Arbeitnehmer bezahlen den Aufschwung
Zweifellos ist die Leistung der deutschen Wirtschaft enorm. Im Vergleich zum Vorquartal stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) diesmal um 1,5 Prozent und überschritt erstmals wieder das Vorkrisenniveau von Anfang 2008. Und im Vergleich zum Vorjahr legte die Wirtschaftsleistung preisbereinigt sogar um 5,2 Prozent zu, das ist so stark wie noch nie seit der Wiedervereinigung.
Aber wie und wo zahlt sich diese Leistung aus? Diese Information verschweigen die nackten Konjunkturdaten. Wer also etwas über die Qualität des Wachstums für die Menschen erfahren will, muss andere Informationen hinzuziehen.
„Die Gewinne deutscher Großkonzerne steigen“, schrieb die „FAZ“ bereits im Juli des vergangenen Jahres. „Egal ob Chemie, Elektrotechnik, Autos, Lastwagen oder Luftverkehr: Die jüngsten Unternehmenszahlen deuten auf eine rasante Erholung hin“, so „FAZ“.
Daran hat sich in diesem Jahr nichts geändert, wie „Welt Online“ im April berichtete .
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren wachsende Gewinne der Unternehmen immer eine Garantie für steigenden Arbeitnehmereinkommen und Steuereinnahmen des Staates. Ohne diese Verteilung der erzielten Zuwächse wären das deutsche Wirtschaftswunder und der enorme Wohlstandsgewinn in Deutschland nicht möglich gewesen.
Auch heute noch partizipiert der Staat in großem Maße am volkswirtschaftlichen Erfolg. Drei Jahre nach dem weltweiten Zusammenbruch der Wirtschaft werden die Einnahmen des deutschen Staates wieder das Niveau von 2008 erreichen, kündigen die Steuerschätzer an. Sie erwarten Mehreinnahmen in Höhe von sage und schreibe 17, 6 Milliarden Euro. Insgesamt wird der Staat damit 555 Milliarden Euro einnehmen. Der Nachkriegsrekord lag bei 561 Milliarden Euro und wurde exakt vor dem Zusammenbruch der Weltwirtschaft erzielt.
Bergauf geht es auch wieder mit der Arbeitsproduktivität. Die Zahl drückt die die durch einen Arbeitnehmer oder die in einer Arbeitsstunde erzielte Wertschöpfung aus. Sie war nach einem steilen Anstieg von 1991 2008 kurzzeitig gering zurückgegangen und steigt nun wieder.
Nur die preisbereinigten Einkommen der Arbeitnehmer können mit der guten Aufwärtsentwicklung nicht mithalten. Im Gegenteil. Sie sinken. Und das nicht erst seit gestern.
Ein Blick in den „Global Wage Report“ der „International Labour Organisation“ (ILO) offenbart: Von 26 „entwickelten Ländern“ sanken die Realeinkommen in den Jahren von 2000 bis 2009 in nur drei Staaten, nämlich in Israel (-0,6 Prozent), in Japan (-1,8 Prozent) und in Deutschland (-4,5 Prozent).
„Neben den moderaten Tarifabschlüssen der vergangenen Jahre sind die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Zunahme von atypischen Beschäftigungsformen – wie Zeitarbeit und 400-Euro-Jobs – wesentliche Gründe für das schlechte Abschneiden“, schreibt die ILO.
Und weiter: „Der höhere Anteil von atypisch Beschäftigen führt dazu, dass die durchschnittlichen Monatsverdienste aller Arbeitnehmer im Jahr 2009 mit 2154 Euro brutto deutlich unter dem Niveau der 1990er-Jahre lagen.“
Dazu passt eine aktuelle Meldung der „Bild“-Zeitung. Danach müssen immer mehr Berufstätige ihr Einkommen durch „Hartz IV“ aufstocken. Ihre Zahl stieg um 4,4 Prozent auf 1,38 Millionen. Gegenüber dem Jahr 2007 beträgt die Zunahme sogar 13 Prozent. „Besonders stark war der Anstieg bei Teilzeit- und Minijobs, aber auch bei Selbstständigen“, schreibt die „Bild“-Zeitung.
In Deutschland habe die Abkopplung der Löhne und Gehälter von der Produktivitätsentwicklung zu einem „merklichen Rückgang des Anteils der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen“ geführt, konstatiert die ILO. Folglich ist der Aufschwung durch sinkende Realeinkommen erkauft worden. Oder anders ausgedrückt, die Arbeitnehmer bezahlen ihn.
Günther Lachmann am 13. Mai 2011 für Welt Online