EU droht das Weimar-Schicksal
Die Verkettung ungelöster wirtschaftlicher und politischer Krisen führte in Europa schon einmal zu Totalitarismus und Krieg. Warum 2015 wieder ein Schicksalsjahr ist.
Die Frage, was Griechenland, Portugal, Spanien und Großbritannien gemeinsam haben, ist leicht zu beantworten: Die Regierungen in diesen Staaten fahren einen austeritätspolitischen Kurs und müssen sich 2015 zur Wiederwahl stellen.
Griechenland macht, wie wir seit einigen Tagen wissen, am 25. Januar den Anfang. Dass es so gekommen ist, kann eigentlich niemanden überraschen. Die von der Troika forcierte „Sanierungskonzeption“ hat überall, wo sie in Europa angewendet wird, die jeweiligen politischen Systeme an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Über diesen austeritätspolitischen Kurs sollen nun die Griechen entscheiden. Die Briten wählen dann am 7. Mai ein neues Unterhaus, in Portugal wird am 11. Oktober neu gewählt und zuletzt in Spanien am 20. Dezember.
Vor ein paar Jahren noch hätte das europaweit den allermeisten allenfalls ein müdes Schulterzucken und die Frage „Na und?“ entlockt. Genauer gesagt, vor der europäischen Schuldenkrise, die eine unmittelbare Folge der historisch kostspieligsten Rettung und Stabilisierung der durch unverantwortliche Deregulierung und kriminelles Fehlverhalten von Groß- und Investmentbanken destabilisierten Finanzmärkte war. Der von und in Europa gewählte Weg zur Sanierung der überstrapazierten Staatsfinanzen in den von der Banken- und der sich anschließenden Weltwirtschaftskrise besonders hart getroffenen Mitgliedstaaten der Union, hat das Bild jedoch völlig verändert. Das macht das Wahljahr 2015 möglicherweise zu einem entscheidenden Jahr für die Zukunft Europas.
Betrogene Völker
Inhaltsverzeichnis
In den meisten europäischen Krisenländern ist die wirtschaftliche Lage heute schlechter als zu Beginn der Schuldenkrise. In jedem Fall gilt das für inzwischen große Teile der dortigen Bevölkerung. Sie werden von der Euro-Gruppe und von den eigenen großen Volksparteien, die entweder abwechselnd oder gemeinsam regieren, gezwungen, die Zeche zu zahlen, ohne für sich selbst Licht am Ende des Tunnels erkennen zu können. Ihnen wurde anfangs eingeredet, sie hätten über ihre Verhältnisse gelebt und anschließend erklärt, es gebe keine Alternative dazu.
Doch das glauben immer weniger Menschen. Ihre Realitätswahrnehmung straft die Politiker ebenso wie die als Zeichen der Besserung präsentierten statistischen Daten Lügen. Anders ist es nicht zu erklären, dass nach nun mehr fünf Jahren des europäischen Krisenmanagements und der Anwendung des wirtschaftsliberalen, austeritätspolitischen Sanierungskonzepts die Wut in der Bevölkerung immer weiter gestiegen ist und sich zunehmend in den Wahlresultaten der altehrwürdigen Volksparteien in direkt oder indirekt betroffenen Mitglied-staaten niederschlägt. Ihr Rückhalt in der Wählerschaft ist teilweise massiv geschrumpft. Das gilt nicht zuletzt für Griechenland.
Die Macht der großen Volksparteien in Europa wird inzwischen ernsthaft von Parteien herausgefordert, die vor Beginn der europäischen Schuldenkrise in Griechenland (Ende 2009) politisch unbedeutend waren oder überhaupt noch nicht existierten. Ihr Aufstieg kann und muss vielleicht sogar als Zeichen des Niedergangs der großen, etablierten Volksparteien angesehen werden. Denn der Prozess des Wählerschwundes der großen Volksparteien ist so wenig gestoppt wie die europäische Schuldenkrise beendet und die Gefahr einer erneuten Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise gebannt ist. Dieser letztlich unbewältigte Krisencocktail ist die Ursache für die Krise des politischen Establishments.
Was folgt aus dem politischen Versagen?
Das hat jedoch eine Reihe von Gründen. In der Wahrnehmung einer inzwischen signifikanten Zahl von Bürgern
- sind die großen Volksparteien nicht nur gleichermaßen unfähig oder unwillig, die Probleme im Land sowie vor allem die großer Bevölkerungsteile im Land zu lösen,
- mehr noch unterscheiden sie sich in der Politikpraxis kaum noch,
- gelten als hoffnungslos verfilzt und unfähig zur Erneuerung,
- belegen durch immer neue, schlagzeilenträchtige Skandale, wie sehr ihre Mitglieder stets die eigenen Vorteile im Blick und wie wenig Skrupel sie nicht selten haben, persönliche Vorteile zu Lasten oder zum Schaden der Gesellschaft zu erzielen, ohne dafür angemessen zur Verantwortung gezogen zu werden.
Genau an dieser „Mängelliste“ knüpfen die aufstrebenden Parteien nun sehr erfolgreich an. Das ist es, was den in 2015 anstehenden Parlamentswahlen in Griechenland, Großbritannien, Portugal und Spanien eine herausgehobene Bedeutung verleiht. Denn für andere Parteien könnte es sich auszahlen, wenn sie die durch diese Mängelliste hervorgerufene Wut und die entstandenen Bedürfnisse bedienen. Sie könnten erhebliche Bewegung in das politische Gefüge in der Europäischen Union bringen und letztlich vielleicht gar zu einem Umbruch führen.
Auch wenn das vielleicht nicht gerade hoch wahrscheinlich ist, einen kritischen Reifegrad hat die Situation in der Politiksphäre inzwischen aber erreicht. Nichts hat das deutlicher gezeigt als die Europawahl am 25. Mai. Deswegen sind gravierende politische Veränderungen zumindest in einigen Mitgliedstaaten auch nicht mehr auszuschließen.
Davon könnten aufstrebende Parteien profitieren. In Griechenland ist es die Linkspartei Syriza, in Spanien die noch junge linksalternative Partei Podemos („Wir können“). Beide überholen die großen etablierten Parteien inzwischen in den Umfragen. In Großbritannien wird die eurokritische, rechtsgerichtete Britische Unabhängig-keitspartei (UKip) immer stärker. Nur in Portugal existiert bis jetzt noch keine ernstzunehmende Konkurrenz für das politische Establishment.
Auch in Frankeich und Italien sind im Zuge der europäischen Schuldenkrise aus denselben Gründen Parteien zu einer ernsten Konkurrenz für die alten Volksparteien herangewachsen. In Frankreich ist es der rechtsextreme „Front National“, der in Umfragen zur nächsten Präsidentschaftswahl inzwischen sogar schon als stärkste Kraft gesehen wird. In Italien ist es die „Fünf-Sterne-Bewegung“ von Beppe Grillo.
Sogar im wirtschaftlich scheinbar krisenresistenten Deutschland hat sich die politische Landschaft verändert. Die FDP ist in die Bedeutungs-losigkeit abgerutscht, die rechtsgerichtete „Alternative für Deutschland“ profitiert hingegen zunehmend von der Unzufriedenheit mit dem europapolitischen Kurs der Bundesregierung.
Augenscheinlich profitieren all diese aufstrebenden links- oder rechtsgerichteten Parteien umso mehr, je stärker und länger sich ein Land selbst wirtschaftlich auf Krisenkurs befindet oder indirekt von der Krise in anderen Ländern betroffen ist, was sich nicht zuletzt in zunehmender Fremdenfeindlichkeit äußert. Weil jedoch diese aufstrebenden Parteien ganz unterschiedliche Bereiche des politischen Spektrums abdecken, ist es gleichwohl weder angebracht noch glaubwürdig, sie pauschal als populistisch, unseriös und gefährlich abzustempeln. Auf einige trifft das ganz gewiss zu, auf alle jedoch ganz sicher nicht.
Das Gespenst der Weimarer Republik
Umso erstaunlicher ist es, dass die großen Volksparteien aus der richtungsweisenden Europawahl im Mai offenbar keine Lehren gezogen haben – jedenfalls keine erkennbaren. Alles geht so weiter wie bisher. Insofern ist es allerdings auch überhaupt keine Überraschung, sondern nur die logische Konsequenz, dass der Euro-Zone mit der Neuwahl in Griechenland jetzt erneut eine ernste Krise droht.
Nur für den Fall, dass noch immer nicht klar geworden ist, was die Neuwahlen in Griechenland für Europa bedeuten:
Der von den großen Volksparteien in der Union eingeschlagene Kurs zur Bewältigung der europäischen Schuldenkrise hat Europas Probleme nicht gelöst, sondern nur dazu geführt, dass überall in Europa sukzessive wirtschaftliche und schließlich auch politische Verhältnisse geschaffen wurden wie im Zuge der ersten Weltwirtschaftskrise in der Weimarer Republik. Griechenland ist jetzt das erste Euro-Land, in dem mit den Neuwahlen genau die Situation eingetreten ist, in der die Wähler sich entscheiden müssen, ob sie mit diesem krisenpolitischen Kurs brechen und die Zukunft ihres Landes jemandem anvertrauen, der an der Spitze einer Partei ohne Regierungserfahrung steht und ihnen unter dem Strich deswegen natürlich nichts anders als Versprechungen bieten kann.
Griechenland ist ebenso wie zu Beginn der Euro-Krise im Jahr 2010 wieder nur das erste einer Reihe von Euro-Ländern, in denen sich die Dinge wirtschaftlich und politisch auf einen kritischen Punkt zubewegen. 2012 stoppte die Dominosteinkette der Euro-Krise bei Spanien und Italien. Dieses Mal dürfte Frankreich ganz sicher dazu gehören.
Die Verkettung ungelöster Haushalts- und wirtschaftlicher Probleme mit politischen Krisen ist in Europa nicht ohne historisches Beispiel. Im Zuge der ersten großen Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise passierte dasselbe auch in der Weimarer Republik. Das ist bekannt. Und doch ist es erschreckend, dass dies beharrlich ignoriert wird, obwohl die Entwicklung heute der damaligen im Wesentlichen folgt. Das gilt ganz besonders auch für die Reaktionen des wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Establishments, aber auch für die führenden Medien – dem „Informationszeitalter“, der „Wissensgesellschaft“ und allem wirtschaftswissenschaftlichen Fortschritt zum Trotz. Das lässt sich exemplarisch verdeutlichen.
In der folgenden Tabelle 1 sind die Ergebnisse der Parteien bei Wahlen in der Weimarer Republik aufgeführt.
Die Wahl im Jahr 1928 ist die letzte vor dem großen Börsencrash von 1929 in New York und vor Beginn der ersten großen Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise gewesen. Danach erfolgten Wahlen in kurzen Abständen, die nicht zuletzt eine Folge der schweren Schulden- und Wirtschaftskrise sowie der von Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrums-Partei) verfolgten Austeritätspolitik waren. Ende Januar 1933 war Brüning mit dieser Politik endgültig politisch gescheitert. Adolf Hitler wurde von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Bei der Wahl am 5 März 1933 erhielt seine NSDAP zwar nicht die erhoffte absolute Mehrheit, konnte diese aber zusammen mit dem Koalitionspartner DNVP sichern.
Zum Vergleich sind in der nachfolgenden Tabelle 2 Termine und Ergebnisse von Parlamentswahlen in Griechenland ab Oktober 2009 aufgeführt sowie zusätzlich auch die Europawahlergebnisse, weil diese den Boden für die nun anberaumte Neuwahl Ende Januar 2015 bereiteten.
Zur Erinnerung: Die Wahl im Oktober 2009 hatte einen Erdrutschsieg für die sozialdemokratische PaSoK gebracht. Sie löste erstmals wieder nach langer Zeit die konservative Nea Dimokratia an der Regierung ab. Doch bereits wenige Monate später, nämlich Ende 2009, holten die PaSoK die von der Nea Dimokratia geerbten Versäumnisse und Probleme ein. Die Schuldenkrise Griechenlands begann.
Vergleich mit dem Aufstieg der NSDAP
Ähnlich wie die NSADP in der Weimarer Republik erlebte auch die Linkspartei Syriza mit der einsetzenden scharfer Krise in Griechenland einen kometenhaften Aufstieg. Verloren hatte, wie aus Tabelle 1 zu ersehen ist, in den Krisenjahren Anfang der 30er Jahre vor allem die SPD. 1929 fuhr sie mit 29,8 Prozent der Stimmen ihr bestes Ergebnis seit 1919 ein. Doch bei jeder anschließenden Wahl büßte sie sukzessive immer mehr Stimmenanteile ein. Die NSDAP profitierte davon, nahm aber ebenso der rechtsnationalen DNVP viele Stimmen ab.
Auch in Griechenland erlebten die Sozialdemokraten (PaSoK) einen verheerenden Stimmeneinbruch. Sie stürzten von 43,9 Prozent der Stimmen bei der Wahl im Oktober 2009 auf 12,2 Prozent bei der Parlamentswahl im Juni 2012 ab und erreichten bei der Europawahl im Mai 2014 selbst im Bündnis mit anderen kleinen Parteien („Eli“ = Olivenbaum) nur noch einen Stimmenanteil von 8 Prozent. Die konservative Nea Dimokratia brach zwar nach der Wahl in 2009 auch bei der im Mai 2012 nochmals überraschend stark ein, legte aber – dank massiver politischer und medialer Unterstützung aus der Euro-Zone – bei der anschließenden Parlamentswahl im Juni 2012 wieder deutlich zu.
Bei der Europawahl in Griechenland im Mai 2014 verlor sie hingegen trotz einer innerhalb der EU überdurchschnittlich hohen Wahlbeteiligung von 58 Prozent erneut stark, wie aus Tabelle 2 zu ersehen ist. Insofern und aufgrund aller Umfragen seit der Europawahl, die durchweg Syriza als stärkste Partei sahen, scheint es fraglich, ob die Nea Dimokratia bei der Parlamentswahl am 25. Januar wieder stärkste Partei werden kann.
Ein wesentlicher Unterschied im historischen Vergleich mit der Weimarer Republik ist, dass die NSDAP eine extrem rechtsgerichtete Partei war, vergleichbar mit der Goldenen Morgenröte in Griechenland. Syriza hingegen ist eine linke Partei, und sie ist offenbar nicht extremistisch. Vielmehr ist sie eher vergleichbar mit der Linkspartei in Deutschland. Insofern scheint sich die Geschichte in Griechenland jedenfalls nicht zu wiederholen.
Die rechtsextreme Goldene Morgenröte liegt gemäß letzter Umfragen nur bei etwa 4-6,5 Prozent – zu wenig, um die Geschicke in Griechenland maßgeblich beeinflussen zu können. Zudem sind dort auch neue Mitte-Links-Parteien entstanden, insbesondere die beiden Parteien „To Potami“ („Der Fluss“) und „Die Reformer“, die bei der anstehenden Wahl gemeinsam als Mitte-Links-Bündnis antreten werden und die Gewichte im neuen Parlament insgesamt eher noch weiter auf die linke Seite des politischen Spektrums verschieben könnten.
Vor diesem Hintergrund ist es besorgniserregend, wie etwa die Bundesregierung und die Europäische Kommission auf die gescheiterte Präsidentenwahl in Griechenland und auf die in den Umfragen führende Linkspartei Syriza reagieren, weil diese den austeritätspolitischen Kurs im Fall eines Wahlsieges nicht fortsetzen will. So hat beispielsweise Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble gestern vor einer Abkehr vom austeritätspoli-tischen Kurs gewarnt: „Die harten Reformen tragen Früchte, sie sind ohne jede Alternative“, wird Schäuble zitiert. Deutschland werde Griechenland weiterhin auf dem Reformkurs „mit Hilfe zur Selbsthilfe“ unterstützen. Sollte Griechenland einen anderen Weg einschlagen, dann „wird es schwierig“.[1]
Reichskanzler Heinrich Brüning war auch vom austeritätspolitischen Konzept überzeugt und davon, dass es – auf lange Sicht – Früchte zu tragen würde. Das änderte aber dennoch nichts daran, dass immer größere Teile der notleidenden Bevölkerung das damals anders beurteilten. Sein Kurs führte letztlich zur endgültigen Demontage der parlamentarischen Demokratie.
Ignoranz der Herrschenden
Den wirtschaftsliberalen Sanierungskurs für alternativlos zu erklären, wie es neben Wolfgang Schäuble auch Bundeskanzlerin Angela Merkel tut, bedeutet darüber hinaus, wirtschaftswissenschaftlichen Fortschritt für unmöglich zu erklären. Und „unmöglich“ ist etwas immer nur genau so lange, bis es plötzlich einer macht oder präziser gesagt, bis einer die Möglichkeit erhält, es zu machen.
Auch das ist in der ersten Weltwirtschaftskrise und in der Weimarer Republik nicht anders gewesen. Hitler hat einen teuflischen Weg gewählt, um das Land aus der Krise zu führen, das ist keine Frage. Aber es war ein anderer und er orientierte sich wirtschaftspolitisch am Ökonomen John Maynard Keynes, dem die Weltwirtschaftskrise überhaupt erst zum wissenschaftlichen Durchbruch verhalf. Keynes hatte eine Alternative, die bis dahin von den Vertretern der herrschenden wirtschaftsliberalen Lehre abgelehnt und von den führenden Politikern und Parteien ignoriert worden war.
Freilich heißt das nicht, dass Keynes’ Ansatz heute die Lösung für Griechenland wäre. Denn schuldenfinanzierte Stimulierung kann nur funktionieren, wenn konjunkturelle Probleme vorliegen. Markt- oder wirtschaftsstrukturelle Probleme, die unter anderem in Griechenland vorliegen, lassen sich damit nicht beheben. Allerdings ist Keynes unzweifelhaft ein Beleg dafür, dass Wirtschaftsliberalismus und liberale Austeritätspolitik nicht alternativlos sind.
Die Finanzmarktkrise, die ganz besonders auch eine Folge der wirtschaftsliberal begründeten Deregulierung war – in der Krise ab 1929 ebenso wie in der ab 2008 – ist hingegen der Beleg dafür, dass Märkte – anders als die liberal-neoklassische Wirtschaftslehre und liberal-konservative Politiker unterstellen – keineswegs prinzipiell selbstregulierend und selbstheilend sind. Auch das erlaubt grundsätzliche Zweifel an der Behauptung, der austeritätspolitische „Reformkurs“ sei der einzig erfolgversprechende und deswegen alternativlos. Die in der Europäischen Union hartnäckig fortbestehenden enormen wirtschaftlichen Ungleichgewichte haben sowohl markt- als auch wirtschaftsstrukturelle Ursachen, die auf sich selbst überlassenen Märkten offensichtlich keineswegs von selbst verschwinden. Doch genau darauf baut das austeritätspolitische Konzept.
Wie sehr das Verhalten von Politik, liberal-neoklassischem ökonomischem Mainstream und führenden Medien heute und ganz besonders in Bezug auf Griechenland und andere Schuldenstaaten dem damaligen ähnelt, verdeutlicht das folgende Zitat aus dem Leitartikel der Frankfurter Zeitung vom 15.09.1930. In diesem Artikel werden die Reichstagswahlen vom 14.09.1930 – ähnlich wie es jetzt für die anstehenden Wahlen in Griechenland zu erwarten steht – als „Erbitterungs-Wahlen“ bezeichnet. Die Wahl brachte damals ein politisches Beben. Die rechtsextreme NSDAP errang erdrutschartig 107 Sitze im Reichstag – nach zuvor lediglich 12 Sitzen:
„… Kein positiver Wille, auch nicht der zu einem wirklichen Umsturz des heutigen Staates, nicht einmal der zu dem gewaltsamen Versuch eines Umsturzes unserer heutigen außenpolitischen Grundlagen, steht hinter einem großen Teil dieser radikal-negierenden Stimmen. Ein solcher Umsturz-Wille ist, wir dürfen uns wahrhaftig nicht in Illusionen wiegen, bei einem Teil sicherlich vorhanden. Der andere Teil hat lediglich Protest gewollt. Protest – auch darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen, und am allerwenigsten dürfen das diejenigen Parlamentarier und sonstige Parteistellen, die es zunächst angeht – gegen die Methoden des Regierens oder Nichtregierens, des entschlußlosen parlamentarischen Parlamentierens der letztvergangenen Jahre, die jedem anderen mißfallen haben als den Parlamentariern, die sie betrieben. Protest gegen die wirtschaftliche Not, die furchtbar ist und die viele, zum Teil aus ehrlicher Verzweiflung zum anderen bloß aus dem Ärger über diese oder jene Einzelmaßnahme, einfach in die Stimmung treibt: die Partei, für die sie bisher gestimmt hatten, habe ihnen nicht geholfen, also versuche man es nun einmal mit der anderen Tonart. Hitler verspricht ja Macht, Glanz und Wohlstand. Also! Wie wäre es, wenn Hitler jetzt wirklich die Möglichkeit erhielte, die Macht zu ergreifen? Er stünde nackt und bloß und wüßte in Wirklichkeit nichts, gar nichts, um seine Versprechungen zu erfüllen und Deutschland aus der Not herauszuführen..“[2]
Regierungen als Institutionen der Krise
Für die alteingesessenen Volksparteien in der Europäischen Union ist mit Blick auf Griechenland Alexis Tsipras, der Parteichef der Syriza, derjenige, der „Macht, Glanz und Wohlstand“ verspricht und dem diese Fähigkeit immer wieder insbesondere von Vertretern der fest etablierten liberal-konservativen Parteien lautstark abgesprochen wird. Freilich soll damit verhindert werden, dass er von den Wählern die Möglichkeit erhält, den Beweis anzutreten. Gelänge es ihm, gewählt zu werden und es besser oder vielleicht sogar nur nicht noch schlechter zu machen, dann könnte die Blamage für die Verfechter des bisherigen austeritätspolitischen Kurses und damit für die etablierten großen Parteien in der Euro-Gruppe kaum größer sein.
Es ist, wie der historische Vergleich zeigt, in Krisenzeiten eine äußerst riskante Wahlkampfstrategie, Spitzenpolitikern neuer oder bekannter, aber ehedem unbedeutender Parteien pauschal zu unterstellen, sie könnten kein besseres Krisenkonzept haben, weil das schlicht unmöglich sei. Denn irgendwann wird damit nicht mehr das Konzept, sondern nur noch die Krise selbst oder genauer gesagt die institutionalisierte Krise, nämlich die Regierung, für alternativlos erklärt.
Ist sie das – in Griechenland und anderen Mitgliedstaaten? Und: Wie ist es um die Demokratie bestellt, wenn Regierungen eine Bedrohungsszenario bemühen und unterschiedslos auf jede andere Partei anwenden, um sich für alternativlos erklären zu lassen?
Letztlich könnten in Griechenland jedoch vielleicht sogar weniger die Frage des Krisenkonzepts, sondern vielmehr die anderen, oben angesprochenen Punkte der „Mängelliste“ der altehrwürdigen Parteien wahlentscheidend sein. Für die etablierten Parteien, die sich 2015 in Großbritannien, Portugal und Spanien Wahlen stellen müssen, würde das nichts Gutes bedeuten. Aber zu sagen, es wäre schlecht für Griechenland und Europa, wenn die großen Volksparteien für ihre Politik keine Mehrheit mehr finden, das wäre wenigstens ein voreiliges Urteil.
Das ist Stoff zum Nachdenken.
Anmerkungen
[1] „Warnungen vor Ende der Sparpolitik“, tagesschau.de: http://www.tagesschau.de/wirtschaft/griechenland-neuwahlen-reaktionen-101.html
[2] Wörtlich aus dem Leitartikel der Frankfurter Zeitung vom 15.09.1930, Nr. 688, zitiert nach W. Conze, „Der Nationalsozialismus“, Teil I, Stuttgart, 6. Aufl. 1972, RZ 54, S. 38-39