Diese SPD ist ein unkalkulierbares Risiko – auch für sich selbst

Mit Politikern wie Peer Steinbrück und Frank Walter Steinmeier hat die SPD das Land neoliberalisiert. Sie hat es an die Konzerne und Finanzmärkte verkauft.  Heute ist die einst große, fortschrittliche Partei zu einem kümmerlichen Häuflein von einfallslosen Ja-Sagern verkommen...

Die SPD ist die älteste deutsche Partei. Ohne die aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen Sozialdemokraten hätte Reichskanzler Otto von Bismarck 1883 und 1884 niemals die Sozialversicherung für Arbeitnehmer eingeführt. Auf die SPD gehen aber auch fast alle grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Reformen der Bundesrepublik zurück. Die von ihr geführte sozial-liberale Koalition stellte in den 1970er Jahren mit einem neuen Scheidungsrecht Mann und Frau gleich. Sie schuf den zweiten Bildungsweg und die staatliche Ausbildungsförderung von Kindern einkommensschwacher Familien. Nicht weniger revolutionär war die Einführung der staatlich geförderten Vermögensbildung, die auch Arbeitern den Eigentumserwerb ermöglichen sollte.

Jede dieser Änderungen kam damals einer Revolution gleich, die von der CDU massiv bekämpft wurde. In jener Zeit gingen die gesellschaftspolitischen Vorstellungen von Sozialdemokraten und Christdemokraten weit auseinander.

Gegen den Protest der Union und Arbeitgeber verabschiedete die SPD ein neues Jugendarbeitsschutzgesetz und hob die Kleinrenten an. Sie schuf ein neues Betriebsverfassungsgesetz, das die Befugnisse des Betriebsrats erweiterte und den Gewerkschaften den freien Zugang in die Betriebe ermöglichte. Und dann verbesserte sie mit dem 1976 verabschiedeten Mitbestimmungsgesetz auch noch die Mitsprachemöglichkeiten von Arbeitern und Angestellten in Unternehmen.

Es ist auch in der Rückbetrachtung immer wieder erstaunlich, wie umfassend und nachhaltig die politischen Weichenstellungen dieses sozial-liberalen Jahrzehnts waren.  Damals war die Sozialdemokratie gesellschaftspolitische Avantgarde, auch wenn sie die ökologische Frage ebenso unterschätzte wie die Furcht der Menschen vor einem Atomkrieg.

Nach dem Bruch der Koalition im Jahr 1982 durch die FDP ging die Partei dann durch ein tiefes Tal. Erstens verloren sie Wählerstimmen an die aus der Friedens- und Ökologiebewegung hervorgegangenen Grünen, zweitens brachen ihr mit dem Zusammenbruch es Ostblocks auch Teile ihres ideologischen Gerüstes weg. Es folgte eine Zeit der Orientierungslosigkeit, die 1998 mit dem Wahlsieg Gerhard Schröders und dem sogenannten „dritten Weg“ zu Enden schien.

Doch diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Niemand ahnte 1998, dass die Partei auf dem „dritten Weg“ ihr Selbstverständnis und zigtausende enttäuschter Genossen verlieren würde. Ihre Zahl fiel von ehemals über einer Million auf heute 484.000 Mitglieder. Die Genossen gingen, weil sie erkannten, dass Schröders Politik nichts weiter war als eine billige Neuetikettierung neoliberaler Politik.

Schröder brach radikal mit den Grundsätzen sozialdemokratischer Politik, mit ihrem Verständnis von Sozialstaat, sozialer Marktwirtschaft und gesellschaftlicher Teilhabe. Und mit der gleichen Radikalität, mit der Willy Brandt dreißig Jahre zuvor die gesellschaftspolitischen Strukturen zugunsten Benachteiligter verändert hatte, veränderte Schröder sie zugunsten der Finanzindustrie und der Konzerne.

Wer die SPD nicht verließ, mutierte mit ihr zu einer anderen Partei. Wie sehr die von Schröder veränderte SPD diese neoliberale Politik verinnerlicht hatte, zeigt sich daran, dass sie auch nach Schröders Abwahl 2005 in der großen Koalition unter Führung von Angela Merkel daran festhielt. Blicken wir einmal zurück: In der Zeit von 1998 bis 2008 verabschiedete der Bundestag nach amerikanischem und britischem Vorbild insgesamt 38 Gesetze und Verordnungen, die zur „Förderung und Liberalisierung der Finanzmärkte und des Bankensektors“ beitrugen.

Ein Teil dieser Liberalisierungsgesetze fiel in die Amtszeit von Finanzminister Peer Steinbrück (2005 – 2009), der sich nun offen um die Kanzlerkandidatur bewirbt. Er ist der Wolf im Schafspelz. Steinbrück geriert sich als Retter der in der Not einer Finanzkrise, zu der er politisch selbst kräftig beigetragen hat. Auch der zweite mögliche SPD-Kanzlerkandidat ist ein Mann aus dieser Zeit. Frank Walter Steinmeier gilt als Kopf der Agenda 2010, also der einschneidendsten Sozialreformen in der Geschichte der Bundesrepublik. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel, der wohl angesichts seiner niedrigen Popularitätswerte und der aktuellen Umfragen, in denen die SPD bei gerade mal 26 Prozent der Wählerstimmen liegt, nicht mehr kandidieren will, ist ebenfalls ein Schröder-Zögling.

Mit ihnen an der Spitze steht die älteste deutsche Partei, die sich immer als Motor des Fortschritts verstand, die als Leitbild einen demokratischen Sozialismus verfolgte, in dem das Aufstiegsversprechen an den sozial Schwachen das zentrale politische Motiv war, heute mit leeren Händen da. Die Idee vom demokratischen Sozialismus ist ihr nach 1990 abhanden gekommen, das Aufstiegsversprechen hat sie mit der Schröderschern Politik gebrochen, in dessen Regierungszeit sich die Schwere zwischen Arm und Reich so weit wie nie zuvor öffnete. Mit der Ausweitung der Leiharbeit schaffte die SPD jene Armutslöhne, die sie heute beklagt und durch Mindestlöhne wieder korrigieren will.

Hat diese Partei heute etwas, das sie begehrenswert machen könnte? Was hat sie, das sie von den anderen abhebt? Wo ist der zutiefst sozialdemokratische Politikentwurf, der ihre Zukunftsfähigkeit belegt?

Auf alle drängenden Fragen der Zeit weiß die SPD ebenso wenig eine Antwort wie die anderen Parteien. Sie besitzt kein schlüssiges Konzept gegen die drohende Altersarmut, die sie übrigens mit ihrer Niedriglohnpolitik selbst mitverschuldet hat. Gabriels Vorschlag von einer Mindestrente in Höhe von 850 Euro ist noch unausgegoren. Ungelöst ist nach wie vor, wie das Gesundheitswesen finanziert werden soll. Die Erfolge der Bildungsreformen der siebziger Jahre sind längst verpufft, neue Ideen besitzt auch die SPD nicht.

Am gravierendsten aber ist das Fehlen eines überzeugenden wirtschaftspolitischen Entwurfs. Wer, wenn nicht die SPD müsste nachhaltiges Wirtschaften, das die Ressourcen schont und Arbeitsplätze schafft zu ihrem Thema machen? Oder hat sie die Arbeit als zentralen Begriff längst aus den Augen verloren?

Nicht einmal in der Europapolitik, die übrigens ebenfalls ein zutiefst sozialdemokratisches Thema ist, kann die SPD prägend in die Debatte eingreifen. Sie steht sprachlos neben den Bürgerprotesten gegen die Euro-Politik und unterstützt stattdessen die Regierung. Weil sie nicht in der Lage ist, eigene Vorstellungen zu entwickeln, hilft sie Angela Merkel und den anderen Regierungschefs beim Aufbau neuer Machtstrukturen, die mit Demokratie nicht mehr viel zu tun haben. Die SPD-Abgeordneten heben jedes Mal zustimmend die Hand, wenn der Bundestag über neue Milliardenhilfen abstimmt, die den Steuerzahler inzwischen mit Billionen-Risiken belasten.

Die SPD ist zur Ja-Sager-Partei geworden, die sich in Teilen für ihre jüngste Vergangenheit schämt, aber zu etwas wirklich Neuem nicht in der Lage ist. Die Partei ist verwirrt, an sich selbst irre geworden auf den neoliberalen Abwegen. Sie bräuchte dringend Hilfe. Ans Regieren sollte sie vorerst lieber nicht denken. Denn diese SPD ist ein unkalkulierbares Risiko – auch für sich selbst.

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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