Identitätslinke Heilsgewissheiten
Moral als Repressionsinstrument
Die identitätslinke Ideologie ist eine Agenda der Spaltung. Ihre Protagonisten sind neoliberale Wortführer eines weltweiten Freihandels mit Arbeitskräften.
Inhaltsverzeichnis
„Die Verweigerung gegenüber jeder politischen Argumentation stellt den demokratischen Prozess in Frage. Diese Haltung wird die Dynamik der politischen Konfrontation weiter vorantreiben.“ Stefan Luft, Politikwissenschaftler
Im ersten Teil[1] des Beitrags wurde die Definition der Migrationswissenschaftlerin Sandra Kostner zur identitätslinken Läuterungsagenda widergegeben sowie die negativen Auswirkungen, die diese politische Haltung nicht nur nach Meinung der Autorin hat. Die Agenda hat verschiedene Betreiber. Die Opferseite umfasst Gruppen, die in der Vergangenheit angeblichen oder wirklichen Ungleichbehandlungen oder Verfolgungen ausgesetzt waren. Die Schuldseite besteht aus der Mehrheit in der Gesellschaft, die entsprechend nicht einer der definierten Opfergruppen angehört und daher generell für die jeweiligen Ungleichbehandlungen verantwortlich gemacht wird.
Sandra Kostner kommt schließlich zu der Schlussfolgerung, dass mit dem Modell der Identitätsgerechtigkeit eine toxische Version von Gerechtigkeit entworfen wird, die ihr Polarisierungs- und Fragmentierungsgift langsam, aber stetig in die betroffenen Gesellschaften einträufelt. Das gesellschaftliche Klima wird so von neu geschaffenen Ungerechtigkeiten, die immer von seiten der Betreiber der Läuterungsagenda definiert werden, allmählich vergiftet. Auf Kostners Einleitungs- und Eingangstexte antworten verschiedene andere Autoren mit ihren Beiträgen.
In diesem zweiten Teil werden die Beiträge von Alexander Grau, Stefan Luft, Boris Palmer und Roland Springer näher betrachtet.
Teil II
Während Sandra Kostner vor allem in ihrem Impulstext das Thema relativ abstrakt abgehandelt hat, wird es in den „Repliken“ auf ihren Impulstext mit konkreten Beispielen bereichert.
So beleuchtet der Publizist Alexander Grau im Beitrag „Säkularisierung und Selbsterlösung. Die identitätslinke Läuterungsagenda als Religionsderivat“ einen Aspekt, der vielen Anhängern dieser politischen Richtung überhaupt nicht bewusst ist. Es zeigt sich eine Intoleranz gegenüber Andersdenkenden und ein fanatisches Festhalten an eigenen Positionen, so dass ein Vergleich mit der fanatischen Inbrunst mancher Sekten durchaus gestattet ist.
Wie konnte es dazu kommen? Grau stellt fest, dass erst die weitgehende Sozialdemokratisierung der westlichen Industrieländer, die Entschärfung ihrer Gegensätze, der entstehende Massenwohlstand, das Entstehen nivellierter Mittelstandsgesellschaften den sozialen Boden geschaffen hätten, auf dem identitätslinkes Gedankengut massenwirksam werden konnte. Die identitätslinke Einstellung sei der Versuch, ein linkes Lebensgefühl beizubehalten trotz der Zugehörigkeit zur westlichen Wohlstandsgesellschaft (IL, S. 144). Grau spricht schließlich von einer identitätslinken Ideologie, die sich entwickelt hat, die letztlich in religiösen, von Heilsgewissheiten erfüllten Narrativen gründen würden:
„Die identitätslinke Ideologie ist das Produkt eines letzten Säkularisierungsschritts, den die westlichen Gesellschaften ab Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogen haben. In diesem Säkularisierungsschritt wurden die verbliebenen Restbestände christlichen Alltagsglaubens (…) abgelegt. Es entstand ein Sinnstiftungsvakuum, das durch neue Sinnstiftungserzählungen zu füllen versucht wurde.“ (IL, S. 145)
Allerdings könne die postmoderne Linke keine Ideologie bzw. keinen Religionsersatz brauchen, der ihre Selbstverwirklichungsoptionen einschränkt. Man will zwar moralisch sein, aber nicht moralisch leben:
„In der Konsequenz wurde Moral aus der persönlichen Lebensführung weitestgehend ausgelagert und ins Allgemeingesellschaftliche, genauer: ins Politische entsorgt. Nicht Anstand und Sitte gelten nunmehr als Zeichen eines moralischen Lebens, sondern die richtige humanistische Gesinnung.
Das hat den großen Vorteil, dass der individuellen Selbstentfaltung keine moralische Regeln im Wege stehen, zugleich aber das Bedürfnis nach moralischer Identität weiterhin bedient wird. Es wird möglich, ein hedonistisches und zugleich ein moralisches Leben zu führen. Die Externalisierung moralischer Regeln vom Privaten ins Politische gestattet die Proklamation höchste[r] moralischer Ansprüche ohne Einschränkung der persönlichen Lebensführung.“ (IL, S. 146)
Das von jeder alltagspraktischen Relevanz abgelöste allgemein Gute und Humane werde so zum Fetisch all jener, die ansonst an nichts mehr glaubten. Moral würde so zum Religionsersatz. Als gut gelte nur noch das kompromisslos Gute, der moralische Maximalismus. Aus der Forderung nach Toleranz würde so die Forderung nach Akzeptanz, aus der Forderung nach Chancengleichheit, die nach Ergebnisgleichheit:
„Vor allem aber schreibt die identitätslinke Ideologie den Absolutheitsanspruch und die heilsgeschichtliche Perspektive traditioneller Religiosität fort. Die Vergangenheit wird zu einer Epoche paganer Verirrung umgedeutet, und das Aufkommen neulinken Denkens wird als historischer Kairos interpretiert, von dem aus die weltgeschichtliche Erlösung zu erhoffen ist.
(…).
Das daraus abgeleitet Sendungsbewusstsein legitimiert eine rigide Moralmission. An diesem Punkt kippt das identitätslinke Denken von einem hypertrophen Moralismus endgültig in eine heilsgeschichtliche Utopie, die es rechtfertigt, die eigenen Moralvorstellungen mit jakobinischem Eifer durchzusetzen.“ (IL, S. 148)
Die Arroganz privilegierter akademischer Mittelschichten
Die Unduldsamkeit gegenüber anderen Positionen, anderen politischen Meinungen, ja auch nur einer minderen moralischen Haltung erbt die neue Ideologie somit von den Heilsreligionen. Anhänger der identitätslinken Bewegung sind Gläubige, die die Wahrheit und den richtigen Weg kennen und nicht mehr darüber diskutieren wollen.
Der Politikwissenschaftler Stefan Luft konzentriert sich in seinem Beitrag „Den Verstand bewahren. Warum der Moralismus die Gesellschaft in den Bürgerkrieg treibt“ auf die Auswirkungen der identitätslinken Haltung auf die politische Kultur der Republik. Anhand zweier auch im Internet verbreiteter Aufrufe zur Solidarität mit den Flüchtlingen im Jahre 2018 („Solidarität statt Heimat“[2], „#unteilbar. Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung“[3]) analysiert der Politikwissenschaftler die aggressive Sprache und die Radikalität identitätslinker Texte, denen sich offenbar ein Großteil der akademischen Elite, soweit sie sich mit den Themen „Migration“ und „Integration“ befassen, angeschlossen hat. Die Texte repräsentieren also durchaus die derzeitige geistige Haltung des deutschen Linksspektrums. Luft konstatiert:
„Die Aufrufe haben den Charakter von Bekenntnissen, Sie sind gekennzeichnet durch Aussagen, die politisches Handeln letztendlich unmöglich machen:
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aneinandergereihte Schlagworte, mit deren Hilfe ein extrem verzerrtes Bild der politischen Debatte und der politischen Institutionen gekennzeichnet wird,
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eine höchst aggressive Sprache, die starkes moralisches Pathos transportiert,
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ein manichäisches Weltbild. Scharf konturiert und offensichtlich unüberbrückbare Gegensätze zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ sind demnach die Merkmale der gegenwärtigen politischen Lage,
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die Absage an jede Form der Politik, daher der Verzicht auf eine genuin politische Argumentation.“ (IL, S. 210)
So werde im Text „Solidarität statt Heimat“ von „Schmutzkampagne und Hetze gegen Flüchtlinge und Migranten und die solidarischen Milieus der Gesellschaft“ gesprochen. Mit solchen Schlagworten zum Beispiel werde jede kontroverse politische Diskussion und jede Suche nach realistischen Lösungen als Ausdruck der Menschenverachtung denunziert. Die Grenzen des Sagbaren würden auf diese Weise enger gezogen werden. Bedingungslos offene Grenzen seien in dieser Sicht die moralisch einzig zulässige Position.
Wenn der bestehende Sozialstaat mit dem Begriff „nationalistische Wohlfahrtsstaatlichkeit“ bezeichnet werde, spiegle das die Arroganz privilegierter akademischer Mittelschichten. Wenn von der Unmöglichkeit der Steuerung der Migration und der Aufrechterhaltung eines „wohligen Privatglücks in der Heimat“ gesprochen werde, zeige das nur die völlige Unkenntnis dieser Schichten über die Lebenswirklichkeit der einheimischen Unterschichten, die seit Jahrzehnten die Hauptlast der Integration zu tragen hätten. Eine vernunftbasierte Politik, die auch Kompromisse bedeuten würde, die nicht die Maximalumsetzung der eigenen Positionen beinhalten würde, wird von Vornherein abgelehnt:
„Die mit Pathos vorgetragenen Bekenntnisse schließen konkrete politische Handlungsoptionen sowie jede Form pragmatischer Politik kategorisch aus, stellen sie unter das Verdikt des Rassismus und inkriminieren sie als Ausdruck eines ‚rechten‘ Denkens.“ (IL, S. 213)
Die in den Texten aus einer identitätslinken Haltung heraus vorgebrachten Anschuldigungen über eine angebliche Entrechtung von Flüchtlingen und Migranten kann der Politikwissenschaftler nicht nachvollziehen, im Gegenteil ist doch gerade Deutschland in der Behandlung dieser Personen im europäischen Maßstab vorbildlich, weshalb auch der Zuzug nach Deutschland an Attraktivität nicht abgenommen hat und die Sekundärmigration beträchtlich ist.
Auch das Beharren auf offene Grenzen habe mit einer realistischen Haltung nichts mehr zu tun. Eine längere Phase unbegrenzten Zuzugs in die EU werde Folgen haben: Überforderung der Staaten, politische Gegenreaktionen, Wiedereinführung von Grenzkontrollen und – im schlimmsten Fall – Destabilisierung und Zerstörung der EU. Dass die Realität in diesen Aufrufen nicht mehr beachtet wird, sondern man von einem „Triumph der Gesinnung über Urteilskraft“ sprechen muss, sei, so Luft, Ausdruck eines aggressiven Moralismus. Es werde nicht mehr über Inhalte debattiert, sondern darüber, ob bestimmte Argumente erlaubt seien oder nicht:
„Im Kern geht es dabei um Herrschaft – um Deutungshoheit auch innerhalb des linken Diskurses, wie Sandra Kostner es herausarbeitet.
Die Unterstützung für die beiden Aufrufe zeigt: Was bisher auf eine Gesinnungselite beschränkt war, reicht mittlerweile bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Die Verweigerung gegenüber jeder politischen Argumentation stellt den demokratischen Prozess in Frage. Diese Haltung wird die Dynamik der politischen Konfrontation weiter vorantreiben.“ (IL, S. 218)
Der weiße Mann als Unterdrücker
In einem Beitrag des grünen Oberbürgermeisters von Tübingen, Boris Palmer, mit dem Titel „Überall Rassisten? Läuterungsrhetorik in Presse und Politik“ geht es um den seit Neuestem sehr schnell vorgebrachten Vorwurf des Rassismus.[4] Auch das kann man mit dem Erstarken der identitätslinken Ideologie in Verbindung bringen. Palmer hatte sich in Ulm über einen migrantischen „Rüpelradler“ in der Fußgängerzone aufgeregt, der ihn „beinahe über den Haufen“ gefahren hätte. Welchen Status der „Rüpelradler“ eigentlich hatte, ist nie aufgeklärt worden, Palmer vermutete aber, dass es sich um einen Ulmer Asylbewerber handelte. Die Wahrscheinlichkeit war zwar ziemlich hoch, aber dass er es nur vermuten konnte, war eines der Argumente seiner späteren Diskussionsgegner, ihm Rassismus zu unterstellen.
Als Palmer dann solch ein Verhalten später öffentlich thematisierte kam es zu einer Facebook-Debatte mit einer Gruppe von Identitätslinken, die in der „Wir-sind-hier-Bewegung“ aktiv sind. Dann eskalierte die Diskussion, vor allem weil sich nun auch die „neutrale“ Presse in Form des Schwäbischen Tagblatts einschaltete und Palmer Rassismus vorwarf, da ein Rüpelverhalten kritisiert würde allein aufgrund der Hautfarbe des Fahrers, Palmer lege an solche Menschen, ob Asylbewerber oder nicht, höhere Maßstäbe an als an Einheimische.
Palmer dagegen argumentierte, dass er sich das Recht herausnehme, „Rüpelradler“ zu kritisieren, auch wenn sie für ihn erkennbar Asylbewerber oder Migranten seien. Es gebe hier keine falsche Rücksicht, auch Asylbewerber hätten sich wie die Einheimischen an die üblichen Verhaltensnormen zu halten.
Man ersieht aber schon, worum es hier eigentlich ging: Die identitätslinken Aktivisten, Politiker und Journalisten wollten den Kniefall und die öffentliche Entschuldigung Palmers für sein angebliches Fehlverhalten. Das haben sie nicht erreicht, und umso größer wurde die Wut. Laut Palmer füllte die nachfolgende Diskussion über ein Vierteljahr ganze Zeitungsseiten und Leserbriefspalten und führte schließlich zu einem Mehrheitsbeschluss im Tübinger Gemeinderat, der Palmer aufforderte, sich für sein durch Pauschalisierung und Vorurteilen geprägtes Verhalten zu entschuldigen und seine Äußerungen zurückzunehmen.
Für Palmer, der sich bis heute nicht entschuldigt hat, war diese Vorgang völlig unverständlich:
„Warum verweigern meine Kontrahenten in diesen Debatten regelmäßig die Wahrnehmung klar beschreibbarer Schwierigkeiten und Defizite? Warum wird es generell für unzulässig erklärt oder gar als ‚gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit‘ bezeichnet, wenn man statistisch eindeutig erkennbare Auffälligkeiten bei jungen Männern aus ganz bestimmten Herkunftsländern einfach nur festhält? Warum lässt sich die andere Seite nie auf eine Debatte in der Sache ein? Warum stellen sich meine Kritiker regelmäßig selbst auf ein hohes moralisches Podest und verurteilen meine Position als unmoralisch?“ (IL, S. 261)
Sandra Kostners Analyse ist für Palmer aufgrund solcher Erfahrungen überzeugend. Im Weltbild der „flüchtlingsfreundlichen Gemeinde“ stehe er als weißer Mann in einer machtvollen Position exemplarisch für die Unterdrücker, die Asylbewerber hingegen für die Unterdrückten. Die stets ins Moralisierende abgleitende Diskussion diene der Selbstläuterung seiner Kritiker und nicht der Lösung von Problemen. Auf diese Weise nehme die Polarisierung zwischen den Fraktionen der gutmenschlichen Identitätslinken und den rechten Identitären immer weiter zu. Palmer schlägt nun aber den Brückenschlag zu den Identitätslinken vor:
„Wer den Zerfall der pluralistischen Demokratie in Europa aufhalten und der Gefahr rechtspopulistischer bis rechtsextremer Regierungsbeteiligungen entgegenwirken will, muss einen Weg finden, identitätslinke Anliegen so zu transportieren, dass diese auch realisiert werden können und bereits erreichte Fortschritte nicht wieder zunichte gemacht werden.“ (IL, S. 263/264)
Trotz aller Kritik sieht, was jetzt nicht verwunderlich ist, der Grünenpolitiker Palmer Anknüpfungspunkte zumindest bei einem Teil der Identitätslinken, um eine Spaltung zu überwinden. Während Sandra Kostner die Identitätslinke auffordert, ihre Positionen zu überdenken und endlich wieder vernünftig zu werden, hofft Boris Palmer auf die Chance mit den „undogmatischen Identitätslinken“ zu einem Minimalausgleich zu kommen. Er geht dabei von der Annahme aus, es gebe gemeinsame Ziele der Mehrheitsgesellschaft und bestimmter Identitätslinken.
Aber wie realistisch ist diese Einschätzung? Das Problem der offenen Grenzen spricht Palmer wohlweislich nicht an, es würde seiner Argumentation auch zuwiderlaufen, denn das ist eine politische Forderung die zur Grundsubstanz der neuen linken Bewegung gehört. Ein undogmatischer Identitätslinker müsste die Forderung nach offenen Grenzen aufgegeben, dann müsste er aber auch seine hohe moralische Position aufgeben, die ihn von den normalen, pragmatisch orientierten und kompromissbereiten Menschen unterscheidet, und er müsste z. B. Lösungsmöglichkeiten für Zuzugsbeschränkung nennen – und wäre somit kein Identitätslinker mehr. Zweifel sind angesichts solcher Vorstellungen wohl angebracht.
Die identitätslinke Läuterungsagenda ist neoliberal
Der Unternehmensberater und Soziologe Roland Springer hegt in seinem Beitrag „Ideologie der Weltoffenheit – wie links ist die identitätslinke Läuterungsagenda?“ nicht geringsten Zweifel daran, dass mit der identitätslinken Strömung eine neue wirkmächtige politische Ideologie entstanden ist, „die inzwischen weite Teile von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien beidseits des Atlantiks“ (IL, S. 289) dominiert und die „deshalb ohne Übertreibung als die derzeit herrschende politische Ideologie des kapitalistischen Westens bezeichnet werden“ kann.
„In ihrem Zentrum stehen universalistische Vorstellungen und Forderungen von Weltoffenheit und Diversität, mit deren Hilfe die Diskriminierung gesellschaftlicher Opfergruppen aus dem In- und Ausland besiegt werden soll. Maßgeblich begründet und legitimiert wird dieses Ziel mit der historischen Schuld, die die jeweils herrschenden und deswegen privilegierten gesellschaftlichen Gruppen gegenüber Opfern ihrer Herrschaft auf sich geladen haben“. (IL, S. 289)
Opfergruppen, die unter ihrer Diskriminierung durch privilegierte gesellschaftliche Gruppen zu leiden haben, sind Nachfahren z. B. schwarzer Sklaven, sind Juden, Sinti und Roma, aber auch Frauen, Homosexuelle und eingewanderte muslimische Flüchtlinge. Die identitätslinke Läuterungsagenda soll diese Ungerechtigkeit wieder heilen. Für Springer stellt sich aber die Frage, ob man das identitätslinke Ideen- und Meinungskonglomerat noch als „links“ bezeichnen könne, ob es sich „um eine konsistente linke Ideologie im Interesse der Arbeitnehmerschaft oder nicht vielmehr um die Ideologie einer weitgehend verbürgerlichten Linken handelt, gegen die sich zunehmend gesellschaftliche Widerstände formieren“ (IL, S. 290)“.
Gerade die massenweise geförderte Einwanderung aus dem nordafrikanischen und nahöstliche Raum ist ein Vorgang, der hier starke Zweifel aufkommen lässt. Mit der Forderung auf ungebremsten Zuzug wird nämlich der von linken Parteien und Gewerkschaften erkämpfte Wohlfahrtsstaat letztendlich abgeschafft, denn der ist
„auf ein ausreichendes Maß an Exklusivität angewiesen, die den migrationspolitischen Vorstellungen und Forderungen der identitätslinken Läuterungsagenda diametral widerspricht. Diese vertritt migrationspolitisch eine ultraliberale – man könnte auch sagen: neoliberale – Freihandelsposition, die einen unbegrenzten Zutritt arbeitsloser Migranten zum deutschen Arbeitsmarkt wie auch zum deutschen Sozialsystem fordert. Dies gefährdet nicht nur dessen Finanzierbarkeit, sondern verletzt auch das Äquivalenz- und Gerechtigkeitsempfinden vieler Leistungserbringer.“ (IL, S. 295)
Mit dem Zuzug ungelernter oder nur mäßig gebildeter Menschen würde eine „(post-)industrielle Reservearmee an Arbeitskräften, für deren Kosten der Staat“ (also der Steuerzahler) aufkomme, geschaffen. Im Grunde, so Springer, überträfen die Identitätslinken noch die Ziele des Neoliberalismus. Mit solch einem Pool an Arbeitskräften ließe sich der Deregulierungsdruck auf gesetzliche und tarifliche Regularien, die zum Schutz der Arbeitnehmer erlassen worden seien, im Bedarfsfall erhöhen.
Und so ist diese Ideologie anschlussfähig an die bürgerliche Mitte und deshalb wohl auch so erfolgreich. Während das linksprogressive Bürgertum vor allem als gesinnungsethische „Schuldentrepreneure“ auftreten, die für sich beanspruchen, allein aus humanitären Gründen zu handeln und damit universalistische Positionen der aus dem linken Lager kommenden Identitätslinken übernehmen, ist ein Teil des rechtskonservativen und wirtschaftsliberalen Bürgertums eher von der Aussicht auf Schwächung der Arbeitnehmerseite durch die Offenhaltung der Grenzen angetan. Allen Verfechtern einer sogenannten weltoffenen Politik, so sinngemäß Roland Springer, ist gemeinsam, dass die Beteiligten nicht zu den Verlierern der Massenzuwanderung gehören, sondern eher zu deren Nutznießern, und dass sie die Kosten für dieses politische Experiment auf die Allgemeinheit abwälzen können.
Diese Darstellung ist notgedrungen etwas schematisch, natürlich sind die Übergänge, wie immer im Leben, relativ fließend. Doch wenn noch einmal die Frage aufgegriffen wird, wie es um den Schutz der Interessen der einheimischen Bevölkerung vor allem im Bereich der prekären Lebensumstände bzw. der Arbeitnehmer im unteren Bereich des Lohnsektors durch die linken Parteien nicht nur in Deutschland bestellt ist, dann ist für Springer das Urteil vernichtend:
„Die Wahrnehmung dieser Interessen war einstmals Anspruch und Versprechen der politischen Linken. Davon haben sich ihre bisherigen Wortführer sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern und den USA in den letzten Jahren weit entfernt. Stattdessen haben sie sich dazu entschlossen, zu Protagonisten und Wortführern eines weltweiten Freihandels mit Arbeitskräften zu werden. Damit erfüllen sie gewiss die Interessen eines großen Teils des Bürgertums und der meisten Migranten, nicht jedoch die Interessen derjenigen kleinen Leute, die zu Verlierern des Freihandels geworden sind. Ihre identitätslinke Läuterungsagenda ist vor diesem Hintergrund (…) vielleicht identitär, auf keinen Fall aber links.“ (IL, S. 309/308)
Fazit
Wenn man am Schluss als Leser ein Fazit zieht zu den hier vorgestellten Aussagen des Buchs von Sandra Kostner über eine neue politische Richtung der gesellschaftlichen Schuld- und Opfereinteilung und es noch polemisch zuspitzt, was die Autorin als Wissenschaftlerin sorgsam vermeidet, kommt man zu folgendem Ergebnis: auf der Schuldseite steht die große Masse der hart arbeitenden Steuerzahler, die die ganzen Sonderberechtigungen und Ausgleichsmaßnahmen vor allem auch finanzieller Art, die sich aus dieser Politik ergeben, zu finanzieren hat.
Die weitere Verbreitung und Unterstützung dieser neuen politischen Richtung, oder besser gesagt diese neuen Ideologie, hilft bei der Erklärung, warum große Teile des politischen Linksspektrums keine Probleme mehr haben, z. B. über Masseneinwanderung von Ungelernten in den Niedriglohnsektor der Industriestaaten die soziale Lage der Heimatbevölkerung, die eben nicht nur aus reichen Verlagserben, Professoren, Ärzten oder Bankmanagern, sondern auch aus Menschen besteht, die jetzt schon mit ihren Einkommen gerade so über die Runden kommen, weiter zu verschlechtern. Wer diese gesinnungsmäßige Ausrichtung hat, dem geht es vor allem darum, den (angeblichen) Opfern der westlichen Dominanz, den Entrechteten der Herrschaft der weißen Männer endlich einen gerechten Ausgleich für ihre lebenslange Benachteiligung zu verschaffen. Diesen Opfern bzw. deren Nachfahren soll über lange Zeiten eine Ungleichbehandlung auf globaler Ebene widerfahren sein, die nun unbedingt geheilt werden muss.
Die Menschen in den Industrieländern, soweit sie nicht einen Migrationshintergrund haben oder einer der anderen Opfergruppen angehören, gehören identitätsmäßig zur Gruppe der Schuldigen und haben somit diese Politik zu erdulden, ob sie es wollen oder nicht. Das Konzept der Chancengleichheit für den Einzelnen im Verbund mit der innerhalb einer Nation zu erstrebenden sozialen Gerechtigkeit, was natürlich zu Umverteilungsmaßnahmen zwischen Vermögenden bzw. Gutverdienenden und Ärmeren innerhalb einer Gesellschaft führt, dieses Konzept, das die westliche Nationalstaaten zu einem erfolgreichen gesellschaftlichen Modell gemacht hat, wird offenbar aufgegeben. Somit wird die von Sandra Kostner beschrieben identitätslinke Läuterungsagenda zu einer immer weiteren Spaltung der Gesellschaft führen.
Sandra Kostners Debattenbuch ist eine um Objektivität bemühte, konstruktive, aber auch sehr deutliche Kritik an einer Denkhaltung, die beginnt, die Innen- und Außenpolitik der westlichen Demokratien immer weiter zu vereinnahmen. Es wird sich noch zeigen, ob das politische Establishment z. B. der deutschen Bundesrepublik, das in Teilen ohne Zweifel identitätslinke Positionen eingenommen hat, diese Kritik unbeantwortet lässt. Wer allerdings unter dem Banner der Weltoffenheit, der Toleranz und des Humanismus für eine bessere Welt kämpft, kann Widerworte nicht brauchen. Auf eine sachliche Argumentation darf man wohl nicht hoffen, eher wird man Kostners Thesen als „neorechts“ brandmarken, um sie zu warnen, gemäß einem dem Großen Vorsitzenden Mao Zedong zugeschriebenen Grundsatz: „Bestrafe einen, erziehe hundert.“
Anmerkungen
[1] Grinario, „Agenda für die gesellschaftliche Spaltung“, GEOLITICO vom 1.11.2019
[2] https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org/
[3] https://www.unteilbar.org/
[4] https://www.achgut.com/artikel/die_geschichte_vom_ruepel-radler
Würde mich nicht wundern, wenn das ganze identitätslinke Gedöns wieder mal aus dem Hause Tavistok kommt und wie immer die Massen gegeneinander aufbringen soll.
Lieber Grinario, haben Sie die Headline ausgewählt, die viele Leser eher abschreckt, als sich mit Interesse diesem Thema der Verquickung von Kapital bzw. Macht und LINKEN zu widmen? Zwei Unworte, Sehr unglücklich. Im übrigen halte ich die Meinung von Frau Kostner eine „identitätslinke Läuterungsagenda“ in den derzeitigen Vorgängen zu erkennen, die auch noch hohe gesellschaftliche Relevanz besitzen soll, für fundamental falsch. Denn es betrifft nur eine verschwindend geringe Minderheit in den Bevölkerungen des Westens, die sich in unbedeutenden, jedoch derzeit medial gepuschten „Sekten“ wie Extinction Rebellion zusammentun und nichts bewegen (werden). Da die Erfinder völlig andere Ziele verfolgen. Und da… Read more »