Glück gibt es nur in der Provinz
Im Januar 2003 – Manchen Leuten ist die Provinz einfach eine Nummer zu klein. Herbert Grönemeyer zum Beispiel. Der hat Emden abgesagt, weil nur 5000 Leute in die Nordseehalle passen.
Anderen wie Angela Merkel wird sie zur Nebensache. Sie wähnt die Landbevölkerung als sichere CDU-Wähler und nimmt den Großstädter ins Visier. Ab nächste Woche soll eine „Arbeitsgruppe Großstädte“ Strategien für den politischen Erfolg in Metropolen entwerfen und eben jene Spezies für die CDU gewinnen, von welcher der Kulturphilosoph Oswald Spengler einst behauptete, er sei „der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum“.
Seit dieser Homo sapiens die CDU bei der Bundestagswahl so schändlich missachtete, lässt die Parteivorsitzende ihn nicht mehr aus den Augen – und riskiert dabei den Blick zu verlieren für Kleinstädte wie Wörlitz, Höxter oder eben Emden, ihre Menschen, ihr Denken, ihre Vorstellung vom Glück.
Emden ist der nordwestlichste Festlandzipfel Deutschlands. Von Berlin dorthin sind es 520 Kilometer, von Bremen, der nahegelegensten Großstadt, immerhin noch 150. Und die letzten Kilometer sind quälend, weil die Augen beim Fahren irgendwann keinen Halt mehr finden, weil es hinter Neermoor auf der A 29 links und rechts der Fahrbahn nur noch Wiesen und einen bleiernen Winter-Himmel gibt, der sich von einem Ende des Horizonts bis zum anderen fast beängstigend tief über die Straße wölbt.
In Emden ist Schluss mit der Autobahn. Die Ems ergießt sich in den Dollart. Dahinter kommt die Nordsee. Emden – das ist ein Synonym für Provinz.
Angela Merkel war noch nie in dieser Stadt. Sie mag nicht einmal die Leidensgeschichte der Emder Union kennen, das Scheitern des Dollarthafens unter dem vorerst letzten CDU-Ministerpräsidenten Ernst Albrecht. Die Niederländer legten Anfang der achtziger Jahre ein Veto ein, zogen so gleichsam den Stöpsel und versenkten Albrechts Hafen-Traum im flachen Brackwasser der Emsmündung.
Damit schien die Union hier oben für immer versunken. Aber das kleine Häuflein hielt die Fahne der Christdemokratie hoch gegen die Übermacht der Sozialdemokraten, die Wahlergebnisse um die 70 Prozent erzielten. „Einen besseren Wahlkreis hatten die Sozis vermutlich bundesweit nicht“, erinnert sich der Bezirksvorsitzende Helmut Bongartz, 56.
Jedenfalls bis zum vergangenen Jahr. Da endlich knackte die CDU bei der Kommunalwahl mit Hilfe der FDP (die das „Projekt 18“ offenbar falsch verstand und gleich 18 Prozent hinzugewann) das SPD-Machtmonopol. Die CDU kam auf 26, die FDP auf 24, die Grünen auf sechs und die SPD auf 39 Prozent. „Unsere bürgernahe Politik hat sich durchgesetzt“, sagt Bongartz. Und ausgerechnet jetzt, wo am kommenden Sonntag ein neuer Landtag gewählt wird, predigt die Parteivorsitzende Liberalismus, spricht vom Zeitgeist und rüttelt an Traditionen und Werten.
„Für Ostfriesland ist das nichts“, stellt Bongartz sachlich fest. „Ostfriesland ist eine wertkonservative Region. Hier stehen sogar Teile der SPD weiter rechts als der linke Flügel der CDU. Es ist völlig unangemessen, eine neue Wertorientierung in die CDU zu tragen, etwa den Familiengedanken zu schwächen. Ich glaube nicht, dass die Partei damit in Ostfriesland erfolgreich sein kann.“
Bundespolitischer Erfolg ist ohne Mehrheiten auf dem Land undenkbar. „Wichtig ist, dass sich die Parteien wieder der kommunalen Politik zuwenden“, sagt Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa. Schließlich leben nur zwölf Millionen Deutsche in den Metropolen mit über 500 000 Einwohnern. „Und da ist die Zahl der Nichtwähler größer als die Zahl der Wähler von SPD und CDU zusammen“, weiß der Demoskop. „Auch strategisch gesehen brauchen die Parteien eine personalpolitische Erneuerung von unten.“ Deshalb müssten die Politiker wieder dort Vertrauen finden, wo mit über 50 Millionen Menschen das Gros ihrer Wähler lebt: in der Provinz.
Bongartz wollte Angela Merkel in der Endphase des Landtagswahlkampfs nach Emden holen. Wäre sie gekommen, dann hätte der knorrige 56-jährige Leiter der Polizeiinspektion Leer ihr schon gesagt, wie es in Ostfriesland aussieht und was es wert ist.
Gleich muss er zur Beerdigung seines Nachbarn, und dann will er die morgige Großübung „Geiselnahme“ vorbereiten. „Das müssen wir schließlich auch trainieren“, sagt er, als gäbe es Grund zur Rechtfertigung, nur weil in der Kriminalstatistik seiner Behörde im vergangenen Jahr keine einzige Geiselnahme auftauchte. Fast die Hälfte der 10 809 gemeldeten Straftaten waren Diebstahldelikte. Zu den beliebtesten Diebesgütern zählen nach wie vor Fahrräder.
Emden liebt Hollandräder. Sie heißen „Gazelle“ oder „Batavus“. Mädchen fahren damit zur Schule, Mütter bringen ihre Kinder darauf in die Krippe und Rentnern ist es das bequemste Verkehrsmittel durch die Stadt der kurzen Wege und Kopfsteinpflaster-Gassen, in denen leider nur noch zwei dieser schmalen Bürgerhäuser aus der Renaissance den Zweiten Weltkrieg überlebt haben.
Diese Stadt atmet den Geist einer 1200-jährigen Geschichte. Hier wird die Reformationszeit gegenwärtig, als tausende wegen ihrer Religion Verfolgter aus den Niederlanden, Frankreich und Belgien nach Emden flüchteten und die Große Kirche zur Mutterkirche („Moederkerk“) der calvinistischen Bewegung wurde.
„Soll die CDU sich über Großstädte Gedanken machen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht wieder in unruhiges Fahrwasser geraten“, sinniert Oberbürgermeister Alwin Brinkmann von der SPD. Er sitzt in einer kleinen Pizzeria an der Großen Straße, einer von Bäckereien und kleinen Textil-Filialisten gesäumten Fußgängerzone, die schnurgerade auf das nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaute Rathaus zuläuft. Der 58-Jährige stochert in seinen Tortellini und macht ein Gesicht, als hätte er gerade erst erfahren, dass er im Rat ohne Mehrheit ist.
„Wir haben die Kommunalwahl verloren, weil wir uns nicht mehr genügend um die unmittelbaren Sorgen der Bürger gekümmert haben“, sagt Brinkmann. Er hat die Niederlage bis heute nicht verwunden. Als die SPD noch Mehrheitsfraktion war, ließ sie drei Grundschulen bauen. Aber die Löcher in den Straßen, einen toten Seehund auf der Müllkippe oder einen Wanderweg am Deich haben CDU und FDP zum Thema gemacht. „Die Menschen hier honorieren eine Politik, die ihre kleine, heile Welt erhält, eine Politik, die ebenso konservativ ist wie sie selbst“, glaubt Brinkmann.
Da zeichnet er das Bild jenes Bürgers, auf den die Gesellschaftspolitik der CDU seit Adenauer ausgerichtet ist. Die Union verstand sich immer als Anwalt jener Menschen, die sich über die Studentenproteste von 1968 genauso empörten wie später über die großen Friedensdemonstrationen. Und von diesen Staatsbürgern wurde sie gewählt.
„Wenn wir jetzt nur nicht auch noch die Landtagswahl verlieren“, grummelt Brinkmann in seinen angegrauten Vollbart und schiebt den halbleeren Teller beiseite. „Als Gerhard Schröder hier Ministerpräsident wurde, ging es mit uns aufwärts. Mit Gabriel läuft es auch ganz gut. Aber mit Wulff? Nee, da sehe ich schwarz.“
Schröder sicherte die rund 10 000 Jobs bei VW, investierte Millionen in den Hafen. Darum haben ihn die Menschen hier immer wieder gewählt. Er gab ihnen Arbeit. Und nur derjenige, der Arbeit hat, kann eine Familie ernähren. Was wann wo nötig war, diktierte damals Johann Bruns. Der ist Emder und war Schröders Fraktionsvorsitzender im Landtag. Natürlich half es auch, dass Schröders zweite Frau aus Ostfriesland kam. „Mit Gerhard Schröder bin ich früher hier über den Wall spaziert“, erinnert sich Brinkmann. Und ein erstes Lächeln huscht über sein Gesicht.
Der heutige Bundeskanzler inszenierte seine Politik in Ostfriesland, weihte vor großem Kamera-Aufgebot eine europäische Erdgasleitung ein, zog mit Journalisten-Trupps bosselnd durch die Krummhörn. Hier wurde er auf einem Nordseedeich per Handy vom damaligen SPD-Chef Rudolf Scharping als wirtschaftspolitischer Sprecher gefeuert.
Da wurde die Provinz auf einen Schlag Schauplatz der deutschen Geschichte. Eine im beschaulichen Bonn geschriebene Partei-Ranküne rückte sie ins Rampenlicht der großen Politik. Dabei ist die deutsche Geschichte ein einziges Sammelsurium von Provinzpossen. Dank der jahrhundertelangen Kleinstaaterei fühlte sich die Provinz immer im Recht. Auch die neue Hauptstadt Berlin gilt vielen weit gereisten als provinzilell auf Grund ihrer langjährigen Inselexistenz. Wenn man so will, ist Deutschland eine einzige, endlose Wüste von Provinz.
Einmal in Emden, holte das Fernsehen gleich Thomas Gottschalk und sendete „Wetten, dass ..?“ aus der Hafenstadt. Das ZDF buchte mehrere große Samstagabend-Shows. Junge, aufstrebende Schauspieler wie Kai Wiesinger und Thomas Heinze stellten ihre ersten Filme auf dem Emder Filmfest vor. Die Provinz wurde zum medialen Ereignis.
Die Kameras verschwanden, und zurück blieben die Hafen-, VW- und Werftarbeiter. Die Stadt ist wieder sie selbst.
„Wir sind ein Mittelzentrum, ohne ICE-Anschluss und mit beschränkten Verdienstmöglichkeiten. Solche Faktoren prägen die gesamte weitere wirtschaftliche Entwicklung“, sagt Brinkmann. Das betrifft vor allem den Arbeitsmarkt. Volkswagen und die Werften bieten Wissenschaftlern und Ingenieuren zwar ein breites Spektrum an Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten. Aber wenn sie sich einen Namen gemacht haben, wechseln sie nach kurzer Zeit in die Großstadt. „Unser Problem ist, dass immer die besten Leute weggehen“, bekennt der Oberbürgermeister. Die bekanntesten sind Menschen wie „Stern“-Gründer Henri Nannen, Hollywood-Regisseur Wolfgang Petersen oder Otto.
Diese Leute gingen dorthin, wo das Leben Stoff für ihre Geschichten bot: in die Metropolen. Wo Menschen aller Kulturen und Nationen zusammentreffen, weil sie weg wollen vom täglichen Einerlei der Provinz und zwar dorthin, wo aus unterschiedlichsten Lebensformen und Identitäten neue Gesellschaftsbilder mit neuen Wertvorstellungen erwachsen.
Brinkmanns Welt ist das nicht. Er ist froh, dass die große Werft rechtzeitig zum 100-jährigen Bestehen im kommenden Jahr nach zwei Dekaden Dauerkrise wieder aus dem Gröbsten raus ist. Auch die Mitarbeiter der Nordseewerke GmbH wollen von dem Stadtgerede nichts wissen. „Wichtig ist, dass du Arbeit hast“, sagt Albert Vogeler, 53. Seit 38 Jahren trägt er den Blaumann der Nordseewerke. Schiffszimmerer hat er gelernt. Wenn der Werft in den achtziger Jahren nicht die Aufträge weggebrochen wären, hätte er Emden womöglich nie verlassen. So jedoch mussten er und seine Kollegen viele Jahre auf Montage nach Kiel oder Flensburg. „Wir hatten immer wieder Möglichkeiten, dort fest angestellt zu werden. Aber das wollte keiner von uns“, sagt Fokken. „Der Ostfriese ist bodenständig, der lässt sich nicht gerne verfrachten“, fügt Henze hinzu.
Jetzt sprechen sie Hochdeutsch, aber ihre Werftsprache ist Plattdeutsch. Das Plattdeutsche gibt ihnen eine eigene Identität, wie der Tee mit Kluntje und Sahne. Und was bedeutet für sie Glück? „Erst baust du dir ein Haus. Da helfen Freunde und Familie mit. Und dann wird geheiratet. So macht das der Ostfriese“, sagt Jannes Schoolmann, 53. Das haben schon ihre Urgroßeltern so gemacht. Und ihre Kinder, die ohne höheren Bildungsabschluss die Schule verlassen, machen es wieder.
Diese Lebensplanung blendet den von Merkel neu entdeckten Zeitgeist aus, grenzt sich ab gegen urban-kulturelle Einflüsse und widerstrebt jeder Form einer gesellschaftlichen Erneuerung durch die Auseinandersetzung mit fremden Lebensauffassungen. Sie hält fest an christlichen Überzeugungen, legt Wert auf Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, auf bürgerschaftliches Engagement und bezieht all ihre Kraft aus der tiefen Verwurzelung im Traditionellen.
Nur wenige erheben höhere Ansprüche. „Was ich am meisten vermisse, ist gutes Theater“, räumt Eske Nannen ein. Die Witwe des „Stern“-Gründers und langjährigen Chefredakteurs Henri Nannen lebte viele Jahre in Berlin, hat dort die „Schaubühne“ lieben gelernt. Mit triefender Nase saust sie durch die Kunsthalle, die ihr Mann seiner Heimatstadt hinterlassen hat. „Ich hätte nicht mit Fieber zur Trauerfeier für Rudolf Augstein fahren sollen.“
Sie trägt eine schwarz-weiß karierte Jacke und eine schwarze Hose, das Haar ist etwas kürzer als früher. Doch ist es immer noch genauso schwer, ihren Redefluss zu unterbrechen. „Ich glaube, was die Emder auszeichnet, ist, dass sie ein überdurchschnittlich großes Interesse an dem haben, was in ihrer Stadt passiert“, sagt sie. Und sie erinnert sich, wie sie Tage nach einem Talk-Show-Auftritt, bei dem sie leidenschaftlich für Kunsthalle und Malschule argumentiert hatte, in der Innenstadt von einem ihr unbekannten Emder angesprochen wurde, der ihr die Hand auf den Arm legte und sagte: „Dat hest du goed maakt (Das hast du gut gemacht).“
So einer ist Heinke Fokken. Gut 15 Jahre fuhr der 60-Jährige als Maschinist auf Erzfrachtern um den Erdball. Heute versorgt er die Matjes-Bude am Hafentor. Es ist acht Uhr früh. Fokken schleppt Heringskisten in den Imbiss und sieht aus, wie sich der Stadtmensch einen Seemann so vorstellt: mit Prinz-Heinrich-Mütze, goldenem Ring im linken Ohr und einem blauen Pullover mit Reißverschluss-Rollkragen. Lausig kalt ist es. Dichter Nebel liegt auf der Stadt, tropft von den Masten und Tauen der Segler im Ratsdelft aufs Pflaster. „Der da drüben ist ein umgebauter Walfänger. Gehört einem Holländer. Der lässt ihn über Winter hier“, sagt er und zeigt mit seinem Fischmesser auf einen gut 60 Meter langen weißen Dreimaster am Kai. Der schmale Binnenhafen mitten im Stadtzentrum ist gut belegt. Neben dem Feuerschiff, einem Seenotrettungskreuzer und dem Segel-Logger „AE 7“, die immer hier liegen, haben etwa 15 Yachten und Boote festgemacht.
„Sieht das nicht gut aus?“, fragt Fokken und schaut einen an mit diesen Augen, in die das Gegenüber eintaucht wie ein Schwimmer ins warme Mittelmeer. „Das ist das Kapital der Stadt. Nur wegen der Schiffe kommen 30 000 Touristen zu den Matjes-Tagen oder zum Delftfest.“ Weil sie genau das hier erwarten, Tradition, ein Stück Seefahrtsgeschichte, den Geruch einer glücklichen Zeit, kurz: etwas, woran sich der Mensch festhalten kann.
Günther Lachmann im Januar 2003 für die Welt am Sonntag. Der Beitrag erschien am 26.01.2003.