Letzte Chance des Liberalismus
US-Historiker Fritz Stern sieht im neoliberalen Kapitalismus den größten Feind des Liberalismus. Darum unterstützt er in Deutschland die sozial verorteten Neuen Liberalen.
Fritz Stern (89) ist einer der bedeutendsten Historiker unserer Zeit. Sterns Familie ist jüdischer Herkunft und floh 1938 vor den Nazis von Breslau in die USA. Er selbst machte dort als Professor der Columbia-Universität Karriere. Zur aktuellen Politik aber hat er immer Distanz gehalten. Nur zweimal kam er ihr näher, als es ihm als Historiker eigentlich lieb ist. Er war es, der 1990 die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher davon überzeugte, dass Europa vor einem wiedervereinigten Deutschland keine Furcht zu haben brauchte. Drei Jahre später er den damaligen US-Botschafter Richard Holbrooke in Bonn.
Parteipolitisch jedoch hat sich der Freund von Altkanzler Helmut Schmidt nie festgelegt. Das will er auch jetzt nicht tun, sondern das Projekt der Neuen Liberalen[1], die nun erstmals in Hamburg zu einer Wahl antreten, ideell und intellektuell fördern. Oder anders ausgedrückt: Der US-Amerikaner deutscher Herkunft hat sich vorgenommen, den Liberalismus in der Tradition von Theodor Heuss oder auch Lord Ralph Dahrendorf am Leben zu erhalten. Zu diesem Zweck ist Stern prominentes Mitglied des von den Neuen Liberalen gegründeten sozial-liberalen Denkforums, dem neben ihm unter anderen der Sozialpsychologe Prof. Fritz Strack, der Mathematiker Prof. Karl-Georg Steffens und der Betriebswirtschaftler Prof, Josef Neuert mitwirken.
Günther Lachmann im Gespräch mit Fritz Stern:
Professor Stern, Sie haben sich in Ihrem ganzen Leben nicht parteipolitisch festgelegt, jetzt aber unterstützen sie in Deutschland das Projekt einer neuen liberalen Partei. Warum?
Fritz Stern: Ich begrüße das Projekt der neuen Liberalen sehr, weil sie neue Gedanken entwickeln wollen. Und ich habe ihnen einen Willkommen-Gruß als Video-Botschaft gesandt.
Die Wähler glauben immer weniger, dass liberale politische Kräfte gebraucht werden. Was halten Sie Ihnen entgegen?
Stern: Die Aufgaben der Liberalen sind enorm und dringend. Genau genommen, geht es um alles! Uns droht ein vollständiger Verlust von Liberalität. Es geht also gerade auch für die Neuen Liberalen darum, die Liberalität zu retten, die im Geist anfängt mit den alten Tugenden wie praktischer Vernunft und Ehrlichkeit.
Wodurch wird der Liberalismus gefährdet?
Stern: Der Liberalismus hatte keine größeren Feinde als Faschismus und Bolschewismus, also jene Mördergesellschaften mit braunen oder roten Versprechen eines neuen Menschen. Und als Mittel zum Zweck die verordnete Verdummung. Heute sind die Hoffnungen auf eine freie und liberale Gesellschaft von neuem gefährdet. Unsere globale Welt ist tief verunsichert durch den Terrorismus der Fanatiker und die Wut der Dogmatiker. Das verlockt zum Ruf nach Sicherheit auf Kosten der Freiheit. Heute gibt es allerorten eine wachsende Akzeptanz von Staatsüberwachung, die alles, was Orwell prophezeit hat und die Stasi ausführte, in den Schatten stellt.
Wie soll sich eine Gesellschaft wehren, die gerade durch ihre Offenheit verletzlich ist?
Stern: Dazu bedarf es Gesetze, die den Freiheitsbegriff, die Freiheitsidee der demokratischen Gesellschaft nicht verletzen. Das heißt, der Schutz der Freiheit muss um Gebote der Sicherheit ergänzt werden. Es geht folglich darum , einen Kompromiss zu finden, in dem die Sicherheit die Freiheit schützt und nicht, wie jetzt geschehen, die Sicherheit die Freiheit selber verletzt.
Hat es der Terrorismus geschafft, den Glauben an die liberale Gesellschaft ernsthaft zu erschüttern?
Stern: Wissen Sie, der Liberalismus ist nicht nur Politik. Er ist auch und vor allem eine Haltung, eine Geisteshaltung, die Toleranz mit einbezieht. Zweifellos muss man diese Haltung beschützen. Weil sie aber zum Teil eine geistige Haltung ist, können weder Terror noch die vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen sie verletzen. Aber all das verlangt eine Öffentlichkeit, die bereit ist, sich mit Grundfragen des gesellschaftlichen Lebens zu befassen.
Was muss liberale Politik konkret tun?
Stern: Sie muss der ungeahnten Schnüffelei Einhalt gebieten. Sie muss liberale Kräfte einfordern, die die Komplexität der Welt verstehen und die den Mut aufbringen, die Bürger zu ihrer Pflicht an der politischen Mitwirkung zu erinnern. Und sie muss sich mit heutigen Aufgaben auseinandersetzen: Sie muss sich den Fragen einer Reform der Europäischen Union der Beziehungen zu Russland angesichts der Krise in der Ukraine stellen.[2] Sie muss sich für den Klimaschutz einsetzen und den Menschen die Furcht vor einer angeblichen Überfremdung nehmen. Ganz zu schweigen von den alltätlichen Problemen der Erziehung, der Forschung und der sozialen Fürsorge. Übrigens gibt es noch eine andere Gefahr, eine lauernde und dauernde Gefahr für den Liberalismus.
Und die wäre?
Stern: Ich meine die Gefahr, die von den sogenannten Neoliberalen ausgeht mit ihrem Glauben an einen freien Markt, der alles schaffen kann. Dieser Ressentiment beladene Götzendienst will nicht dem Staat, sondern dem ungezügelten Kapitalismus freie Bahn lassen.
Auch Dahrendorf hat bereits früh davor gewarnt…
Stern: Zu Recht! Sehen Sie, in den USA können Großunternehmen durch Geld und Korruption die demokratische Staatsform aushöhlen. Es ist eine Korruption im Gange, die mit Scheinheiligkeit alles Freie und Offene gefährdet, die dafür sorgt, dass die Spaltung zwischen der Armut der Vielen und dem unfassbaren Reichtum der Wenigen ständig wächst.
Stehen Liberalismus und Kapitalismus in einem Spannungsverhältnis zueinander?
Stern: Kapitalismus ist nicht statisch. Er hat sich in der Vergangenheit immer wieder geändert. Wenn Helmut Schmidt von einem Raubtierkapitalismus spricht, sprich er über einen Kapitalismus, der sich von dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich unterscheidet. Der heutige Kapitalismus und seine Propagandisten, die glauben, der freie Markt könne alles regeln, sind auf dem Irrweg! Sie begehen einen Betrug an der Menschheit. Diesem Götzendienst haben sich die ehemaligen Liberalen verschrieben, die sich jetzt als Neoliberale bezeichnen. Ich kann gut verstehen, dass das nicht populär ist.
Welche Bedingungen müsste Ihrer Ansicht nach ein liberaler Kapitalismus erfüllen?
Fritz: Er muss sich gegen die ungeheure kapitalistische Einflussnahme des Geldes in die Politik wehren. Denn das unterhöhlt die Demokratie. Er muss darüber aufklären, was der Staat positiv leistet und was er leisten soll. Und unter welcher Kontrolle der Staat sein muss, nämlich nicht unter der Kontrolle des Geldes und der Korruption, sondern unter der Kontrolle der Parlamente.[3]
Sie sagen, der Liberalismus müsse gerettet werden: Haben liberale Parteien wie etwa die FDP in Deutschland diese Chance bereits verspielt?
Stern: Die heutige FDP ist nicht mehr die FDP von Theodor Heuß und Ralf Dahrendorf. Die heutige FDP wird dominiert von wirtschaftlichen Interessen. Ihr sind der Liberalismus als gesellschaftliche Idee und liberale Forderungen nicht mehr so wichtig.
Nicht nur in Deutschland, in ganz Europa hat die Idee des Liberalismus ihre Begeisterungskraft verloren. Worin sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklung?
Stern: Ich habe die Gefahr des Neoliberalismus bereits angesprochen. Parteien wie etwa die britischen Liberaldemokraten oder auch die FDP haben ganz offensichtlich ihre liberalen Prinzipien in den Vorzimmern zur Macht zurückgelassen. Jedenfalls ist die längst überwunden geglaubte soziale Frage nach Europa zurückgekehrt in Form von Millionen arbeitslosen jungen Menschen in Südeuropa, aber auch in England und zum Teil in den heilen Ländern Europas.
Neben dem Liberalismus hat auch die Idee der Sozialdemokratie an Anziehungskraft verloren. Warum?
Stern: Zum großen Teil hängt das damit zusammen, dass vieles von dem, was die Sozialdemokraten wollten, erreicht worden ist. Sie sind durch ihren eigenen Erfolg geschwächt.
Diese Erfolge liegen aber lange zurück. Und die Wähler wenden sich heute in ganz Europa mehr denn je radikalen Parteien zu.
Stern: Da zeigt sich eine große Ungeduld, Enttäuschung, vor allem aber auch Unverständnis über die Pflichten des Staates. Das ist auch eine Aufgabe der Bildungspolitik. „Die Grenzen des Staates“ von Wilhelm von Humboldt sollte man schon mal gelesen haben. Darum appellierte ich an alle Liberalen: Rettet die Liberalität, die im Geist anfängt mit den alten Tugenden wie praktischer Vernunft und Ehrlichkeit. Geht an die Arbeit der Aufklärung! Gerade angesichts der Gegenaufklärung und der Macht, die von den Feinden einer freien Gesellschaft aufgeht.
Wo sehen Sie Europa in zehn Jahren?
Stern: Ich beschäftige mich hauptsächlich mit der V
[1] Günther Lachmann, „Deutschlands neue liberale Partei“, GEOLITICO vom 30. August 2014
[2] siehe: Günther Lachmann, „Neue Liberale offen für Russland“, GEOLITICO vom 7. Januar 2015
[3] siehe: Günther Lachmann, „Liberale mit sozialem Gewissen“, GEOLITICO vom 13. September 2014