Schatten des Krieges über Europa
Auf dem Bonner Petersberg trafen Vertreter Deutschlands, Polens, und der Nato zum Krisengespräch aufeinander: Nie seit dem Kalten Krieg waren die Fronten so verhärtet.
Auch wenn das Wort nur selten fiel, so war die Furcht vor einem Krieg, der ebenso gut als Kalter Frieden daherkommen könnte, bei den 10. Petersberger Gesprächen zur Sicherheit doch allgegenwärtig. Vorsichtig tastete sich die Debatte an den krisenhaften Rissen der Gegenwart entlang, die längst zur Gewohnheit gewordene Verhältnisse grundsätzlich infrage stellen und nach Antworten verlangen, die bis heute keiner formuliert hat.
„Die Krise ist zum Normalfall geworden“, stellte Stephan Steinlein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, fest und räumte offen ein, wie sehr auch das Außenministerium von der Entwicklung überrascht wurde. Als Frank-Walter Steinmeier (SPD) vor einem Jahr sein Amt als Außenminister übernahm, habe niemand „diese Verdichtung internationaler Krisen“ vorhergesehen. Und nun sieht sich die Politik unversehens mit einer Zeitenwende konfrontiert.
„Manche denken vielleicht immer noch, dass es sich dabei um eine vorübergehende Abweichung von der Norm handeln könnte. Sie hoffen, dass erstens die Zeit der multiplen Krisen irgendwann wieder enden und die Welt zur Vernunft kommen und zweitens unsere westliche Demokratie und das marktwirtschaftliche System wieder in ihre alte prägende Rolle als Modell für Staats- und Wirtschaftsorganisationen einrücken wird“, sagte Steinlein und verwies auf die Erwartungen nach dem Zusammenbruch der Blockkonfrontation im Jahr 1990.
Das Ende der Geschichte
Damals sei die Welt in eine Phase eingetreten, „in der man glauben konnte, dass sich die Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Westens durchgesetzt“ habe. Damals rief der US-Politologe Francis Fukuyama gar das Ende der Geschichte aus. „Aber wenn wir heute die Welt betrachten, müssen wir feststellen, dass diese Sicht der Dinge keinen Bestand mehr hat“, sagte Steinlein.
Zur Konferenz auf den Petersberg hatte der SPD-Verteidigungspolitiker Wolfgang Hellmich geladen. Er stellte sie unter die Überschrift „Aktuelle Herausforderungen für die europäische Sicherheitsarchitektur – Auslandseinsätze und Sachstand der Reform: Folgen für die Bundeswehr“. Neben Steinlein nahmen der polnische Botschafter Jerzy Józef Margański, der russische Botschaftsrat Kirill M. Logwinow, der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hellmut Königshaus (FDP), der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Hans-Peter Bartels (SPD), und der Nato-Generalleutnant Horst-Heinrich Brauß teil.
In seinen einleitenden Worten mahnte Hellmich ein neues Weißbuch für die Bundeswehr und eine neue Sicherheitsstrategie an. Bundeswehr-Generalinspekteur Volker Wieker räumte zwar als Folge einer sich über 15 und mehr Jahre erstreckenden verfehlten Beschaffungspolitik Mängel in der materiellen und personellen Ausstattung ein, stellte aber dennoch die Einsatzbereitschaft der Truppe bei „aktuellen und dauerhaften Einsatzverpflichtungen“ fest. Außerdem sei die Bundeswehr in der Lage, auf kurzfristige Herausforderungen zu reagieren. Und auch Bartels lobte – bei allen Mängeln – die Fähigkeiten der Bundeswehr. So war es weniger der Zustand der deutschen Streitkräfte, der die Teilnehmer bewegt, sondern der Zerfall sicherheitspolitischer Strukturen.
Die alten Gespenster von Krieg und Gewalt
„Die Ereignisse um die Ukraine tragen, für alle sichtbar, die alten Gespenster von Krieg und Gewalt hinein nach Europa“, sagte Staatssekretär Steinlein. In unmittelbarer Nachbarschaft hätten sich Krisen und Instabilitäten entwickelt, die „unser gesamtes politisches System vor neue Herausforderungen“ stellten. Denn zwischen dem kurdischen Kobani und den Straßenschlachten in Hamburg und Celle gibt es ein System kommunizierender Röhren. Das alte Diktum von Bismarck, wonach der ganze Balkan „nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“ sei, habe keinen Bestand mehr.
Mit dem Ukraine-Konflikt seien in Europa 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erstmals wieder Grenzen gewaltsam verschoben worden. „Grundlegende Prinzipien der Nachkriegs- und Friedensordnung sowie maßgebliche Prinzipien des Völkerrechts wurden dadurch infrage gestellt“, so Steinlein.
EU und Nato hätten entschlossen und richtig reagiert, doch nun seien weitere Schritte der Deeskalation nötig, die nur im Dialog der Beteiligten getan werden könnten. Allerdings warnte der Staatssekretär vor allzu großen Erwartungen. „Uns muss klar sein, dass der Aufbau einer demokratisch verfassten und marktwirtschaftlich orientierten Ukraine eine Mammutaufgabe ist“, sagte er. Viele Fragen seien zu lösen, etwa der künftige Status des Dombass, der vollständige Abzug russischer Truppen und eine effektive Sicherung der ukrainischen Grenze unter Beobachtung der OSZE.
Kaum zu lösenden Knoten
„Wir müssen Mittel und Wege finden, der Führung in Moskau klarzumachen, dass sie sich im wohlverstandenen Eigeninteresse in der heutigen vernetzten und interdependenten Welt von einem rückwärtsgewandten Denken verabschieden muss. Wir müssen zurückkehren zu einer gemeinsamen Verantwortung für den riesigen Raum zwischen Lissabon und Wladiwostok“, so Steinlein, der feststellte: „Sicherheit in Europa ist ohne Russland nicht denkbar.“ Sonst drohe die Gefahr, „dass sich unsere Welt zurückbewegt in die dunklen Kapitel des 20. Jahrhunderts“.
Er streifte noch kurz die miteinander verbundenen Konflikte im Irak und in Syrien. Diese seien auch deshalb so schwer zu lösen, weil sich dort regionale und internationale, religiöse und ethnische, ideologische und realpolitische Motive überlagerten und einen von außen kaum zu lösenden Knoten bildeten. Doch dieser Knoten könne ganz sicher nicht allein mit militärischen Mitteln gelöst werden. Sie könnten nur ein Beitrag sein. „Wir müssen im Dialog mit den regionalen Mächten die mühsame Suche nach einem politischen Kompromiss fortsetzen. Ohne die Einbeziehung auch der schwierigen Partner wie etwa des Iran wird es keine Lösung für den Syrien-Konflikt geben können“, sagte er. Im Konflikt zwischen Israel und der Hamas sprach er sich dafür aus, die Technokraten um Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu unterstützen.
Auch Polens Botschafter Jerzy Józef Margański erinnerte an 1990 und beschrieb, wie sehr sich die Welt seither verändert habe. Die Sicherheitsordnung nach 1990 sei im Gegensatz zum Kalten Krieg nicht mehr auf Abschreckung, sondern auf Vertrauen gegründet worden. „Wir haben aufgehört zu glauben, dass Krieg in Europa möglich ist. Wir haben massiv abgerüstet. Wir haben eine Sicherheitsarchitektur geschaffen, die für den Frieden in Europa, nicht für den Krieg konzipiert ist“, sagte er. Die Annexion der Krim und der Angriff Russlands auf den Osten der Ukraine hätten das Vertrauen in diese Architektur zerstört und erzwängen eine Korrektur der westlichen Politik gegenüber Russland. „Wir werden uns für einige Zeit von der Hoffnung verabschieden müssen, dass die enge Zusammenarbeit mit Russland Europa sicherer macht“, sagte Margański.
Russland warnt vor einseitigen Schuldzuweisungen
Er versicherte zwar, dass im Interesse des Westens „und Polens sowieso“ ein Dialog mit Russland unerlässlich sei. Schließlich brauche Europa eine Zusammenarbeit mit Russland für andere Krisen in Europa. Aber: „Offenbar ist Russland heute und in absehbarer Zeit nicht an einer Lösung des Ukraine-Konfliktes interessiert“, sagte der Botschafter.
Aus diesem Grund müsse sich die Nato ab sofort wieder stärker auf ihre Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit konzentrieren. „Sie ist im Osten schwächer als im Westen, was ein offensichtliches Sicherheitsrisiko für die Ostflanke darstellt“, sagte Margański. Den Beschluss des Nato-Gipfels in Schottland zum Aufbau einer aus bis zu 5000 Soldaten bestehenden und binnen zwei Tagen einsatzfähigen Truppe bezeichnete er als „milde Maßnahme“.
Unter dem Eindruck der Worte seiner Vorredner sah sich der Vertreter Russlands vor allem Vorwürfen und Vorhaltungen ausgesetzt. Botschaftsrat Logwinow sagte, die außenpolitische Debatte sei stark emotional geprägt, und hinterfragte, ob nicht so manche Gesprächsangebote des Westens in den vergangenen Jahren „nur Höflichkeitsfloskeln“ gewesen seien. „Die Situation in der Ukraine brachte die tief gehenden existierenden Mängel der bestehenden Architektur im euro-atlantischen Raum zum Vorschein“, sagte er.
„Die Krim bleibt russisch“
Er warnte vor einer einseitigen Schuldzuweisung an Moskau. „Russland und die Nato tragen eine gemeinsame Verantwortung für die Sicherheit“, sagte Logwinow. Russland und Europa seien Nachbarn und sollten langfristig enge und gegenseitig vorteilhafte Beziehungen anstreben. Kurz: Europa und Russland müssten Wege gemeinsamer Verantwortung finden, denn sonst drohe das Chaos. Auf die Frage aus dem Publikum, wie der Kreml es denn langfristig mit der Krim halte, antwortete der Botschaftsrat kategorisch: „Die Krim bleibt russisch.“
Ebenso deutlich stellte Generalleutnant Brauß die Beziehungen der Nato zu Moskau dar: „Der Kreml betrachtet uns als Gegner“, sagte er. Moskau träume von einem „Großrussland“, das durchaus auch europäische ehemalige Sowjetstaaten einschließe. „Der Kreml spricht von einer russischen Welt und scheut auch vor Gewalt nicht zurück“, sagte Brauß.
So prallten die Argumente aufeinander, ohne dass sich auch nur Ansätze für Kompromisse abzeichneten. Und die große Frage, wie europäische Sicherheit angesichts grenzüberschreitender Epidemien, Massenflucht, des Versuchs einer kriegerischen islamistischen Staatenbildung und der Ukraine-Krise gestaltet werden könne, blieb letztlich unbeantwortet und ließ die Zuhörer ratlos zurück. Oder um es in Anlehnung an Bertolt Brecht zu sagen: Sie standen enttäuscht und sahen betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.