Das Militär und das Ende der Demokratie
In den vergangen zehn Jahren hat die deutsche Politik ein vollkommen neues Sicherheitsverständnis etabliert. Sie definierte den Begriff der Landesverteidigung um und schuf die Voraussetzungen für eine weitreichende Veränderung der gesamten Sicherheitsarchitektur. Auf diese Weise bereitete sie systematisch Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Landesinneren vor.
Begründet wurde dieser Wandel immer wieder mit den Anschlägen islamistischer Terroristen in westlichen Ländern. „Die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit ist von gestern“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2007. „Nur wenn wir dieses neue Denken auch wirklich anwenden, bleiben Freiheit und Sicherheit angesichts dieser neuen Bedrohung in einer ausgewogenen Balance.“ Und der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble schrieb im „Tagesspiegel“: „Vielfältige und unberechenbare Drohungen nichtstaatlicher Akteure fordern das staatliche Gewaltmonopol heraus. Ob völkerrechtlicher Angriff oder innerstaatliches Verbrechen, ob Kombattant oder Krimineller, ob Krieg oder Frieden: Die überkommenen Begriffe verlieren ihre Trennschärfe und damit ihre Relevanz. Der neue Terrorismus lässt die traditionelle Grenze zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen.”
Seither wurde nicht nur trotz ernst zu nehmender verfassungsrechtlicher Bedenken die Arbeit von Geheimdiensten und Polizei im Berliner Antiterrorzentrum zusammengeführt, inzwischen gibt es auch einen zuvor nicht gekannten zivil-militärischen Bevölkerungsschutz. Dabei agiert die Bundeswehr nicht mehr nur wie früher isoliert in Kasernen und auf Truppenübungsplätzen, sondern sitzt mit ihren Verbindungskommandos auch unmittelbar in den zivilen Einrichtungen des Staates wie etwa den Kreisverwaltungen.
Und nun erteilte das Verfassungsgericht in seinem Beschluss vom 17. August der Bundeswehr bei Inlandseinsätzen wie Naturkatastrophen und „besonders schweren Unglücksfällen“ sogar die Erlaubnis zum Gebrauch von Kriegswaffen.
Einzig der Verfassungsrichter Reinhard Gaier stellte sich in einem Sondervotum gegen seine Kollegen. Das Gericht habe seine Befugnisse weit überschritten, da der Beschluss die Wirkung einer Verfassungsänderung habe, schrieb er. Wer die Trennung von Militär und Polizei aufheben wolle, müsse das Grundgesetz ändern. Das jedoch sei trotz politischer Bemühungen nicht gelungen.
Allerdings schufen die unter Angela Merkel gebildeten Regierungen in den Grenzen, die ihnen die Verfassung vorgab, eine ganz eigene Vorstellung von nationaler Sicherheit. So erfand die schwarz-rote Regierung 2006 die „vernetzte Sicherheit“ und schrieb sie in ihrem Weißbuch als Leitkonzept fest. Demnach gehe es nicht mehr nur allein um die Abwehr militärischer Bedrohungen von außen, sondern auch um „gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle“ Gefahren. Deshalb sei es notwendig, dass die Bundeswehr gemeinsam mit den anderen innerstaatlichen Sicherheitsbehörden dagegen vorgehe. Die Idee des Heimatschutzes nach US-Vorbild war geboren. In den USA gibt es eine „Homeland Security“ mit weitreichenden Befugnissen.
Nach den Vorstellungen der Bundesregierung soll er ganz erheblich durch den Einsatz von Reservisten vor Ort im Sinne der zivil-militärischen Zusammenarbeit gewährleistet werden. „Der Aufgabenschwerpunkt Heimatschutz stärkt das Prinzip ,Dienst an der Allgemeinheit’“, schreibt Verteidigungsminister Thomas de Maizière im Vorwort zur „Konzeption der Reserve“.
Dieser „Dienst an der Allgemeinheit“ umfasst „alle Fähigkeiten der Bundeswehr zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger auf deutschem Hoheitsgebiet“, heißt es in dem Konzeptionspapier. Dazu zähle neben der Landesverteidigung „im klassischen Sinne“ etwa die Abwehr terroristischer Bedrohungen und die Amtshilfe bei Naturkatastrophen. Die Reservisten sollen aber auch bei einem „innerem Notstand“ eingesetzt werden. Dazu zählen neben Unglücksfällen auch Angriffe auf die staatliche Grundordnung.
Auf die Frage, welche Bedeutung gemeinsame Übungen von Reservisten und aktiven Berufssoldaten für den Einsatz gegen gewalttätige Demonstranten haben, weist das Verteidigungsministerium wohl zu Recht darauf hin, dass die Truppe bei Kriseneinsätzen im Ausland über solche Fähigkeiten verfügen müsse. Aber könnten die Reservisten sie nicht auch im Inland anwenden?
Dazu sagt das Verfassungsgericht, „Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge“ drohten, stellten noch keinen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Grundgesetzes dar und erlaubten somit nicht den Einsatz der Bundeswehr. Ein militärischer Einsatz komme nur dann in Frage, wenn „Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes besteht“. Schließlich müsse der Unglücksfall bereits vorliegen. Dies setze zwar nicht notwendigerweise einen bereits eingetretenen Schaden voraus. Aber der Unglücksverlauf müsse bereits begonnen haben und der Eintritt eines katastrophalen Schadens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorstehen. „Der Einsatz der Streitkräfte wie der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel ist zudem auch in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima ratio zulässig“, urteilt das Gericht.
Als die Bundeswehr 2007 ihre neue Heimatschutz-Strategie in die Praxis umsetzte, überzog sie das Land mit einem Netz von „Stützpunkten der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit (ZMZ). Sämtliche Landesregierungen, Landkreise und kreisfreien Städte hätten jetzt „lückenlos und flächendeckend einen militärischen Ansprechpartner“, heißt es dazu auf der Internetseite des Reservistenverbandes. Kritiker sagen, allen zivilstaatlichen Einrichtungen stünden nun militärische Berater zur Seite.
Seither gibt es in jeder Landeshauptstadt ein Landeskommando, hinzu kommen 31 Bezirksverbindungskommandos und 426 Kreisverbindungskommandos. Dort sind die „Regionalen Sicherungs- und Unterstützungkräfte“ (RSUKr) angebunden, insgesamt 2.700 Mann in 27 Kompanien.
Ihr aktuelles Sicherheitskonzept ruhe auf „drei Säulen der Reserve“, schreibt die Bundeswehr: „Die Truppenreserve verstärkt die aktiven Verbände im gesamten Einsatzspektrum. Sie umfasst einzelne Dienstposten und Ergänzungstruppenteile, die bei Bedarf aktiviert werden“, heißt es auf der Internetseite des Ministeriums. Und weiter: „Die Territoriale Reserve entlastet die aktive Truppe im Heimatschutz. Sie besteht aus den Verbindungskommandos zu den Kreisen und Bezirken in Deutschland, den Stützpunkten für die Zivil-Militärische-Zusammenarbeit (ZMZ) sowie den neuen Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskräften.“ Und drittens umfasse die Allgemeine Reserve alle nicht beorderten Reservisten und stehe für den langfristigen Aufwuchs der Bundeswehr bereit. „Sie ist auch Mittler zwischen Bundeswehr und Gesellschaft.“
Aber will die Gesellschaft eine derart enge Verzahnung militärischer und zivilstaatlicher Instrumente? Will sie die Präsenz von Bundeswehr-Vertretern in den Kreisverwaltungen?
In der Polizei gibt es bis heute große Vorbehalte gegen die Forderungen der Politik, Soldaten im Inlandzu Anti-Terror-Einsätzen hinzuzuziehen. Solche Überlegungen zeugten von „einem erstaunlich unbekümmerten Umgang mit dem Grundgesetz“, sagte der frühere Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Norbert Spinrath. Mit seinem aktuellen Urteil ist das Verfassungsgericht sogar noch einen Schritt weiter gegangen.
Wer den durchaus als historisch zu wertenden Richterspruch im Lichte dieser Entwicklung betrachtet, könnte ihn als juristische Legitimation einer politische gewollten und stetig forcierten Strategie begreifen, welche die Väter des Grundgesetzes ganz bewusst verhindern wollten. Denn sie wussten wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch zu gut um den fatalen Zusammenhang zwischen schrankenlosem Militarismus und dem Ende der Demokratie. Seit dem Urteilsspruch am 17. August ist nicht mehr auszuschließen, dass Bundeswehrsoldaten irgendwann auf Bundesbürger schießen.