Minister Hermann, ist die Politik mit Großprojekten überfordert?
In Berlin und Stuttgart arbeitete die Politik anderhalb Jahzehnte an den wichtigsten Infrastrukturprojekten Deutschlands. In beiden Fällen gerieten Planung und Ausführung zum Desaster. Warum nur? Fragen an Verkehrsminister Winfried Hermann (Die Grünen).
In einem internen Dossier hat das Bundesverkehrsministerium das Bahnprojekt Stuttgart 21 in Zweifel gezogen. Dabei hinterfragt das Ministerium kritisch die entstehenden Mehrkosten in Höhe von über einer Milliarde Euro.
Herr Hermann, wann und wie haben Sie von dem Dossier Bundesverkehrsministeriums zu Stuttgart 21 erfahren?
Winfried Hermann: Von dem Dossier habe ich auch erst heute aus der Zeitung erfahren.
Wie interpretieren Sie das Papier
Hermann: Bisher hat sich der Bund als Eigentümer der DB AG immer zurückgehalten und gebetsmühlenartig wiederholt, Stuttgart 21 sei ein eigenwirtschaftliches Projekt der DB. Angesichts der Milliarden, die die öffentliche Hand in das Projekt steckt, ist diese Haltung nicht verständlich. Offensichtlich setzt mit Blick auf das Desaster beim Hauptstadtflughafen in Berlin ein gewisses Umdenken ein. Beim Bund beginnen nun einige, ihre Verantwortung zu erkennen und wahrzunehmen.
Ist das Papier ein Misstrauensvotum gegen Bahn-Chef Grube?
Hermann: Aus dem Dossier geht hervor, dass sich auch die Bundesvertreter im Aufsichtsrat vom Vorstand nicht ordentlich informiert fühlen. Die Landesregierung weiß aus eigener Erfahrung, dass die Informationspolitik der Deutschen Bahn noch nie besonders offenherzig war. Auch die S21-Projektpartner bekommen leider meist viel zu spät und viel zu wenig Informationen.
Gab es zuvor Hinweise auf diese Einschätzung des Bundesverkehrsministeriums?
Hermann: Es gab bereits Gerüchte aus Kreisen des Bundesregierung, dass die jüngsten Kostensteigerungen und der Umgang des Vorstands damit auf wenig Gegenliebe stießen. Die Bundesvertreter haben auch bereits vor Weihnachten eine ganze Reihe kritischer Fragen an die Deutsche Bahn gestellt.
Das Dossier beschäftigt sich vornehmlich mit den Mehrkosten. Wer könnte diese Kosten tragen?
Hermann: Das Land wird sich mit Sicherheit nicht an weiteren Mehrkosten beteiligen. Der vertraglich vereinbarte Landesanteil beläuft sich auf maximal 930 Millionen Euro. Es besteht hier innerhalb der Landesregierung absolute Einigkeit, dass dies die Obergrenze ist. Dies haben wir der Deutschen Bahn auch mehrfach schriftlich mitgeteilt. Dies weiß im Übrigen auch der Aufsichtsrat und er tut gut daran, dies bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Der Bund hat die Übernahme weiterer Mehrkosten bisher auch immer abgelehnt. Gleiches gilt für die anderen Projektpartner wie zum Beispiel die Stadt Stuttgart.
Hat die Bahn ein aktienrechtliches Problem mit den Mehrkosten? Das heißt, kann der Aufsichtsrat dem überhaupt zustimmen, wenn klar ist, dass S 21 für die Bahn damit zum Zuschussgeschäft wird?
Hermann: In den Finanzierungsvertrag hat die Deutsche Bahn hineingeschrieben, dass die Wirtschaftlichkeit für sie von „besonderem Interesse“ ist. Bahnchef Dr. Grube hat bisher öffentlich gesagt, dass die Wirtschaftlichkeitsgrenze bei 4,769 Milliarden Euro liege und dass dies eine „Schmerzgrenze“ sei. Wenn die Wirtschaftlichkeit tatsächlich nicht mehr gegeben sein sollte, müssen Vorstand und Aufsichtsrat auch die haftungsrechtlichen Fragen sehr genau prüfen, bevor sie eine Entscheidung treffen.
Gibt es Ausstiegs-Überlegungen?
Hermann: Wir führen auf Seiten des Landes jetzt keine Ausstiegsdebatte. Der Ball liegt ganz klar bei der Bahn. Die Bahn muss jetzt alle Karten auf den Tisch legen und sagen, wie sie sich den weiteren Fortgang des Projekts und dessen Finanzierung vorstellt.
Was wäre bei einem Ausstieg mit den bereits vergebenen Aufträgen?
Hermann: Die bereits geschlossenen Verträge könnten gekündigt werden. Die betroffenen Bauunternehmen hätten dann einen Anspruch auf Vergütung für das, was sie bereits geleistet haben. Darüber hinaus könnten sie im Wesentlichen ihren entgangenen Gewinn beanspruchen. Dabei handelt es sich allenfalls um einen geringen Anteil des Auftragsvolumens. Die in der Presse genannten Zahlen halte ich für weit übertrieben.
Ist die Politik mit großen Infrastrukturprojekten Stuttgart 21 und dem Berliner Großflughafen schlicht überfordert?
Hermann: Nein, so grundsätzlich würde ich das nicht sagen. Es gibt international ja auch Beispiele, in denen Großprojekte nicht aus dem Ruder laufen. Tatsächlich muss sich aber die Herangehensweise komplett ändern: Insbesondere dürfen die Kosten solcher Großprojekte nicht vorher künstlich niedrig eingeschätzt und der Nutzen dafür überschätzt werden, sondern es müssen realistische Berechnungen angestellt werden, die auch die möglichen Risiken mit berücksichtigen. Das wird dazu führen, dass nur noch Projekte, die unstreitig einen hohen Nutzen aufweisen, eine Chance auf Realisierung bekommen. Zudem muss frühzeitig die Bevölkerung in eine echte Diskussion auch über Alternativen einbezogen werden. Schließlich müssen auch Probleme und Risiken frühzeitig und offensiv öffentlich diskutiert werden.
Glauben Sie, dass Stuttgart 21 in der bisherigen Planung tatsächlich realisiert wird?
Hermann: Darüber spekuliere ich nicht.
Geschrieben für Die Welt