Die unheimliche Stille des deutschen Wutbürgers
Ein Jahr nach den großen Demonstrationen ist es still geworden in der Republik der sogenannten Wutbürger. Hier und da flackert zuweilen der Proteste gegen das als „Stuttgart 21“ bekannt gewordene Bauvorhaben der Bahn auf, aber ansonsten ist wenig zu spüren von der Politikverdrossenheit der Menschen, von ihre Sorge um die Zukunft des Landes.
Dabei hat sich an den politischen Machtverhältnissen seither gar nicht so viel geändert. Zwar regiert in Stuttgart inzwischen der erste grüne Ministerpräsident, aber die CDU ist nach wie vor stärkste Kraft im „Ländle“. Und sie hätte die Landtagswahlen vermutlich auch diesmal wieder gewonnen, wenn Japan nicht von einem Tsunami heimgesucht worden wäre, in dessen Folge und dann vor laufenden Kameras gleich drei Atomreaktoren explodierten. Auch bei den Bürgerschaftswahlen in Bremen und Hamburg haben die Wähler im Wesentlichen die seit eh und je bestehenden Verhältnisse bestätigt. Der Wechsel von Ole von Beust (CDU) auf Olaf Scholz (SPD) in Hamburg ist die Rückkehr zur Nachkriegsnormalität in der Hansestadt. War die ganze Aufregung also nicht mehr als ein Sturm im Wasserglas?
Auf den ersten Blick mag es so scheinen, doch der Schein trügt. Dieses Etwas, das die Menschen stört, das ihnen Unbehagen bereitet und das sie nicht länger tolerieren wollen, das gibt es noch immer. Nach wie vor können manche vielleicht gar nicht genau benennen, was sie stört. Sie spüren nur dieses Gefühl, das da etwas nicht in ihrem Sinne läuft. Aber dieses Unbehagen sitzt tief.
Einige Belege hierfür liefern die Demoskopen. Sie verdeutlichen, wie sehr die Hilflosigkeit der Politik im Umgang mit der Griechenlandkrise den Menschen Angst macht. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der FAZ stellt fest, dass das Vertrauen der Deutschen in die Europäische Union auf einem Tiefpunkt angelangt ist. Die Bevölkerung sei angesichts der Krise rat- und orientierungslos, schreiben die Meinungsforscher. Eine solche Analyse lässt nur den Schluss zu, dass es der Politik nicht gelingt, den Menschen die nötige Sicherheit zu vermitteln und Orientierung zu geben.
Bereits im Herbst 2010 berichtete die Gesellschaft für Konsumforschung aus ihrer jährlichen Umfrage, die Zukunftsangst der Menschen sei noch nie so groß gewesen. Mehr als zwei Drittel fürchten demnach steigende Lebenshaltungskosten und einen Einbruch der Wirtschaft. Alarmierende Nachrichten über Finanzmarktkrisen, Währungskrisen und Rettungsschirme für überschuldete EU-Staaten erschütterten das Sicherheitsbedürfnis der Bürger.
Seither hat sich die Griechenlandkrise weiter verschärft. Folglich dürfte die Furcht der Menschen noch weiter zugenommen haben. Von einer beruhigten Lage kann somit keineswegs die Rede sein.
Auch sollte niemand glauben, all die Sorgen und Nöte, die etwa im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Buches von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ geäußert wurden, seien nun verschwunden, nur weil das mediale Interesse an ihnen versiegt. Das Sarrazin-Buch war ein Ereignis, es wirkte wie ein Ventil, das einer lange angestauten Unzufriedenheit Luft machte. Neben den Integrationsfragen spielte dabei vor allem die übergeordnete Frage der Glaubwürdigkeit der Politik eine Rolle.
Wie ein Ventil wirkten im vergangenen Jahr ebenfalls die großen Demonstrationen gegen die Atompolitik der Bundesregierung. In ihnen entlud sich die ganze Unzufriedenheit der Menschen mit der Politik in Deutschland insgesamt. Besonders deutlich wurde dies, als die Organisatoren der Hauptveranstaltung in Berlin sämtlichen Politikern das Wort verboten. Weder Regierung noch die Opposition sollten die Veranstaltung für ihre Zwecke instrumentalisieren können.
Inzwischen ist zwar der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, doch ansonsten hat sich das Verhältnis zwischen Bürgern und Politik in Deutschland nicht gebessert. Die Glaubwürdigkeit der Politik ist nicht wieder hergestellt. Stattdessen hat sie, gemessen an dem gravierenden Ansehensverlust der FDP und damit der Regierungskoalition, eher noch weiter gelitten.
In der Bevölkerung vollziehen sich zwei parallel zueinander verlaufende Entwicklungen. Während die sich die ablehnende Haltung gegenüber Politikern und Parteien verfestigt, wächst der Wunsch, die Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen neu zu organisieren. Dabei demonstrieren die Wahlberechtigten ihre Ablehnung, indem sie etwa bei den Wahlen in Hamburg und Bremen fast zur Hälfte der Abstimmung fernblieben.
Andernorts gehen sie direkt gegen Beschlüsse der Politik vor. So erreichten wütende Bürger in Berlin über ein Volksbegehren die Offenlegung geheimer Verträge um die Privatisierung der Wasserbetriebe. Unzählige Bürgerinitiativen bekämpfen weiterhin den Bau des Großflughafens am Rande der Hauptstadt.
Daneben gibt es die Konfrontation über das Internet. Seit einiger Zeit rufen „empörte Bürger“ dort zum Widerstand gegen die Energiepolitik der Regierung auf .
All dies geschieht, weil die Parteien und ihre parlamentarischen Vertreter immer weniger in der Lage sind, gesellschaftliche Stimmungen zu erfassen und in politisches Handeln umzusetzen.
Schuld daran sind allerdings beide Seiten, Bürger und Politiker. Irgendwann in den vergangenen Jahrzehnten haben sie sich aus den Augen verloren, sie haben einfach nicht mehr miteinander gesprochen.
Am deutlichsten wurde dies in der Kommunalpolitik. Die funktionierte einst über ein feinmaschiges Gesellschaftsnetz, in dem Politiker, Vereine, Kaufleute und Initiativen eng miteinander verwoben waren. Da aber die Bürger mit den Jahren immer weniger bereit waren, sich in diesen Strukturen zu engagieren, wurde dieses Netz zunächst löchrig, schließlich zerfiel es ganz. Am Ende saßen in den Ortsvereinen der Parteien noch eine Handvoll Leute, die nun, von den alten Kommunikationssträngen in das sonstige Vereins- und Gesellschaftsleben abgehängt, Politik allein unter sich bestimmten.
Der Bürger nahm daran zunächst wenig Anstoß. Er ärgerte sich vielleicht über die eine oder andere Entscheidung. Doch einen Grund für politisches Engagement sah er lange nicht.
Das ging vielleicht zwei Jahrzehnte so. In dieser Zeit entstand in den Parteien eine eigene politische Welt, in der es allein noch um Machtstrategien, Koalitionsfragen und Personalentscheidungen ging. Die realen Bedürfnisse der Gesellschaft aber blieben draußen, sie wurden in dieser Welt nicht mehr richtig wahrgenommen.
Wie tief die Kluft zwischen Politik und Bürger ist, wird heute nirgendwo deutlicher als in der europäischen Schuldenkrise. Europaweit vernetzte Gruppen drängen auch in Deutschland auf eine Runderneuerung der Demokratie oder fordern, wie die Initiative „Echte Demokratie jetzt“, Solidarität mit den Demonstrierenden der Bewegung „Real Democracy“ in Griechenland und Spanien.
In Umfragen haben die Bürger der Regierung von Angela Merkel bereits „das Mandat“ für ihre Rettungspolitik entzogen. Im Juni ist die Stimmung gekippt. Nur noch 45 Prozent befürworten das Regierungshandeln, ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Forsa. Wenn am Sonntag gewählt würde, käme die Koalition nicht einmal mehr auf 40 Prozent.
Die Annahme, der deutsche Protestbürger habe sich zur Ruhe gelegt, wäre also nicht nur voreilig, sondern sogar falsch. Er zwar stiller geworden, aber nicht weniger wütend. Es ist eine unheimliche Stille.
Günther Lachmann am 28. Juni 2011 für das „Düsseldorfer Forum Politische Kommunikation„; Beitrag zur Podiumsdiskussion „Bürger auf den Barrikaden! Proteste im Spannungsfeld von Politik und Medien“