Genscher warnt vor eisiger Isolation Deutschlands in Europa

Der Grandseigneur der FDP, Hans-Dietrich Genscher, wirft den Eurogegnern gefährliche Isolationsbestrebungen vor und warnt vor einer neuen Dolchstoßlegende. Europa dürfe nicht an Deutschland scheitern, fordert er in einer Rede in der SPD-Parteizentrale.

Im Willy-Brandt-Haus haben so einige große und weniger große Politiker, eindrucksvolle und weniger eindrucksvolle Reden gehalten. Aber dass Hans-Dietrich Genscher dort unter dem mürrischen Blick des SPD-Ehrenvorsitzenden, der als überlebensgroße Skulptur im Foyer auf den Redner herabschaut, einmal eine flammende Europa-Rede halten würde, damit hatten am Ende wohl doch die wenigsten gerechnet. Ausgerechnet Genscher, der langjährige FDP-Vorsitzende und Außenminister, dem Helmut Schmidt in einer historischen Rede am 17. September 1982 im Bonner Bundestag den Bruch der sozial-liberalen Koalition anlastete und die SPD damit für 16 Jahre in die Opposition schickte.

„Eigentlich hätte er schon im vergangenen Jahr kommen sollen“, sagt SPD-Chef Sigmar Gabriel einleitend. Er weise bewusst darauf hin, weil er verhindern wolle, dass da ein falscher Eindruck entstehe und die Rede gar im Zusammenhang mit veränderten Regierungskonstellationen gebracht werde.

„Natürlich haben wir uns beide schon etwas dabei gedacht“, fügt Genscher süffisant an. Aber es war eben nicht das, was diejenigen im Publikum, die jetzt schmunzeln, insgeheim angenommen hatten. Genscher ist an diesem Abend gekommen, um den Euro und dessen Einführung mit einer Leidenschaft zu verteidigen und die Gegner der von der Bundesregierung verantworteten Europapolitik in einer Härte und Schärfe zurechtzuweisen, die sich im Regierungslager kaum jemand zutraut, und die wohl auch kaum noch jemand dem Grandseigneur der Liberalen zugetraut hätte.

„Ein Deutschland, das in die Selbstisolation fliehen würde, würde bald sehr, sehr einsam sein!“, ruft er an die Adresse der Gegner der Regierungspolitik. „Und es würde sehr kalt um Deutschland herum in Europa“, warnt er den wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen einer solchen von nationalen Interessen dominierten Politik, um sodann zu fordern: „An Deutschland darf Europa nicht scheitern!“

Aufgrund seiner Geschichte habe Deutschland gegenüber den Ländern Europas eine große Verantwortung. Es habe den Nachbarländern dafür zu danken, dass es nach den Erfahrungen zweier Weltkriege zur „Teilnahme an Europa“ eingeladen worden sei. Genscher erinnert an Thomas Mann, der gesagt hatte, es gehe nicht darum, ein deutsches Europa zu schaffen, sondern ein europäisches Deutschland. Damit habe Thomas Mann die Deutschen aufgefordert, sich auf ihre Verantwortung zu besinnen.

Der frühere Außenminister spricht an diesem Abend nicht frei, sondern liest vom Blatt. Das heißt, jedes seiner Worte ist wohl überlegt. Und die Empathie, mit der er sie vorträgt, ist ihm besonders in jenem Augenblick anzusehen, da er die Einführung des Euros verteidigt.

„Die Behauptung, der Euro sei der Preis für die deutsche Einheit gewesen, ist historisch falsch“, sagt er sichtlich erregt. Es habe zwei Motive für den Euro gegeben. Erstens sei die gemeinsame Währung als Garant gegen Kursmanipulationen ökonomisch bedeutsam. Zweitens sei der Euro aus der sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre abzeichnenden Annäherung zwischen Ost und West auch politisch sinnvoll begründet.

Und dann zieht der Liberale einen brisanten historischen Vergleich: „Die Legende vom angeblichen Preis für die deutsche Einheit ist deshalb so gefährlich, weil sie für das neue Europa eine Wirkung entfalten könnte, wie die Dolchstoßlegende nach dem Ersten Weltkrieg.“ Demnach habe sie das Potenzial, das europäische Haus zu zerstören.

Genauso falsch wie die Legende über die Einführung des Euros sei die Behauptung, Deutschland trage die schwerste Last der europäischen Krise. Bezogen auf die Pro-Kopf-Belastung stehe Deutschland nicht an erster Stelle. „Ein Zweifel an Europa darf nicht geschürt werden, auch nicht aus finanziellen Gründen. Aus denen zu allerletzt“, so Genscher.

Gabriel nickt zustimmend. „Wir sind die ökonomischen Gewinner, was die Zahlungsströme insgesamt angeht“, sagt der SPD-Chef und verweist auf die hohen Exporte in die europäischen Nachbarländer. „Wir haben unterm Strich 500 Milliarden Euro mehr eingenommen als wir an Europa überwiesen haben.“ Die inzwischen deutlich über 700 Milliarden Euro liegenden Target-II-Salden der deutschen Bundesbank, mit denen die Südländer ihre Einkäufe kreditfinanziert haben, erwähnt er allerdings nicht.

Die beiden sind sich einig, dass die demokratischen Parteien ungeachtet aller inhaltlichen Gegensätze in der Europafrage zusammenstehen. „Uns eint der Wille zu Europa“, so Genscher. Damit meint er ein Europa, „das nicht an der polnischen Ostgrenze endet“. Auch Russland müsse in das europäische Denken einbezogen werden.

„Jeder, der heute so tut, als könne man den europäischen Zug anhalten, der täuscht das Volk“, sagt Genscher unter dem Applaus der Zuhörer. „Die wirtschaftlichen Auswirkungen während verheerend.“

Zu guter Letzt äußern sowohl Genscher als auch Gabriel Verständnis für die unter der radikalen Sparpolitik leidenden Griechen. Genscher spricht den Politikern, die diese Maßnahmen durchsetzen, seinen Respekt aus und zeigt große Sympathie für das Amt eines europäischen Finanzkommissars. Die Idee stammt von Finanzminister Wolfgang Schäuble, den er einen „großen Europäer“ nennt. Gabriel sagt dann noch, im Grunde müsse das Volk über Europa besser aufgeklärt werden.

Demnächst darf übrigens Energie-Kommissar Günther Oettinger bei den Sozialdemokraten reden. Auch der Auftritt des CDU-Politikers könnte mit Blick auf die Bundestagswahl für Spekulationen sorgen.

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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