über Negationen herausbilde (AWI, S. 423), man weiß also vor allem, was man nicht ist bzw. nicht sein will. Trotzdem muss eine kollektive Identität für Europa auch positiv formuliert werden können, es müssen gemeinsame Überzeugungen und gleiche Verhaltensweisen sowie im Bewusstsein verankerte gemeinsame geschichtliche Bezüge vorhanden sein.
Was Engels damit meint, wird nur etwas konkreter in den Blick genommen, wenn er etwa die fundamentale Bedeutung der Religion für eine Gesellschaft und damit die Bedeutung der christlichen Religion für das Selbstverständnis der Europäer behandelt. So richtig seine Anmerkungen sind z. B. zur europäischen Einwanderungspolitik, die auf Förderung der indigenen europäischen Familien verzichtet, um den Bevölkerungsschwund in Europa abzuschwächen, oder zum auch in Europa weiteren Vordringen der Gender-Ideologie, die von einer gesellschaftlichen Konstruktion des Geschlechts ausgeht, Identität stiftend sind solche politischen Streitfragen nicht unbedingt.
*David Engels sieht ein imperiales Europa im Entstehen und hofft, dass die EU-Europäer diese Entwicklung noch verhindern. Im dritten Teil dieser Buchbesprechung werden David Engels zentrale Themen „europäischen Identität“ sowie „Imperium“ noch einmal genauer beleuchtet.
Hier finden Sie den ersten Teil, hier den zweiten Teil und hier den dritten Teil der Besprechung.
Anmerkung
[1] David Engels, „Braucht Europa heute einen Kaiser Augustus?“, Die Welt