Europa zwischen Revolution und Kommandowirtschaft

Europa zerfällt. Wechselnde Allianzen kennzeichnen die Politik, die Wirtschaft kollabiert, und den Bürgern droht existenzielle Not. Die fragile Gemengelage erinnert zunehmend an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

Das kann kein Zufall sein. Beinahe zeitglich warnen die beiden Grandseigneurs der deutschen Politik, Altkanzler Helmut Schmidt und der frühere langjährige Außenminister und Vize-Kanzler Hans-Dietrich Genscher, vor dem Zusammenbruch Europas. Europa befinde sich im Katastrophenzustand, sagt Schmidt. In allen Mitgliedsländern schwinde das Vertrauen in die europäischen Institutionen. „Wir sind am Vorabend der Möglichkeit einer Revolution in Europa“, konstatiert er.

Schmidt ist nun wahrlich niemand, der zu Übertreibungen neigt, sondern mit hanseatischer Zurückhaltung kühl und besonnen analysiert. Und nun zieht er die Möglichkeit politischer Umstürze in einem Europa in Betracht, das so stolz ist auf über 60 Jahren Frieden, auf den gemeinsamen Binnenmarkt und das europäische Sozialmodell. Europa wähnte sich endlich am Ziel. Und nun soll nun schon wieder alles zu Ende sein?

Mitverschulden der Banken

Dabei wird es doch angeblich nach Kräften gerettet. Unter deutscher Führung schnüren die Mitgliedsländer ein Hilfspaket nach dem anderen. Ein Krisengipfel jagt den nächsten. Aber statt zu gesunden, siecht dieses Europa immer weiter dahin. Obwohl der Norden seit zwei Jahren immer neue Milliardenbeträge an den Süden überweist, steigen die Schulden dieser Länder.

„An der Schuldenkrise gibt es ein Mitverschulden der Banken, weil wir durch die ganzen Rettungsaktionen die Verschuldung der Staaten noch gesteigert haben“, räumte der frühere Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, jüngst bei Günther Jauch ein. Wer dachte, mit den Hilfspaketen werde der notleidenden griechischen Bevölkerung, den Portugiesen und Spaniern geholfen, der weiß spätestens jetzt, dass dieses Geld der deutschen Steuerzahler woanders ankam. Es landete auf den Konten der großen europäischen Banken.

So langsam wird das immer mehr Menschen bewusst. Und dann begreifen sie auch, warum in Griechenland und Spanien inzwischen mehr als die Hälfte der Jugendlichen ohne Arbeit ist. Bei den Erwachsenen ist es jeder Vierte. Das soziale Fundament dieser Gesellschaften zerbricht. Und das ist, da hat Helmut Schmidt absolut recht, der Nährboden für Unruhen.

Abkehr vom Kapitalismus

Schuld daran ist die wiederum unter deutscher Führung verordnete radikale Sparpolitik. Renten werden brutal gekürzt oder gar nicht mehr gezahlt. Notwendige soziale Dienste wie das Gesundheitswesen gibt es in Griechenland längst nicht mehr. Ein alter Mensch, der ins Krankenhaus muss, wird nur dann behandelt, wenn er seine Medikament selbst mitbringt. Aber von welchem Geld soll er sie bezahlen, wenn ihm die Rente gestrichen wird?

Weil sie in diesen Zeiten der Not ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten, nahmen die Banken vielen Spaniern die Wohnungen weg. Damit waren diese Menschen nicht nur arbeitslos, sondern auch noch obdachlos. Aus Verzweiflung nahmen sich einige bereits das Leben.

Solche Berichte lassen auch in der deutschen Bevölkerung die Zweifel an der Richtigkeit dieser Politik wachsen. Gleichzeitig steigt das Unbehagen gegenüber dem Kapitalismus. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks assoziierten 48 Prozent der Bürger den Kapitalismus mit Freiheit, ermittelte zu Beginn der 1990er Jahre das Institut für Demoskopie Allensbach. Heute sind es nur noch 27 Prozent. Die Verbindung mit Ausbeutung stieg dagegen von 66 auf 77 Prozent.

Neue Dolchstoßlegende?

Neue Parteien wie die Freien Wähler greifen diese Stimmung auf. Sie streben eine Umkehr in der Europapolitik  an. Offen debattieren sie über einen Ausstieg Deutschlands aus dem Euro und die Einführung von Parallelwährungen. Im Gegensatz zur Politik der Bundesregierung würde dabei die Souveränität der Nationalstaaten wieder gestärkt.

Ein Million-Markschein als Rechnungsblock. Findige Leute benutzen im Oktober 1923 die Rückseite des Einmillionenscheines zum Schreiben; ein neuer Block würde Milliarden kosten. / Quelle: Bundesarchiv

Ein Million-Markschein als Rechnungsblock. Findige Leute benutzen im Oktober 1923 die Rückseite des Einmillionenscheines zum Schreiben; ein neuer Block würde Milliarden kosten. / Quelle: Bundesarchiv

Eine solche Politik würde Europa zerstören, behaupten hingegen die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP und finden im früheren Außenminister Genscher eine prominenten Verfechter ihrer Strategie. „Ein Deutschland, das in die Selbstisolation fliehen würde, würde bald sehr, sehr einsam sein!“, sagt Genscher. „Und es würde sehr kalt um Deutschland herum in Europa“, fügt er mit Blick auf die seiner Ansicht nach zu erwartenden wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen einer solchen von nationalen Interessen dominierten Politik hinzu. Sein Credo: „An Deutschland darf Europa nicht scheitern!“

Er verweist sogar an die Erfahrungen von Weimar und warnt vor einer neuen Dolchstoßlegende. Gemeint ist die Behauptung, Frankreich habe 1990 Deutschlands Zustimmung zum Euro zur Bedingung für die deutsche Einheit gemacht. „Die Behauptung, der Euro sei der Preis für die deutsche Einheit gewesen, ist historisch falsch“, sagt er. „Die Legende vom angeblichen Preis für die deutsche Einheit ist deshalb so gefährlich, weil sie für das neue Europa eine Wirkung entfalten könnte, wie die Dolchstoßlegende nach dem Ersten Weltkrieg.“ Demnach habe sie das Potenzial, das europäische Haus zu zerstören.

Autoritäres Projekt Europa

In der Tat gleicht das Europa dieser Tage der unruhigen und instabilen Weimarer Zeit. Der britische Journalist Simon Jenkens beobachtet „wechselnde Allianzen und Koalitionen, unterschwellige Ängste und unruhige Peripherien mit einem Pulverfass aus nationalen Konflikten“. Wie damals unterstellen nahezu alle Länder Europas den Deutschen, sie strebten nach der Vormacht. Deutschland führe, unterstützt von einem elitären Kreis von EU-Mitgliedern, Europa in eine „paneuropäische Kommandowirtschaft“, in der politische Kommissare nationale Haushalte überwachen, schreibt auch Jenkins und stellt fest: „Ein autoritäres Projekt von solchen Ausmaßen hat es in Westeuropa seit 1945 nicht mehr gegeben.“

Das ist leider wahr. Und die politische Elite Deutschlands sollte sich fragen, ob sie diesen Weg tatsächlich weitergehen will. Es ist gut, wenn Genscher in dieser Situation an die besondere Verantwortung Deutschlands für Europa erinnert. Leider zieht er daraus die falschen Schlüsse. Denn sein Appell zur Stützung der schwarz-gelben Regierungspolitik sanktioniert die von Jenkins beschriebene autoritäre Kommandowirtschaft mit all ihren Folgen. Er provoziert das Aufbrechen alter, längst überwunden geglaubter Konflikte und damit das Ende des Traums von einem freien und sozialen Europa.

Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel