Der verdrängte Kulturkonflikt

Quelle: Von Kyle Cronan at the English Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3131366 Quelle: Von Kyle Cronan at the English Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3131366

 

Die Coronapandemie überdeckt derzeit alle anderen Risiken und Gefahren für die westlichen Gesellschaften. Droht ein neuer Antagonismus der Weltkulturen?

Nachdem vor einiger Zeit schon Barbara Tuchmans Buch aus den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts „Die Torheit der Regierenden“ vorgestellt wurde, soll hier ein weiterer Klassiker der politischen Literatur besprochen werden: Samuel P. Huntington (geb. 1927 – gest. 2008), „Kampf der Kulturen“ (1996 unter dem Titel „Clash of Civilizations“ erschienen; hier verwendet wurde die Taschenbuchausgabe 2002, in der Folge: KK). Dieses Buch sorgt bis zum heutigen Tag für heftige Diskussionen. Im Vorwort zu seinem Buch erwähnte der Politikwissenschaftler, der an der Harvard-Universität in Cambridge (USA) lehrte, dass schon sein Aufsatz von 1993 in der Zeitschrift Foreign Affairs, der den ersten Entwurf für das in seinem Buch dann tiefer ausgeführte Thema bildete, mehr Debatten provoziert habe als alles, was er sonst geschrieben habe:

„Von allen fünf Kontinenten aus Dutzenden von Ländern kamen Reaktionen und Kommentare. Die Leser waren abwechselnd beeindruckt, empört, besorgt und ratlos ob meiner These, daß die zentrale und gefährlichste Dimension der kommenden globalen Politik der Konflikt zwischen Gruppen aus unterschiedlichen Zivilisationen sein werde. Was immer er sonst wert sein mochte, der Artikel hatte einen Nerv in Menschen aller Zivilisationen getroffen.“

Man kann aus aktueller Perspektive sagen: das gilt für sein Buch ebenso und bis zum heutigen Tag. Manchmal hat man aber auch den Eindruck, dass Huntingtons Buch eines dieser Werke ist, die jeder kennt, jeder nennt, aber viele gar nicht gelesen haben.

Antagonismus neuer Qualität

In Huntingtons Buch geht es u.a. um „die Konflikte, die westlicher Universalismus, muslimische Militanz und chinesisches Auftrumpfen erzeugen“:

„Kultur und die Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt.“ (KK, S. 19)

Die Annahme von der Kohärenz der Kulturräume ist bis heute umstritten, und wie damals in den 90er-Jahren wird sie auch heute noch diskutiert. So stellt in einer interessanten Rezension des Buches des chinesischen Philosophen Zhao Tingyang vom April 2020 der Rezensent Jürgen Osterhammel irritiert fest, dass auch dem chinesischen Denken zwar Vorstellungen von einer zukünftigen Welt der andauernden nationalstaatlichen Konflikte als Kampf aller gegen alle (Thomas Hobbes) oder als ständig gewaltsam ausgetragene Zivilisationskonflikte (Samuel P. Huntington) durchaus ein Graus seien, dass die chinesische Lösung, um diese Weltunordnung zu vermeiden, aber wieder mitten in die Frage führen könnte, welche kulturellen Maßstäbe letztlich global die Oberhand gewinnen werden, welche Zivilisation global die Dominanz erringen wird. Denn hinter Zhaos zentralem Begriff „tianxia“ („alles unter dem Himmel“), steckt wohl die Vorstellung von einer geeinten Menschheit in einer harmonischen Weltordnung unter dem Primat einer gütigen chinesischen Herrschaft nach Vorstellungen der Tribut-Beziehungen aus der Zeit der Zhou-Dynastie.

Die Nennung Huntingtons und des Schlagworts „Zivilisationskonflikte“ zeigt deutlich, wie sehr man sich mit seinen Aussagen auch heute noch beschäftigt. Seine These, dass nach dem Ende des Kalten Kriegs die fundamentaleren Spaltungen der Menschheit nach Ethnien, Religionen und Kulturkreisen weiterhin bestehen und neue Konflikte erzeugen würden, wird immer wieder zitiert, und wenn es nur dazu dient, um sich in aller Empörung von diesen Thesen abzugrenzen.

Huntingtons Buch ist, wenig überraschend, vor allem im Linksspektrum, nicht gut gelitten. Es stört, dass mit dem Begriff „Kultur“ mögliche Bruchlinien und Konfliktpotenziale aufgezeigt werden, die es in der globalisierten Welt des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts eigentlich nur noch als Randprobleme geben dürfte. Als Argumentationsstrategie verbleibt oft nur noch, die Bedeutung von kulturellen Prägungen und deren Einfluss auf die Weltpolitik abzuschwächen oder in Gänze zurückzuweisen. Und am einfachsten ist es natürlich, die Problematisierung kultureller Unterschiede als Ausdruck eines dumpfen Rassismus zu brandmarken, um jede weitere Diskussion zu beenden.

Ein qualifizierterer Umgang mit dem Buch und seinen Thesen gesteht immerhin zu, dass Huntingtons „Diagnose von kulturellen Antagonismen neuer Qualität, verbunden mit einer pessimistischen Zeitdiagnose“ (Tobias ten Brink, Staatskonflikte, S. 147) ein Umdenken Mitte der 90er-Jahre reflektiere, denn vorher hatte man den Weg aus der Beschränkung des Nationalstaats hin zur globalen, konfliktfreien und kulturell durch die universalistischen Werte des Westens geprägten Weltgesellschaft als unumkehrbar angesehen.

Im konservativen Lager ist man dann nach dem Anschlag vom 11. September 2001 und anderen islamistischen Terroraktionen wieder sensibilisiert worden für die Einsicht, dass kulturelle Gegensätze als ein Faktor für Konflikte in der Weltpolitik ernst zu nehmen sind. Damit einhergehend ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob der westliche Universalismus mit den ihm eigenen Prinzipien der demokratischer Willensbildung, des unveräußerlichen Menschenrechts und des Individualismus weiterhin als quasi selbstverständliche Grundlage einer globalen Zivilisation angesehen werden sollte.

Für Huntington war das allerdings keine Frage mehr: Die Zeiten einer westlichen Dominanz auf unserem Planeten, sowohl machtpolitisch wie auch kulturell oder wertemäßig, sind endgültig vorbei. Allerdings ist die Welt in ständigem Wandel; Huntington beschreibt aus Sicht der 90er-Jahre ein mögliches Paradigma der internationalen Entwicklungen, räumt aber ein, dass kein Paradigma für alle Zeiten gültig sein muss:

„Zwar mag ein kultureller Ansatz geeignet sein, das Verständnis für die globale Politik Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts zu erleichtern; das heißt nicht, daß er Mitte des 20. Jahrhunderts ebenso hilfreich gewesen wäre oder daß er Mitte des 21. Jahrhunderts noch hilfreich sein wird.“ (KK, S. 12)

Konzept einer künftigen Weltordnung

Der Originaltitel des Buches des amerikanischen Wissenschaftlers lautet „Clash of Civilisations“, was im Wortsinne eigentlich nicht Kampf, sondern Zusammenstoß oder Zusammenprall der Kulturen meint. Huntington sieht ein Mit- und Gegeneinander von Völkern verschiedener kulturellen Prägungen, wie sie sich im Laufe der menschlichen Geschichte entwickelt haben. Im Aufeinandertreffen der Interessen in einer globalisierten Welt kommen auch die verschiedenen kulturellen und religiösen Weltsichten zur Geltung. Natürlich wurde und wird Huntington kritisiert, dass er in seinem Konzept einer künftigen Weltordnung, in der die Konfliktlinien zwischen den Kulturen verlaufen werden, im Grunde nur den sozialdarwinistischen Kampf ums Dasein auf die Ebene der globalen Kulturen gehoben hat.

Dem kann man nicht völlig widersprechen, denn in Huntingtons Sichtweise können die Unterschiede zwischen den großen Weltkulturen, „jenen Kulturkreisen (= Zivilisationen), die allgemein als die großen der menschlichen Geschichte angesehen werden“ (KK, S. 54), zu großen oder sogar den Weltfrieden bedrohenden Konflikten führen, und es könnte Sieger und Verlierer geben. Zum Zeitpunkt, als Samuel P. Huntington sein Buch schrieb, war er überzeugt, dass die Welt in eine Zeit der kulturell bedingten Konflikte eintreten wird.

In der Folge wird versucht nachzuvollziehen, wie Huntington zu seiner These über den künftigen spannungsreichen Zusammenprall der Kulturen kommt. Sein Buch hat er in fünf Teile gegliedert, in denen er seine zentrale Aussage vertieft (paraphrasiert und leicht gekürzt; KK, S. 19):

  1. Zum erstenmal in der Geschichte ist globale Politik sowohl multipolar als auch multikulturell; Verwestlichung ist etwas anderes als wirtschaftliche und soziale Modernisierung. Eine universale Kultur wird durch die Modernisierung von nichtwestlichen Gesellschaften nicht geschaffen.
  2. Das Machtgleichgewicht zwischen den Kulturkreisen verschiebt sich: Der Westen verliert an relativem Einfluss, asiatische Kulturen verstärken ihre wirtschaftliche, militärische und politische Macht; der Islam erlebt eine Bevölkerungsexplosion mit destabilisierenden Folgen für muslimische Länder und ihre Nachbarn.
  3. Eine auf konkurrierenden kulturellen Werten basierende Weltordnung ist im Entstehen begriffen: Gesellschaften, die durch kulturelle Affinitäten verbunden sind, kooperieren miteinander. Die Länder gruppieren sich um die Führungs- oder Kernstaaten ihrer Kultur.
  4. Seine universalistischen Ansprüche bringen den Westen zunehmend in Konflikt mit anderen Kulturkreisen, am gravierendsten mit dem Islam und China.
  5. Der Westen muss einsehen, dass seine Kultur vielleicht einzigartig, aber nicht universal ist; er muss sich einigen, um seine Kultur vor den Herausforderungen durch nichtwestliche Gesellschaften zu schützen. In der globalen Politik ist ein weltweiter Kampf der Kulturen nur zu vermeiden, wenn unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen berücksichtig werden.

Die Rivalität der Supermächte wird in Huntingtons Sichtweise abgelöst von den Konflikten der Kulturen, die als grundlegende sinnstiftende Einheiten in eine zentrale Position rücken. Huntington macht, das sei hier noch nachgetragen, keinen Unterschied zwischen den Begriffen „Kultur“ und „Zivilisation“, so wie es außer in Deutschland überall in der Welt üblich ist. Kultur bzw. Zivilisation umfasst somit alles vom Menschen Geschaffene, das ihn über ein bloßes biologisches Vegetieren hinaushebt, wie z. B. Brauchtum, Sitte, Rechtsregeln, staatliche Organisation, Kunst, Sprache und Religion. Eine bestimmte Kultur grenzt sich vielleicht durch Sprache und Lebensweise von anderen Kulturen ab, ist aber mit allen seinen Unterschieden zu seinen Nachbarkulturen innerhalb eines großen Kulturkreises, der sich von den anderen Kulturkreisen der Welt abhebt:

„Ein Kulturkreis ist demnach die höchste kulturelle Gruppierung von Menschen und die allgemeinste Ebene kultureller Identität des Menschen unterhalb der Ebene, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Sie definiert sich sowohl durch gemeinsame objektive Elemente wie Sprache, Geschichte, Religion, Sitte, Institutionen als auch durch die subjektive Identifikation der Menschen mit ihr. Menschen besitzen mehrere Ebenen der Identität: Ein Einwohner Roms kann sich mit unterschiedlichem Nachdruck als Römer, Italiener, Katholik, Christ, Europäer, Westler definieren. Die Kultur, zu der er gehört, ist die allgemeinste Ebene der Identifikation, mit der er sich nachdrücklich identifiziert. Kulturkreise sind das umfassendste „Wir“, in dem wir uns kulturell zu Hause fühlen, gegenüber allen „Sie“ da draußen.“ (KK, S. 54)

Die Religion macht den Unterschied

Das Hauptunterscheidungsmerkmal von Kulturen ist für Huntington aber die Religion, der „tiefgreifendste Unterschied, den es zwischen Menschen geben kann“ (KK, S. 414). Seine Kulturkreise sind dann auch entlang der religiösen Bruchlinien definiert. Der Politikwissenschaftler sieht Kulturkreise als sinnvolle Einheiten an, auch wenn die Grenzlinien zwischen ihnen selten scharf gezogen werden könnten, da sie im Unterschied zu manchen Weltreichen sehr dauerhafte Gebilde sind:

„Kulturkreise haben keine klar umrissenen Grenzen, ihre Entstehung und ihr Ende stehen nicht präzise fest. Die Kulturen von Völkern wirken aufeinander ein und überlagern sich. Der Umfang, in dem die Kulturen von Kulturkreisen einander ähneln oder sich voneinander unterscheiden, variiert ebenfalls beträchtlich.“ (KK, S. 54)

Samuel P. Huntington geht (KK, S. 56/62) grob von einer Aufgliederung in acht verschiedene Kulturkreise aus:

  • sinischer Kulturkreis (chinesische Welt, konfuzianisch geprägt, unter Einschluss Vietnams und Koreas),
  • japanischer Kulturkreis (einziger Staat ist Japan),
  • hinduistischer Kulturkreis (indischer Subkontinent),
  • islamischer Kulturkreis (zurzeit kein Kernstaat, aber aufgeteilt in arabische, türkische, persische und malaiische Subkultur),
  • orthodoxer Kulturkreis (als Kernstaat fungiert hier Russland),
  • westlicher Kulturkreis (zwischen 700 und 800 n. Chr. als Abendland in Europa entstanden, historisch wechselnde Kern- und Führungsstaaten wie Deutschland, Frankreich, England, reicht nun bis Nordamerika sowie Australien/Neuseeland),
  • lateinamerikanischer Kulturkreis (in enger Anlehnung an die westliche Kultur),
  • afrikanischer Kulturkreis (Subsahara-Afrika).

Der westliche Kulturkreis, der sich im Gefolge des Imperialismus weit ausgedehnt hat, ist geprägt von seinem klassischen Erbe aus der griechisch-römischen Antike und dem europäischen Mittelalter (Philosophie, römisches Recht, Christentum, Sprachvielfalt, Pluralismus der verschiedenen Herrschaftsformen, Dualismus von weltlicher und geistlicher Macht), aber auch von den Ideen des Naturrechts, der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung, der Demokratie und des Individualismus, wie sie dann in der europäischen Aufklärung zum Durchbruch kamen. Mögen einzelne Begriffe oder Institutionen auch für andere Kulturräume Bedeutung haben, so ist es diese Kombination der kulturellen Faktoren, die den Westen ausmachen und ihn von anderen Kulturkreisen unterscheiden. Dieser Kulturkreis hat eine gewisse Ausnahmestellung, denn

„der Westen unterscheidet sich offensichtlich von allen anderen Kulturkreisen, die bisher existiert haben, durch seine überwältigende Auswirkung auf alle Kulturen, die es seit 1500 gegeben hat. Er hat auch die Prozesse der Modernisierung und Industrialisierung in Gang gesetzt, die sich weltweit verbreitet, und daraufhin haben Gesellschaften aller anderen Kulturkreise den Versuch gemacht, mit dem Westen an Wohlstand und Modernität gleichzuziehen.“ (KK, S. 496)

Abstieg des westlichen Kulturraumes

Huntington weist aber auch darauf hin, dass gerade der westliche Individualismus das größte Unverständnis in anderen Kulturräumen hervorruft. Der Politikwissenschaftler schlägt in seinem Buch auch durchaus kulturkritische Töne an, was ihm vermutlich erstrecht keine Freunde im fortschrittlichen Lager der Gesellschaft eingebracht haben dürfte.

Er sieht – beeinflusst von einer Theorie über Aufstieg und Niedergang von Kulturen des Historikers Carrol Quigley – durchaus Verfallsprozesse innerhalb des westlichen Kulturbereichs, die ihn für den Westen eher pessimistisch in die Zukunft blicken lassen. Er sieht neben den wirtschaftlichen und demographischen Problemen vor allem einen moralischen Verfall (Zunahme asozialen Verhaltens, Verfall der Familie und des gesellschaftlichen Engagements, nachlassende Arbeitsethik und Ichbezogenheit, abnehmendes Interesse für Bildung) im westlichen Kulturkreis, der tendenziell zu einer Schwächung im Inneren und einer generellen Abstieg führen könnte.

Schon damals sah der Politikwissenschaftler ein Problem für Europa in einer zunehmenden Zahl von Einwanderern aus dem islamischen Kulturbereich, „die eine Assimilation ablehnen und nicht aufhören, Werte, Gebräuche und Kultur ihrer Herkunftsgesellschaften zu praktizieren und zu propagieren“ (KK, S. 501). Der aus seiner Sicht drohende Abstieg des westlichen Kulturraums ist ein Thema, das Huntington in seinem Buch sehr eingehend behandelt; das soll hier aber nicht breiter ausgeführt werden.

Die westliche Halbinsel Eurasiens namens Europa ist im Kulturkreisschema Huntingtons in die zwei christlichen Kulturkreise der ursprünglich katholisch-protestantischen Welt (Westen) und der orthodoxen Welt geteilt; eine Aufspaltung, die nach dem Großen Schisma von 1054 entstanden ist und seit Jahrhunderten Bestand hat.

Quelle: Von own work – 1. http://home.comcast.net/~DiazStudents/MiddleAgesChurchMap1.jpg (source that showing official & dominant religions on the state level)2. [1] – Dragan Brujić, Vodič kroz svet Vizantije, Beograd, 2005, page 51. (source that showing more detailed religious distribution in southeastern Europe and western Asia), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11381608

Wie schon in der Aufgliederung ersichtlich, sind die Kulturkreise konstant, während ihre Kern- oder Kern- oder Führungsstaaten wechseln können: die westliche Vormacht z. B. sind ohne Zweifel aktuell die USA; bis 1918 war das Osmanische Reich Kernstaat des islamischen Kulturkreises, der aktuell keinen Kernstaat besitzt.

Huntingtons Gestaltung der Kulturkreise ist nicht unproblematisch, handelt es sich doch um eine Einteilung sowohl nach geografischen als auch religiösen Kriterien, wobei die Dominanz der religiösen Überzeugungen im Westen eher durch die Dominanz der politischen Wertvorstellungen ersetzt wurde. Der japanische Kulturkreis besteht nur aus Japan, aber ob die Einzigartigkeit seiner Religion unbedingt einen eigenen Kulturkreis rechtfertigt, ist fraglich. Und welche unabhängige Kultur im Subsahara-Afrika vorherrschen soll, ist ebenfalls fraglich. Das Gebiet der islamischen Kultur dehnt sich bis Indonesien in Südostasien, was sehr unterschiedliche Gebiete und Staaten umfasst. Und wie unabhängig der lateinamerikanische Kulturkreis vom Westen ist, angesichts der Stellung der katholischen Kirche auf dem südamerikanischen Kontinent, ist umstritten (Huntington selbst ist sich unsicher, ob Lateinamerika nicht doch zum „Westen“ gehört, so dass in Zukunft der Westen mit Lateinamerika aus drei Gliedern besteht). Huntington skizziert nun meinungsfreudig das Szenario der künftigen Weltpolitik:

„Weltpolitik wird heute nach Maßgabe von Kulturen und Kulturkreisen umgestaltet. In dieser Welt werden die hartnäckigsten, wichtigsten und gefährlichsten Konflikte nicht zwischen sozialen Klassen, Reichen und Armen oder anderen ökonomisch definierten Gruppen stattfinden, sondern zwischen Völkern, die unterschiedlichen kulturellen Einheiten angehören.“ (KK, 24)

Huntington geht in seinem Buch davon aus, dass die Staaten der Erde zwar weiterhin ihre Interessen verfolgen werden, aber sie werden das zunehmend in kulturellen Begriffen definieren:

„Sie kooperieren und verbünden sich mit Staaten, die einen ähnlichen oder denselben kulturellen Hintergrund haben, und befinden sich häufiger im Konflikt mit Ländern mit einer anderen kulturellen Basis.“ (KK, S. 40)

Wachsende Beharrungskräfte der eigenen Kultur

Staaten würden Bedrohung im Sinne von Absichten anderer Staaten definieren, und diese Absichten und die Art, wie sie empfunden würden, seien stark von kulturellen Erwägungen geprägt. Entsprechend werden sich ihr Handeln, Ihre Interessen und ihre Zusammenschlüsse auch ausrichten. Je größer der Druck zur Anpassung an eine dominante Kultur wird, desto mehr werden in den Staaten auch die Beharrungskräfte für die eigene Kultur wachsen. Letztendlich werden die Konflikte zwischen Kontrahenten aus verschiedenen Kulturen sich als die größte Gefahr für das friedliche Zusammenleben in der Welt erweisen, denn aus Huntingtons Sicht könne künftig die Gewalt zwischen Staaten und Gruppen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu Eskalationen führen, wenn andere Staaten und Gruppen aus diesen Kulturkreisen ihren „Bruderländern“ zu Hilfe eilen würden. So könne z. B. aus dem blutigen Kampf der Kulturen in Bosnien, dem Kaukasus, Mittelasien oder Kaschmir größere Kriege werden.

 

Im ersten Teil des Beitrags zu Huntingtons Buch über den Antagonismus der Kulturen stand die Aufteilung der Kulturkreise im Mittelpunkt, die seiner Ansicht nach zu sinnstiftenden Einheiten der Politik werden und deren Konflikte künftig die Rivalität der Supermächte und der westlichen Ideologien ablösen werden. Im zweiten Teil geht es um die Gestalt der Weltpolitik, die sich aus diesem Entwurf eines verstärkten Antagonismus der Kulturen ergeben könnte.

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Realistischer
Realistischer
3 Jahre her

Die sogenannten westlichen Werte und die sogenannte westliche Kultur wirken offensichtlich gegen uns. Und was davon nicht gegen uns wirkt, wird uns verboten. Ich bin daher, per eigenem Beschluss, kein Teil dieses Westens mehr. Sollen sie ihre Vernichtungsappelle doch an sich selbst richten.

Saemi
Saemi
Reply to  Realistischer
3 Jahre her

Realistischer wir denken auch schon seit einiger Zeit über ein Verschwinden hier nach, weil das hier nicht gut gehen kann und wir uns hier nicht mehr wohl fühlen.
Aber wohin?

waltomax
waltomax
3 Jahre her

Der Wettbewerb der Ordnungen Wenn Sie, werter Leser, einen Blick auf Ihre Katze oder Ihren Hund werfen, so sehen Sie eine bestimmte Ordnung. In diesem Falle eine Biologische. In der Natur bilden sich -genetisch programmiert und durch die Umwelt bestimmt- solche Ordnungen heraus, die am besten angepasst sind. Dabei steht die Ordnung der Mäuse in Konkurrenz zur Ordnung der Katzen. In der Evolution erscheinen kleine und komplexe Ordnungen als bevorzugt. Das kleine Säugetier erwies sich als existentiell „nachhaltiger“, als der Brontosaurier. Der Wettbewerb der Ordnungen betrifft auch Hochkulturen, ja ganze Zivilisationen. Daher übergeht obiger Ansatz m.E. die Tatsache, dass es… Read more »

waltomax
waltomax
3 Jahre her

Die „natürliche“ Rolle Deutschlands Wir, die Deutschen, bilden mit unserem Wesenskern alleine schon den Gegenentwurf zu Rom. Die Römische Staatskirche und das Papsttum haben das klar erkannt und die Deutschen daher immer schon bekämpft, bis heute. Ein Beispiel: Im 30jährigen Krieg finanzierte Richelieu den Schweden ihren Einfall in Deutschland, um das Land zu verheeren und als Gegenentwurf auszuschalten. Die Künischen Freibauern lebten nach der Devise „niemandes Herr, niemandes Knecht!“ Von da aus ist es in Konzept und Gesinnung nicht weit „in die Schweiz“ und zu einer Konföderation der autarken und autonomen Regionen Europas, die arbeitsteilig zusammenwirken. Wir Deutsche brauchen erst… Read more »

waltomax
waltomax
3 Jahre her

I“Endlich“ im Mief angelangt! Statt einer Kollision der Zivilisationen also ein Wettbewerb der Ordnungen um das Überleben oder Fortbestehen! Die Franzosen machen keinen Unterschied zwischen Zivilisation und Kultur. Wer keine technische Zivilisation hat, befindet sich demnach auf einer sehr niedrigen Kulturstufe. Warum wohl dieses Vorurteil? Gegenfrage: Wer würde einem Buschmann oder Ur – Australier schon Kultur absprechen? Antwort: All diejenigen, welche auf Kolonien aus sind und dies mit einer angeblichen Überlegenheit ihrer eigenen Lebensweise rechtfertigen. Kultur zu erschaffen, enstpringt erst einmal einem Akt reiner Kreativität ohne jede Zweckbestimmung. Und bleibt daher ohne jede Wertung durch das Zweckdenken. Erst dann kann… Read more »

waltomax
waltomax
3 Jahre her

Die Welt: Nichts für Psycho- und Soziopathen sowie alle Kontrollfreaks? „Warum has Du die Welt erschaffen?“ „Weil ich es konnte und wollte.“ „Aber warum?“ „Damit Du auch lernst, dass nicht alles Deinen Zweckkategorien genügen muss. Und ich ohne alle Deine Gründe bin. Und erschaffe.“ Haben Sie Angst, Mr. Gates? Fürchten Sie sich, Mr. Rothschild? Können wir Sie irgendwo und irgendwie „abholen“? Meinen Sie, lieber Herr Physiker, Gott habe eine Formel, die Sie ihm nur abjagen müssen, um ihm gleich zu werden? Können und wollen wir uns diesen Absturz nicht gegenseitig ersparen? Vielleicht ist er notwendig? Wer hat in Deutschland auf… Read more »

Nathan
Nathan
3 Jahre her

Zu Zeiten der „Flüchtlings“-Invasion war die Thematik der aufeinanderprallenden Kulturen fühlsam und hat für das Thema sensibilisiert. Doch ist das wirklich das Alles und Einzige? Die Kulturen äußern sich in Ritualen und schaffen Mentalitäten, die auch in der „Diaspora“ beibehalten werden. Und die wirken beängstigend. Warum wird die national-bewußte Bewegung in den neuen Bundesländern nur als billige diskriminierende Äußerlichkeit diffamiert? Sie hat gerade im Osten ihre sinnvolle Entwicklung, weil dort die christliche frömmelnde Religiosität NICHT mehr besteht, die Menschen aus der Religionsklammer herausgewachsen sind, auch gefördert durch die DDR. Als Folge sehen sie die plötzliche Konfrontation mit fremden Religionen, Ritualen… Read more »

waltomax
waltomax
Reply to  Nathan
3 Jahre her

Im Lincoln Memorial hockt „Ape“ auf einem big Throne, von Liktorenbündeln flankiert. Die „Fasces“ weisen die USA als römisches Imperium aus. Und sind Zeichen für Faschismus.

Schon mal auf einem echten Dorf – Thing – Platz gestanden? Die Sachsen wehren sich immer noch. Und der verfluchte Karl, der römische Caesar macht sie immer noch nieder….

edmundotto
Reply to  Nathan
3 Jahre her

@Nathan – Zustimmung!!! Es sollte doch zu denken geben, dass Samuel H. ein den „Westen“ bedrohendes Szenario zu einer Zeit beschreibt, als weder ein „schwacher“ Westen noch ein durch globale kulturelle bzw. religiöse Differenzen sich abzeichnender „Atomkrieg“ am politischen Horizont erkennbar war. Der sog. Westen hatte doch just den „Kampf“ zweier Gesellschaftssysteme siegreich bestanden. Ich denke, hier hat der Autor die Planspiele derer an die Öffentlichkeit gebracht, die seit Jahrhunderten auf dem Weg zur absoluten Macht die Völker gegeneinander aufbringen. Er hat erreicht, dass die These vom „Zusammenprall“ (Kampf) sich in den Köpfen verschiedener Hardliner der von Ihm willkürlich zusammengestellte… Read more »

trackback
3 Jahre her

[…] ersten Teil des Beitrags über Samuel P. Huntingtons Buch „Kampf der Kulturen“ stand die Definition und Aufgliederung […]

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