Gefährliche Attacke aufs Wahlrecht

 Der Ökonom Straubhaar will ein Wahlrecht für Kinder gegen die „Diktatur der Alten“. Stimmberechtigt wären die Eltern. Er will zurück zum Klassen-Wahlsystem!

Am 28.02.2014 erschien ein Beitrag des Ökonomen Thomas Straubhaar im Online-Portal der WELT[1], den musste man zweimal durchlesen, um wirklich zu glauben, was dort vorgeschlagen wurde und mit welcher Begründung. Herr Straubhaar ist Direktor und Sprecher der Geschäftsführung des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) sowie Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. Seit Neuestem ist er zudem ein Fellow der Transatlantic Academy in Washington D. C., es handelt sich also um ein wissenschaftliches Schwergewicht der Ökonomie.

Aber vielleicht ist das ja gerade das Problem, denn das Thema „Wahlrecht für Kinder“, das er behandelt, geht doch ein wenig an seiner eigentlichen Profession vorbei. So wie der Text ausgeführt ist, ist er ernst gemeint, es handelt sich also nicht um einen bloßen Denkanstoß, eine reine Provokation, bei der man davon ausgehen soll, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen niemals Wirklichkeit werden sollen. Das ist bedenklich, denn es geht beim Thema „Wahlrecht für Kinder“ nicht um irgendeine Nebensächlichkeit, sondern um die vorgeschlagene Verwässerung eines der Kernbestandteile unserer demokratischen Ordnung.

Auf Schmusekurs mit den Senioren

Im erwähnten Beitrag „Deutschland verkommt zur Diktatur der Rentner“, beklagt der Professor aus Hamburg (der eigentlich ein Schweizer ist), dass sich anhand der geplanten Rentenreform veranschaulichen lasse, dass die Große Koalition in Berlin auf Schmusekurs mit den Senioren gehe ohne Rücksicht auf Finanzierbarkeit und den daraus erwachsenden Belastungen für kommenden Generationen. Es soll einen abschlagsfreien Übergang geben, der Arbeitnehmern erlaubt, schon mit 63 in Rente zu gehen, wenn sie 45 Jahre lang gearbeitet haben.

Die Kosten sind nicht da eigentliche Problem für den Professor, so lässt sich seinem Beitrag entnehmen. Sie sollen nach letzten Schätzungen sich bis 2030 insgesamt auf ca. 233 Milliarden Euro belaufen.[2] Nein, sein Problem ist die Macht der Alten an sich:

„Dramatischer noch als die zusätzlichen Kosten von rund zehn Milliarden Euro pro Jahr ist aber das Signal, das von den Rentenbeschlüssen des schwarz-roten Bundeskabinetts ausgeht. Es verdeutlicht mit einer kaum zu vertuschenden Arroganz, bei wem in Deutschland die Macht liegt: den Älteren, deren politisches Übergewicht zunehmend dramatischer wird. Die deutschen Regierungsparteien zeigen, dass sie verstanden haben, wo in einer alternden Bevölkerung die politischen Kraftfelder liegen. Nicht erst in einer fernen Zukunft, sondern heute schon lässt sich in Deutschland gegen die Macht der Senioren keine Politik mehr machen. Wahlsiege und Mehrheiten gibt es nur noch mit und nicht mehr ohne Zustimmung der Senioren. Wer das verkennt, hat in alternden Demokratien keine politische Überlebenschance. Er wird vom lauten, oft schrillen, manchmal gar gehässigen Protest der Grauhaarigen aus dem Amte gemobbt.“

„Gehässige Proteste“

Und dabei ist Straubhaar in Hamburg relativ weit weg von Stuttgart, wo man die zum Teil auch grauköpfigen Wutbürger, die gegen den neuen Hauptbahnhof demonstrierend die Politiker das Fürchten lehrten, leibhaftig hätte studieren können. Aber was hat ihn denn zur Formulierungen über „gehässige Proteste“, die Politiker aus dem „Amte mobben“ gebracht? Und hier muss man schon anmerken: Die Wahlgeschenke der Politiker in einer Demokratie betreffen viele gesellschaftliche Gruppen, nicht nur die Alten, das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Aber Straubhaar „wütet“ noch weiter gegen die Alten:

„Unter 18-Jährige haben auf Bundesebene gar keine politischen Rechte. Und die „Sandwich-Generation“ der nicht mehr Jungen, aber noch nicht Alten findet kaum Zeit, sich aktiv um Rentenpolitik (…) zu kümmern. Der Verzicht ist zwar ihre freie Entscheidung – und damit ihr Fehler. Aber so ist nun einfach der reale Alltag: Politik und Gesellschaft kommen erst nach Familie und Beruf. Das stärkt noch einmal die politische Macht der Grauhaarigen, die eher die zeitlichen Freiräume haben, sich zu engagieren, als Wutbürger ihre Interessen zu verfolgen, bei Protestmärschen mitzumachen und zur Wahlurne zu gehen. Das Diktat der Alten wird die Richtung der deutschen Politik verändern. Verharren wird vor Verändern kommen. Gegenwart wird wichtiger als Zukunft. Die Lebensqualität der heutigen Generation bestimmt das Tun und nicht die Interessen der Kindeskinder. (…).

Je länger gewartet wird, sich dem Diktat der Alten zu widersetzen, umso schwieriger wird es für die junge Generation und ihre Kindeskinder werden, die Machtübernahme durch die Senioren zu verhindern. Noch nicht geborene oder kleine Kinder haben keine Lobby, weil sie kein politisches Gewicht haben. Sie können weder wählen noch abstimmen. Deshalb glaubt man, ihnen ungefragt und ungestraft die Folgekosten für Mildtaten zugunsten der heutigen Rentnergenerationen zumuten zu dürfen. Um die Jungen gegen eine Diktatur der Alten zu schützen, sollten Kinder das aktive Wahl- und Stimmrecht erhalten. Für unter 18-Jährige müssten Eltern oder Sorgerechtsvertreter die politischen Interessen ihrer Zöglinge bis zu deren politischer Volljährigkeit wahrnehmen können. Das tun sie als Erziehungsberechtigte ja sowieso in allen anderen Bereichen. Wieso nicht auch bei politischen Entscheidungen?

Wenn Kinder von Geburt an das aktive Wahl- und Stimmrecht erhalten, werden sie für die heutige Politik schlagartig interessant. Sie wären dann nicht mehr länger machtlos und müssten ohnmächtig zusehen, wie die älter werdende Gesellschaft von heute zu oft und zu weitreichend die Handlungsspielräume kommender Generationen verengt.“

„Diktatur der Alten“

Weil wir eine alternde Gesellschaft haben, wird es zu einer „Diktatur der Alten“ kommen. Straubhaar hätte den etwas weniger verletzenden Begriff „Gerontokratie“ benutzen können, was die Herrschaft der Alten bedeutet. Aber es reichte nicht, man musste den Teufel noch deutlicher an die Wand malen, er spricht von der „Diktatur der Alten“. Dieses Lamentieren über die Zunahme der Alten und deren Folge für die Demokratie erinnert ein bisschen an die grundsätzliche Kritik der Konservativen im 19. Jahrhundert: Hier sah man durch die Ausweitung des Wahlrechts gleich die Ochlokratie, also die Pöbelherrschaft, um die Ecke biegen. Auch dieses Schreckensszenario hatte sich nicht bewahrheitet.

Es verwundert schon einmal die allgemeine Argumentation des Ökonomen. Die Nahles-Rentenreform, wie immer man sie einschätzt, wird als Untat hingestellt, die die Rechte der nachwachsenden Generation in Deutschland beeinträchtigt. Und die Frage, wie tragfähig unser Rentensystem überhaupt insgesamt noch ist, wird in Straubhaars Beitrag gar nicht gestellt. Die neue Rentenpolitik der Großen Koalition jedenfalls wird als ein erstes Anzeichen der drohenden Geronto-Diktatur in Deutschland angesehen, der man nur mit der Aufgabe des Gleichheitsprinzips beim Wahlrecht entgegenwirken müsse.

Drohenden finanzielle Katastrophen

Wenn Straubhaar die lumpigen 233 Milliarden Euro, die auf 16 Jahre verteilt bis 2030 anfallen, als angemessenen Anlass für seinen fragwürdigen Vorschlag ansieht, warum hat er bei anderen drohenden finanziellen Katastrophen nicht schon früher die nachfolgenden Generationen verteidigt und sein Veto eingelegt? Denn schließlich gibt es unheilvolle Entwicklungen vor allem in der Eurozone, da wäre es wirklich angebracht gewesen, den Mund aufzumachen.

Ein Beispiel wäre die private Altersvorsorge. Viele Menschen in Deutschland, auch die durchaus nicht vermögenden, haben den Politikern vertrauend, die nach jahrzehntelanger Die-Rente-ist-sicher-Propaganda plötzlich eine Kehrwendung gemacht und von der Bevölkerung gefordert hatten, sich auch privat zusätzlich abzusichern, in Altersvorsorgeprodukte investiert. Man wollte so einer drohenden Altersarmut entgehen. Für die nachwachsende Generation hat es den Vorteil, dass weniger Menschen im Alter in die Sozialhilfe abrutschen würden, wo dann bei einer gesetzlichen Minirente nur noch die direkte Alimentation durch den Staat, also durch die aktuellen Steuerzahler, übrig bliebe.

Große Summen sind im Spiel

Die im Zuge der europäischen Banken-, Staaten- und Euro-Rettung einsetzende finanzielle Repression bei niedrigen Zinsen und immer noch ausreichend hoher Inflation, die eventuell zu einer jahrzehntelangen anhaltenden Phase der negativen Realverzinsung für alle Sparvermögen führt, wird natürlich auch die Erträge von Versicherern mit ihren Rentenprodukten treffen; die private Altersvorsorge wird geschreddert. Die Bürger werden es spüren, die alten wie die jungen.

Professor Straubhaar sieht diese Entwicklung offenbar als Gott gegeben an, und der Euro muss eben gerettet werden, koste es die nächste Generation, was es wolle. Es ist für ihn kein Thema, sich aufzuregen. Und große Summen sind im Spiel, wenn es um die Haftungsrisiken für die Euro-Rettung geht.[3] Schon nach den offiziellen Zahlen der Bundesregierung geht es um eine Summe von 122 Milliarden Euro.

Ob diese Zahlen stimmen, ist zu bezweifeln. Das Ifo-Institut berechnete die maximale Haftungssumme für Deutschland allein mit 632 Milliarden. Hier wird aber noch sehr optimistisch davon ausgegangen, dass es keinen Ausfall eines anderen Haftungsbeteiligten geben wird. Niemand, der sich mit der Materie auseinander setzt, kann ernsthaft daran glauben, dass nicht irgendwann gehaftet werden muss, denn zu hoch ist der Verschuldungsgrad der westlichen Gesellschaften. Was zur Zeit gemacht wird, ist die Verschleppung der Insolvenz.

Das freie, gleiche und geheime Wahlrecht

Es ist seltsam, dass sich Straubhaar diesbezüglich noch nicht echauffiert und keine radikalen Forderungen gestellt hat. Denn wenn wirklich die maximale Haftungssumme zum Tragen käme, wäre eine ganze künftige Generation enteignet. Vergleichbar wäre das nur noch mit den Verhältnissen nach der Währungsreform 1948.

Man muss den Beitrag Straubhaars aber noch von einer anderen Seite her beleuchten, denn seine Ausführungen zum Wahlrecht sind nicht belanglos. In der Bundesrepublik gilt laut Artikel 38 des Grundgesetzes das allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlrecht. Das heißt, die Stimme jedes Wahlberechtigten ist von gleichem Gewicht – und wahlberechtigt ist jede volljährige und sich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte befindliche Person, die die Staatsbürgerschaft dieses Landes erhalten hat. Das Gewicht der Stimme eines berechtigten Wählers darf weder durch Besitz oder Einkommen noch durch Bildung, Geschlecht, Religion oder durch andere Gesichtspunkten eingeschränkt oder aufwertet werden, also auch nicht durch Alter oder Kinderreichtum. Dies ist eine Errungenschaft der revolutionären Kämpfe des 19. Jahrhunderts. Diese Errungenschaft in Frage zu stellen ist ein Verrat an der Demokratie.

Straubhaar will allen Ernstes abgehen von unseren erkämpften demokratischen Grundsätzen und offenbar hin zu einer Art neuem Ständewahlrecht, das Menschen mit Kindern ein größeres Stimmengewicht zusprechen will als Kinderlosen. Solche Gedanken sind für mich weit über der Grenze dessen, was noch eine demokratische Ordnung im herkömmlichen Sinne umfasst.

Büchse der Pandora öffnen?

Bei einem unserer Gemeinschaftskundelehrer früher in der Schule musste zur Veranschaulichung des Gleichheitsprinzips bei der Wahl immer das preußische Dreiklassenwahlrecht herhalten. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde im Königreich Preußen in einem sehr komplizierten Vorgang in drei Abteilungen nach Steueraufkommen gewählt, wobei die wahlberechtigten Männer der 1. Abteilung (ein Frauenwahlrecht gab es noch nicht) in der Stimmengewichtung klar bevorteilt waren, während die Parteien mit Wählern aus den einkommensschwächeren Bevölkerungsteilen kaum Chancen hatten (Beispiel: die SPD erhielt noch 1913 im preußischen Abgeordnetenhaus mit 28,4 Prozent der Urwählerstimmen gerademal 10 Sitze = 2,3 Prozent). Wer also Vorschläge zur Änderung unserer Wahlrechtsprinzipien macht, sollte doch vorher bedenken, worüber er eigentlich spricht.

Man hat angesichts des Vorschlags des Hamburger Professors diesen Eindruck gerade nicht. Ihm ist offenbar gar nicht klar, welche Tür sich hier öffnen könnte, wenn sein Vorschlag realisiert würde. Wenn das Gleichheitsprinzip beim Wahlrecht zugunsten der Kinder bzw. ihrer Erziehungsberechtigten fällt, würden dann nicht neue Ideen über weitere „Verbesserungen“ aufkommen? Die Kinder als Gruppe in unserer Gesellschaft, die eine unverantwortliche Schuldenpolitik später ausbaden müssen, sind als Beispiel für spezielle Wahlrechtsänderungen natürlich sehr vorteilhaft. Aber es gibt ja auch noch andere gesellschaftlich Benachteiligte, die man möglicherweise über Ausgleichsmaßnahmen beim Wahlrecht im besonderen Maße schützen und fördern könnte. Wo soll das Ganze den enden, wenn man die Büchse der Pandora einmal geöffnet hat?

Wer zahlt, schafft an.

Und auch von der anderen Seite her, bei den politischen Kräften und Ideenträgern, die das allgemeine und gleiche Wahlrecht schon immer als kontraproduktiv für ein gutes Durchregieren angesehen haben, könnte wieder das Gleichheitsprinzip infrage gestellt werden. Warum sollten nicht die Bürger mehr Stimmengewicht erhalten, die mehr in die Steuerkasse zahlen? Wer zahlt, schafft an. Da wären wir dann wieder beim Klassenwahlrecht im Königreich Preußen.  Straubhaar sollte bei der Ökonomie bleiben, als Demokratietheoretiker gehört er eher zur zweiten Garnitur.

 



[1] http://www.welt.de/wirtschaft/article125276805/Deutschland-verkommt-zur-Diktatur-der-Rentner.html

[2] http://www.welt.de/wirtschaft/article124483230/Die-Rentenreform-kostet-73-Milliarden-Euro-mehr.html

[3] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/euro-rettung-deutsche-haftung-hoeher-als-schaeuble-angibt-12533836.html