Snowden verkannte die Pathologie der Facebook-Exhibitionisten
Edward Snowden riskiert alles, weil er der Welt wieder etwas mehr Privatheit zurückgeben will. Die sozialen Netzwerke feiern ihn und laden gleichzeitig zu einem ungehemmten Voyeurismus ein. Wie krank ist diese Gesellschaft?
Als die Aussagen des früheren Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden bekannt wurden, ging eine Welle der Empörung durch die Medien. Ganz anders war es im vergangenen Herbst. Damals musste die Bundesregierung einräumen, sie habe den USA erlaubt, in Deutschland eine im Graubereich zwischen militärischer Gefahrenabwehr, Terror- und Kriminalitätsbekämpfung operierende Sicherheitsbehörde aufzubauen. GEOLITICO berichtete darüber. Es heißt „Joint Interagency Counter Trafficking Center (JICTC)“ und ist beim Zentralkommando der amerikanischen Streitkräfte in Stuttgart angesiedelt. Die Mitarbeiter des JICTC können auf deutschem Boden genauso ermitteln wie deutsche Sicherheitsbehörden. Es ist das ideale Pendent zu dem, was Snowden nun aufgedeckt hat.
Durch ihn wissen wir, in welchem Umfang der amerikanische Geheimdienst National Security Agency (NSA) Daten, Telefonate und Texte auf der ganzen Welt aus dem Netz fischt und auswertet. Deutsche Geheimdienste steckten mit den Amerikanern unter einer Decke, sagt Snowden. Und nicht nur das. Deutschland ist sogar das Land, wo die meisten Informationen gewonnen werden.
Frankfurt ist die Herzkammer
„Im weltweit pulsierenden Strom digitaler Daten ist Frankfurt so etwas wie eine Herzkammer. Hier treffen Glasfaserkabel aus Osteuropa und Zentralasien auf Datenleitungen aus Westeuropa. Auch E-Mails, Bilder, Telefonate und Tweets aus Krisenländern des Nahen und Mittleren Ostens kommen in Frankfurt vorbei“, schreibt der „Spiegel“. Im bayerischen Bad Aibling sollen NSA und Bundesnachrichtendienst (BND) gemeinsame einen Horchposten betreiben, der unter anderem Satellitentelefone abhört.
Wenige Wochen vor Snowdens Enthüllungen hatten die Internetriesen Facebook und Google bereits einräumen müssen, dass sie den Sicherheitsbehörden Daten ihrer Nutzer zur Verfügung stellen. Facebook lieferte den Diensten in der zweiten Jahreshälfte 2012 Daten zu rund 10.000 Behördenanfragen, die 18.000 bis 19.000 Nutzeradressen betrafen. Auskünfte zu rund 31.000 Kunden holten die Sicherheitsdienste bei Microsoft ein. Apple räumte bis zu 5000 Spähanfragen in der Zeit von Dezember 2012 bis Mai 2013 ein. Sogar die Deutsche Post steht den Behörden zu diensten.
Gespaltenes Bewusstsein
Mit dem Internet ist die Welt transparenter geworden. Aber wie sehr die Bürger ihre Privatheit ausliefern, das ist ihnen offenbar immer noch nicht bewusst. Snowden ist es dafür umso bewusster.
„Ich will nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich sage, alles, was ich tue, jeder, mit dem ich rede, jeder Ausdruck von Kreativität oder Liebe oder Freundschaft aufgezeichnet wird. Das will ich nicht unterstützen, daran will ich nicht mitwirken und unter diesen Bedingungen will ich nicht leben“, begründete Snowden in einem Video-Interview mit dem „Guardian“ seinen Weg an die Öffentlichkeit.
Wenn sie derart explizit darauf hingewiesen werden, stimmen vermutlich 80 Prozent der Menschen Snowden zu. Sie haben dann Sympathie für das, was er getan hat. Aber wie weit geht diese Sympathie? Ziehen Konsequenzen aus seinen Enthüllungen? Snowden konnte die beständige Schnüffelei des Überwachungsstaates nicht mehr ertragen und hat mit seinem Gang an die Öffentlichkeit sogar schwerste existenzielle Nachteile in Kauf genommen.
Gewollter Voyeurismus
All seine Sympathisanten aber ändern im Großen und Ganzen nichts, rein gar nichts. Sie laden weiterhin intimste Bilder in die sozialen Netzwerke hoch, geben ohne die geringsten Bedenken private Daten her. Auf diese Weise laden sie Freunde, Nachbarn, öffentliche Institutionen wie Behörden, Geheimdienste, Banken, den eigenen Arbeitgeber und sicherlich auch Kriminelle dazu ein, sich schamlos in ihrem Privatleben umzusehen. Dieses Provozieren des einst so verabscheuten Voyeurismus zeigt beispielhaft die pathologischen Veränderungen in der Gesellschaft.
Und die Datenkraken wollen überall dabei sein, wollen alles wissen: Hobbies, Freizeit, Beruf, Telefonnummern, Adressen, Freunde, Bekannte, Job, Termine, Urlaube. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Und alles wird auch nach Bekanntwerden des NSA-Datenskandals weiterhin bedenkenlos preisgegeben – ob es nun einen wie Snowden gibt oder nicht.
Schizophrene Selbstwahrnehmung
Wie schizophren die Selbstwahrnehmung in der digitalen Welt und damit das Verhältnis zu den Datenkraken ist, zeigt unter anderen, dass die Bewunderer Snowdens ausgerechnet auf Facebook, einem der größten Datensammler, mehrere „Unterstützerseiten“ einrichteten. Das ist etwa so, als wenn jemand, der die Mafia bekämpfen will, die Mafia dabei um Hilfe bäte.
Zugleich ist der Inhalt dieser Facebook-Seiten für Snowden selbst völlig bedeutungslos. Dort wird nicht zu politischen Aktionen aufgerufen, vielmehr geben „Fans“ dort zum Besten, was derzeit weltweit in den Medien über ihren Helden berichtet wird. „Komm nach Brasilien“, fordert ihn jemand auf, der sich in einer Badehose am Strand hat fotografieren lassen. „Mir imponiert dieser junge Mann, ich hoffe es geht Ihm gut“, schreibt eine junge Deutsche. Wer sich hier tummelt, will teilhaben, am Hype um einen Mann, dem der ganze Rummel inzwischen vermutlich ziemlich egal ist, weil er fürchterlich in der Klemme sitzt.
Snowden als Ereignis auf Facebook
Denn wie könnte es Edward Snowden derzeit gut gehen, wo er doch Tage und Nächte auf dem Moskauer Flughafen im Zangengriff des russischen Geheimdienstes FSB verbringt? Die sozialen Netzwerke nehmen den Whistleblower als Ereignis wahr, er selbst aber blickt in die finstere Zukunft des Verfolgten, der fürchten muss, den Rest seines Lebens in einem US-Gefängnis abzusitzen. Und das alles nur, weil er eine bessere, eine freiere Welt wollte.
Vor dem Kanzleramt in Berlin demonstrierte dieser Tage eine kleine Gruppe gegen das Verhalten der Bundesregierung, die sich weigert, Snowden Asyl zu gewähren. Aber es sind viel zu einige, die auf die Straße gehen, um tatsächlich etwas bewirken zu können. Das Engagement aller anderen erschöpft darin, sich ein wenig auf Facebook oder Twitter zu echauffieren, um dann aber doch weiterzumachen wie bisher. Wir sind längst Gefangene unserer Wahnvorstellung von einem folgenlosen Daten-Exhibitionismus. Dabei blenden wir die Realität aus, so wie die Medien die neue polizeilich-militärische Behörde in Stuttgart ausgeblendet haben.
Wo sind die Hacker von Anonymous, die den Datenstrom der NSA löschen? Wo sind die Rächer der gnadenlos ausspionierten Bürger?
Es gibt sie nicht. Das ist die Wahrheit. Und sollte Snowden jemals auf sie gebaut haben, ist er bestenfalls ein Träumer.