Wo Deutschland politisch aus den Fugen gerät

DGB-Haus Stuttgart

Im Stuttgarter DGB-Haus suchen empörte Bürger den Weg zu einer gemeinsamen Demokratiebewegung. Foto: Günther Lachmann

Sie geißeln den Finanz-kapitalismus und das System der etablierten Parteien: Auf den Spuren der Demokratie der Empörten Angegraut und lebenserfahren strömt der Protest von der allwöchentlichen Montags-Demonstration auf dem Marktplatz in den großen Saal des Stuttgarter Gewerkschafts-Hauses.

Über 700 Bürger drängen durch die weit geöffneten Flügeltüren, Anti-Atom-Sticker und andere Buttons ordengleich und als Ausweis des jeweiligen politischen Bekenntnisses ans Revers geheftet, die ihren jahrzehntelangen Widerstand gegen jede Form der Bevormundung, also ihre nie erlahmte Bereitschaft sich einmischen und, wenn es sein muss, anklagen und verändern zu wollen, für jeden sichtbar herausstellen. Von der Empore lassen einige Jüngere ein großes Transparent herab, auf dem der Kapitalismus zum Feind erklärt wird: „Das internationale Finanzkapital zerstört Leben“, heißt es darauf.

Wer keinen freien Stuhl mehr findet, besetzt die Fensterbänke, wer es nicht im Kreuz hat, weicht aufs Parkett aus. Es ist wieder wie 1968 in irgendeinem Audimax, diesmal allerdings rauchfrei. Aber wie damals steht in einer durch Wut und Frustration aufgeladenen Atmosphäre nicht mehr und nicht weniger als „das System“ zur Debatte, ein System, von dem die meisten hier reichlich profitierten, das ihnen Karrieren in Verwaltung und Wirtschaft ermöglichte, das sie wohlhabend machte und von dem sie glauben, dass es am Ende doch ziemlich aus dem Ruder gelaufen ist.

Die hier zusammenkommen, haben Großes vor. Sie wollen die Reihen schließen, eine schlagkräftige Bewegung aus den vielen Gruppen bilden, die bislang ihre politische Heimat waren. „Von der Protestbewegung zur Demokratiebewegung?“, lautet das Motto des Abends. Eingeladen haben der „Verdi“-Bezirksverband Stuttgart, „Arbeitskreis direkte Demokratie“, die „Gesellschaft Kultur des Friedens“ und der „Arbeitskreis Stuttgart 21“ ist überall. Irgendwie scheint Stuttgart dieser Tage tatsächlich überall zu sein, denn Protest gegen die etablierten Parteien und deren Demokratieverständnis, gegen die Regierenden und die Macht der Finanzindustrie ist im biederen Haus der bayerischen Wirtschaft, wo der frühere Chef des Bundesverbandes der Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, mit seiner Systemkritik den „Freien Wählern“ aus Herzen spricht, mindestens so heftig wie im Stuttgarter Gewerkschaftssaal. Dieser Protest sammelt sich etwa bei Demokratie 4.0, in der „Occupy“-Bewegung, beim zutiefst bürgerlichen Hamburger Bündnis Bürgerwille oder den inzwischen weithin bekannten „Piraten“.

„Der politische Frühling kann beginnen!“

Und noch vor den ersten Wortmeldungen im Stuttgarter DGB-Haus wogt auf dem lauten Durcheinander der Stimmen der Wunsch durch den Saal, das Fragenzeichnen hinter dem Wort Demokratiebewegung möge durch ein Ausrufezeichen ersetzt werden. Dann erzwingt ein dramatischer Einsatz symphonischer Streicher und Pauken jähes Schweigen. Aus den Lautsprechern ertönt ein neues Lied von Konstantin Wecker, der Stéphane Hessels Aufruf „Empört Euch!“ schon mal zur Hymne der noch zu sammelnden Bewegung vertont hat. Kaum ist der letzte Ton verklungen, ruft einer vom Podium: „Der politische Frühling kann beginnen!“ Die Menge jubelt und klatscht sich die Hände heiß.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=Qtqjqs_AuFg&w=420&h=315]Hier wie an unzähligen anderen Orten im Land wächst der Wille zum Widerstand. In Bad Gandersheim kämpfen Bürger gegen de Bau neuer Stromleitungen, in Berlin gegen den neuen Hauptstadtflughafen und in Schleswig-Holstein gegen den Ausbau der Windkraftanlagen; sie kippen in Hamburg eine Bildungsreform und verschärfen den Raucherschutz in Bayern. Alle handeln sie nach dem Motto: Nehmt euer Schicksal selbst in die Hand, denn von denjenigen, die ihr gewählt habt, könnt ihr nichts mehr erwarten.

Vertrauen in die Demokratie verloren

Schon vor vier Jahren warnte eine Studie des Münchener Instituts „Polis/Sinus“ vor einem gravierenden Vertrauensverlust in die Demokratie. Jeder dritte Deutsche glaube nicht mehr daran, dass die Demokratie Probleme löse, berichtete das Institut. In Ostdeutschland seien es sogar 53 Prozent. Rund 40 Prozent zweifelten generell an der Funktionstüchtigkeit der Demokratie. Geradezu erschrocken reagierte der Auftraggeber der Studie, die SPD nahe Friedrich-Ebert-Stiftung. Mit einer derart grundsätzlichen Distanz der Bürger zur Politik hatte sie nicht gerechnet. „Ich fürchte, rund ein Drittel der Menschen hat sich schon von der Demokratie verabschiedet“, sagte Frank Karl damals dem „Tagesspiegel am Sonntag.“

Dabei hatte es alarmierende Anzeichen zuhauf für die heraufziehende Krise der Demokratie gegeben. Die Zahl der Nichtwähler stieg über die Jahre kontinuierlich. Im März schrumpfte die Beteiligung an der Landtagswahl im Saarland um sechs Punkte auf 61,6 Prozent. Damit stehen gerade mal etwas mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten hinter den beiden Volksparteien SPD und CDU.

Bürger verweigern die Wahl

Historische Tiefstände brachten im vergangenen Jahr die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Hamburg. Im Nordosten ging bei einer Wahlbeteiligung von 51,5 Prozent nur noch die Hälfte der Wahlberechtigten zur Abstimmung, in Bremen waren es 55,5 Prozent und in Hamburg 57,8 Prozent. Die Frage nach dem Warum, beantworten wiederum unzählige Umfragen. In einer aktuellen Studie von TNS Infratest im Auftrag der Handelshochschule Leipzig erklären 81 Prozent die europäische Finanzkrise mit dem Versagen der Politik. Auch wenn es um die Belange vor Ort geht, hat die Politik inzwischen jegliches Vertrauen verloren. Knapp zwei Drittel der Deutschen fühlen sich über ihre Beteiligungsmöglichkeiten bei Planungsvorhaben zu wenig (55 Prozent) oder gar nicht (7 Prozent) informiert, ermittelte Infratest/Dimap.

Weil die Bürger sich übergangen fühlen, will der Verein „Mehr Demokratie!“ jetzt in Schleswig-Holstein vereinfachte Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Gemeinden und Kreisen durchsetzen. Damit sollen die Bürger bereits im frühen Planungsstadium etwa beim Bau von Windkraftanlagen mitentscheiden können. „Überall im Land entstehen ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Anwohner neue Windkraftwerke“, sagt Frank Jurkat vom Bündnis „Gegenwind“. „Das sind allesamt Anlagen, die heute niemand benötigt, weil die Stromleitungen in den Süden erst in Jahrzehnten fertig werden.“

„Rückeroberung öffentlicher Plätze

Das wohl bekannteste Beispiel für den Streit zwischen Bürgern und Politik um große Infrastrukturvorhaben ist das baden-württembergische Bahnprojekt Stuttgart 21. „Vermutlich wart ihr vorhin alle unter den 5000 Teilnehmern der Montagsdemo auf dem Marktplatz. Und viele von euch waren gestern auf der Demo in Neckarwestheim“, sagt Moderator Henning Zierock, der hauptberuflich für die Linke-Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel arbeitet, im Stuttgarter DGB-Haus. „Lasst uns darüber reden, wie wir noch enger zusammenfinden, wie wir die Occupy-Leute, die Anti-Atom-Bewegung und die Aktivisten gegen Stuttgart 21 zusammenbringen und gemeinsam über den Protest zurück zur Demokratie finden.“ Donnernder Applaus.

Jens Loewe vom „AK direkte Demokratie“ geißelt die baden-württembergische Landesregierung wegen Stuttgart 21: „Diese Regierung hat den Nobelpreis für Täuschung verdient.“ Die Volksabstimmung über das Bahnhofsprojekt sei „nicht fair“ gelaufen. Voller Zynismus beschreibt er das Verhältnis zwischen Bürger und Parteien: „Wir lassen uns hinhalten und zurichten.“ Die Ziele beider Seiten seien nicht nur unterschiedlich, sondern geradezu gegensätzlich. „Den Parteien geht es allein um Machterhalt, Geld und Jobs für ihre Funktionäre“, sagt er, wobei die letzten Worte bereits im Beifall untergehen. „Demokratie aber bedeutet, dass der Souverän bestimmt, also wir, und das niemand über uns steht“, ruft er noch, sichtlich das wohlwollende Echo genießend.

„Kapitalismus das größte Übel“

Doch er bekommt auch Widerspruch. Die als Stargast angekündigte Jutta Ditfurth ist mit der generellen Parteienschelte nicht einverstanden. Die Alt-Grüne und bekennende Sozialistin mag nur Union, SPD und vor allem die Grünen nicht. Wenn es nach ihr ginge, dann wäre Deutschland längst eine Räterepublik. „Ich halte nicht die Parteien für das größte Übel, sondern den Kapitalismus“, sagt sie und gemahnt zum Kampf gegen den Feind, der letztlich auch hinter Stuttgart 21 zu suchen sei. „Es geht nicht ohne die Aktion auf der Straße“, ruft sie. „Und wenn sie uns die Straßen und Plätze nehmen, dann nehmen wir uns die Dächer!“ Das zündet. Zustimmendes Gejohle brandet durch den Saal, in dem zwischenzeitlich Spendenkörbchen zur Finanzierung des Protestes herumgereicht werden, die am Ende die vielen Euro-Scheine aus den teuren Brieftaschen der Alt-68er kaum fassen können.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=CMJkyvfyGys&w=560&h=315]Zweifellos ist der Protest hier in Stuttgart irgendwie links, aber er ist doch zugleich ebenso bürgerlich wie bei den „Freien Wählern“ im „Haus der bayerischen Wirtschaft“ oder bei der „Zivilen Koalition“, die in Berlin Front gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus macht. Was nicht heißen soll, dass die revolutionäre Attitüde in Stuttgart bestenfalls nostalgischen Charakter besitzt. So ist es nun auch wieder nicht. Die da im DGB-Haus applaudieren wollen die Erneuerung der Demokratie durch eine radikale Korrektur der Verhältnisse. „Wie Achtundsechzig setzen die Proteste mit der Rückeroberung der öffentlichen Plätze ein, die sich die bestehenden Herrschaftssysteme für eigene Machtdemonstrationen vorbehalten haben“, sagt der Sozialphilosoph Oskar Negt in einem Interview zu seinem neuen Buch „Gesellschaftsentwurf Europa“. „Occupy ist vielleicht der treffendste Ausdruck, der das Gemeinsame von Stuttgart 21, Gorleben, dem Tahir-Platz und dem Zucchoti-Park kennzeichnet.“

„Refeudalisierung der Gesellschaft“

All diese Menschen wollen wieder etwas für sich zurückgewinnen, sie wollen wieder in Besitz nehmen, was ihnen ihrer Ansicht nach abhanden gekommen ist. Sie sehen sich nicht nur ihrer Mitspracherechte, sondern auch ihrer sozial-gesellschaftlichen Sicherheiten beraubt. Eine Studie des „Instituts für Demoskopie Allensbach“ kam zu dem Ergebnis, die Mehrheit der Deutschen fürchte eine wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft: „79 Prozent der Bürger erwarten für die Zukunft wachsende soziale Unterschiede, 70 Prozent, dass eine immer größere Zahl von Menschen wirtschaftlich und gesellschaftlich nicht mehr mithalten können.“

Gleichzeitig stiegen die Einkommen der Manager auf zweistellige Millionenbeträge. Der Frankfurter Soziologe Sighard Neckel spricht in der „taz“ gar von einer „Refeudalisierung gesellschaftlicher Strukturen im Finanzkapitalismus“. Die Boni der Finanzmanager folgten nicht mehr dem Leistungsprinzip, vielmehr bringe der Finanzkapitalismus „eine Oberschicht hervor, die wie der frühere Adel jeder gesellschaftlichen Konkurrenz enthoben ist.“ Für die Deutschen stellt sich die Frage gesellschaftlicher Gerechtigkeit somit vollkommen neu, und das nicht nur im Lager der Sozialisten, gerade auch in der Mitte.

Freie Wähler gegen Bankenrettung

Hubert Aiwanger ist als Bundesvorsitzender der Freien Wähler alles andere als ein Linker. Aber seine Positionen in der Finanzkrise, seine Vorstellungen von einer Demokratie der Bürger für die Bürger unterscheiden sich kaum von denen des Stuttgarter Arbeitskreises direkte Demokratie. Daheim im Münchener Haus der bayerischen Wirtschaft spricht er zur Finanzkrise. „Wir fordern, dass die Banken für ihre Risiken selber einstehen und nicht der Steuerzahler. Wir müssen das gesamte Bankensystem einer Rosskur unterziehen“, sagt er. „Irgendwann wird es in der Schule keine Kreide mehr geben, weil wir einen Rettungsschirm nach dem anderen abfinanzieren müssen“, ruft Aiwanger und kann sich der Zustimmung der vielen Mittelständler im Saal sicher sein. „Wir sind die einzige Kraft in der bürgerlichen Mitte, die es wagt, auf diese Missstände hinzuweisen.“

In Bayern sind die Freien Wähler längst eine ernst zu nehmende politische Kraft. Vor vier Jahren traten sie erstmals zur Landtagswahl an und zogen auf Anhieb mit 10,2 Prozent der Stimmen in den Landtag ein. Damit lagen sie vor der FDP und den Grünen. Aktuelle Umfragen sehen sie bei neun Prozent. Ihr Ansatz ist es, Politik aus der kommunalen Sicht, sprich aus der unmittelbaren Betroffenheit des Bürgers für das ganze Land zu machen.

Henkel ruft zum Wiederstand auf

Seit Monaten reist Aiwanger quer durch die Republik und sammelt Anhänger für die geplante Teilnahme an der Bundestagswahl im kommenden Jahr. Damit das überhaupt möglich wird, muss er aus den vielen kommunalen freien Wählergruppen eine einheitliche Bewegung schmieden. Wie groß diese Herausforderung ist, erfuhr Aiwanger zuletzt im Saarland, wo die „Freien Wähler“ abgeschlagen unter den „Sonstigen“ landeten. In Schleswig-Holstein verweigern gar die allermeisten kommunalen Wählergemeinschaften den Eintritt in eine Landespartei. So kamen gerade mal zwei Dutzend Mitglieder zum vergangenen Landesparteitag in die Gaststätte „Zur Linde“ an der Hauptstraße des kleinen Örtchens Warder. Obwohl bereits am 6. Mai gewählt wird, mussten hier noch die Fotos für die Plakate der Landtagskandidaten geschossen werden.

Ob der neue Star der „Freien Wähler“, Hans-Olaf Henkel, die Truppe in seiner neuen Rolle, nämlich der des Geläuterten, aus dem Umfragetief herausreißen kann? „Die EU ist bereits heute eine Transferunion, sie wird in diesen Wochen zur Schuldenunion. Zum Schluss wird sie eine Inflationsunion sein“, ist seine Botschaft. Schuld daran sei maßgeblich Kanzlerin Merkel. „Sie hat die Brandmauer auf Druck des französischen Präsidenten Sarkozy eingerissen.“ Zur Umkehr sei diese Bundesregierung nicht mehr fähig.

Auch seine Rede ist in letzter Konsequenz ein Aufruf zum Protest, zum Widerstand. Wer hätte das einst von einem Mann wie Henkel gedacht? Irgendwie sind die deutschen Verhältnisse ganz schön aus den Fugen geraten.

Günther Lachmann am 12. April 2012 für Die Welt/Welt Online

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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