Es geht um viel, viel mehr als Opel Bochum
Tief im Westen ziehen dunkle Wolken auf. Es wird also Zeit, einmal etwas umfassender über Opel zu reden. Denn die Opelproblematik im Ruhrgebiet ist mehr als eine Frage der Automobilindustrie, sie ist in letzter Konsequenz auch und vor allem eine soziale Frage.
Sollten die Bochumer Werkshallen für immer schließen, wären auf einen Schlag 3.300 Menschen arbeitslos. Verglichen mit den 11.000 Schlecker-Mitarbeiterinnen mag das wenig erscheinen. Aber der erste Eindruck täuscht. Denn es gibt einen gravierenden Unterschied.
Das Schlecker-Desaster vollzog sich nämlich an vielen kleinen Orten in ganz Deutschland und betraf dort jeweils vielleicht einige Dutzend Mitarbeiterinnen. Das heißt, die Auswirkungen für die Regionen waren vergleichsweise gering. Das sich im Ruhrgebiet ankündigende Opel-Drama aber bedroht eine ganze Region.
Warum? Nun, weil an den 3.300 Opelarbeitsplätzen eben auch noch 15.000 Arbeitsplätze bei Zulieferfirmen hängen. Und nicht nur die. Wenn diese Arbeitsplätze wegfallen, bricht auch die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen ein. Wer nur noch Arbeitslosengeld oder gar Hartz IV bekommt, kauft weniger und geht, wenn überhaupt, mal an der Frittenbude essen. Deshalb sagt Helmut Diegel, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittleres Ruhrgebiet: „40.000 Arbeitsplätze in unserem Kammerbezirk hängen an dem Werk.“
Nicht einmal eine so wirtschaftlich starke Region wie der Raum München würde das ohne Schmerzen verkraften. Wie also soll das Ruhrgebiet damit umgehen? Viele haben bereits den Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vergessen , der für den größten deutschen Ballungsraum einen besorgniserregenden Anstieg der Armutsquote konstatierte. „Das Ruhrgebiet hat sich zum Problemgebiet Nummer Eins entwickelt“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider, bei der Vorstellung des Berichts. In Städten wie Dortmund, Duisburg oder Gelsenkirchen müssten mehr als 20 Prozent der Bevölkerung mit weniger als 60 Prozent des deutschen Durchschnittseinkommens auskommen.
Es gibt allein in Ostdeutschland unzählige Beispiele dafür, wie der Niedergang von Industrieregionen die Gesellschaft verändert. Dem Verlust von Arbeit und Wohlstand folgt innerhalb kürzester Zeit der Verlust kultureller Lebensgrundlagen. Theater und Kinos schließen, mit den Kulturschaffenden wandern die mobilen und gut ausgebildeten Teile der Mittelschicht ab, die andernorts einen neuen Job gefunden haben. Wer zurückbleibt, fühlt sich bald schon als Verlierer. Nicht wenige junge Menschen gleiten in einer solchen Situation in die Kriminalität ab.
In den Entscheidungen der Vorstände globalisierter Unternehmen spielen solche Aspekte keine Rolle. Ihnen ist es egal, ob sie ihre Autos in Bochum oder in Korea herstellen, wo nun der Opel-„Mokka“ produziert wird, den die Bochumer gerne gehabt hätten. Sie orientieren sich allein an der Rentabilität ihrer Produktion und den Rendite-Erwartungen der Kapitalgeber. Sind die Löhne oder andere Kosten an einem Standort zu hoch, wird er aufgegeben. Auf diese Weise entscheiden die Manager heute nicht nur über die Existenzgrundlage von Tausenden von Arbeitnehmern, sondern über die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse ganzer Regionen.
Die Politik ist entmachtet. Und sie hat diese Macht nicht nur freiwillig hergegeben, sondern hat sich dazu missbrauchen lassen, die Gesellschaft für die Renditeerwartungen der Konzerne und Investoren massiv zu destabilisieren. Denn zu nichts anderem haben die vielen Minijobs, Ein-Euro-Jobs und Aufstocker-Beschäftigungsverhältnisse geführt.
„Seit dem Jahr 2000 stieg die Zahl der Arbeitslosengeldempfänger um 1,5 Millionen, weil immer mehr niedrig bezahlte Arbeitnehmer staatliche Stütze brauchen“, schreibt das frühere Mitglied im Exekutivkomitee der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, Joachim Jahnke. „Die Zahl der befristeten und Leiharbeitsverhältnisse legte um 1,1 Millionen zu (…) Kein Wunder dann, dass Deutschland über das Jahrzehnt am unteren Ende der internationalen Entwicklung der Löhne und Gehälter rangiert.“
Nicht nur durch den Niedergang von Bergbau und Stahlindustrie, auch und gerade wegen dieser gegen den Wohlstand und die soziale Sicherheit ihrer Bürger gerichteten Politik ist das Ruhrgebiet zur Hartz-IV-Region geworden.
Wenn General Motors das Bochumer Werk tatsächlich schließt und bis zu 40.000 Menschen in ihrer Existenz bedroht, wäre die einstige Herzkammer des Nachkriegswirtschaftswunders wohl endgültig das Armenhaus Deutschlands. Dann aber sollten sich die Politiker vor Schuldzuweisungen hüten und im Wissen um ihre Mitverantwortung beschämt schweigen. Es sei denn, einer von ihnen hätte eine Idee, wie er das Ruhrgebiet wieder zu einer gegen globale Krisen widerstandsfähigen und prosperierenden Region machen könnte.
Günther Lachmann am 7. April2012 für Welt Online