Die Demokratie ertrinkt in Schulden und Lügen
An manchen Tagen, an dem einem die Nachrichten wie Gewehrsalven um den Kopf fliegen, fällt es zuweilen schwer, die Übersicht zu behalten. Das gilt besonders dann, wenn sie, wie am Tag der Abstimmung des griechischen Parlaments über das nächste Sparprogramm, aus den unterschiedlichsten Richtungen kommen, etwa von den Märkten, den umkämpften Straßen Athens, dem dortigen Parlament, den Börsen, den Banken, der CDU-Fraktion oder dem Bundeskanzleramt in Berlin.
Meist hilft es, die Geschehnisse erst einmal ruhen zu lassen und sie mit etwas Abstand neu zu betrachten. Und siehe da, es zeigen sich überraschende Zusammenhänge. Als nämlich die Agenturen um 10:36 Uhr vor der Abstimmung im griechischen Parlament die Meldung tickern „Chancen für Ja zu Athener Sparpaket steigen“, folgt inmitten der anschwellenden Flut von Demonstrationsberichten knapp eine Stunde später, um 11:31 Uhr, die kurze Nachricht: „Rohstoffpreise ziehen an“.
Das Steigen der Rohstoffpreise ist eine unmittelbare Reaktion auf die erwartete Zustimmung des Athener Parlaments zum Sparpaket. Bekommt Griechenland weitere Milliardenhilfen, wollen die Spekulanten an den Rohstoffmärkten die ersten sein, die daran verdienen.
Gute zwanzig Minuten später springen auch die Aktien-Märkte an. „Anleger wetten auf Ja zum Sparpaket – Dax im Plus“, heißt es um 11:49 Uhr. Euphorie kommt auf und erfasst bald auch den Devisenmarkt. Um 12.35 Uhr zündet dann die Euro-Rakete. Die EU-Währung schafft „den Sprung über 1,44 Dollar“.
Neben solchen Zusammenhängen offenbart die Retrospektive zugleich ein Paradoxon: Hier verschafft das griechische Sparpaket den Börsen eine kleine Party, dort aber stürzt es das Land selbst in einen gewaltsamen Konflikt zwischen Volk und Regierenden. Oder anders gesagt, während die einen auf Kosten der Griechen Gewinne einstreichen, stehen sich in Athen am Nachmittag der Parlamentsentscheidung Staatsmacht und Bevölkerung bereits im offenen Straßenkampf gegenüber.
Unter ihnen sind viele, die schon lange kein Gehalt mehr bekommen und keine Gewinne gemacht haben. „Als wir die ersten geplatzten Schecks hatten, haben die Banken arrogant und abweisend reagiert“, sagt der mittelständische Unternehmer Emmanouel Kastanakis. Ihm hätten die Banken „den Boden unter den Füßen weggezogen“. Es will ihm nicht in den Kopf, warum nun all die Hilfsmilliarden in das Finanzsystem gepumpt würden, und kein Cent in die reale Wirtschaft.
Kastanakis beschäftigte vor der Krise 130 Angestellte, machte 20 Millionen Euro Jahresumsatz und stand kurz vor dem Börsengang. Er vertraute den Versprechen von Politik und Finanzwirtschaft. Jetzt steht er am Rande des Ruins.
Panos Kolokotronis, Chefredakteur der griechischen Zeitung „Vradyni“ beklagt angesichts solcher Beispiele den „Triumph der Heuchelei“.
Seine Klage steht in seltsamem Kontrast zur Reaktion der Finanzmärkte und Regierenden, als das griechische Parlament am Mittwochnachmittag das Sparpaket verabschiedet. In Berlin spricht Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Unions-Konferenz mit den Bankern von einem „wirklich guten Ergebnis“. Auch der Internationale Währungsfonds und die EU-Spitze gratulieren. Für die Deutsche Bank lobt deren Chefvolkswirt Thomas Mayer das „attraktive Geschäftsmodell für Banken“. Zwar helfe es Griechenland nicht wirklich weiter. Denn: „Letztlich handelt es sich wieder nur um einen Zeitgewinn“, sagt er dem „Handelsblatt“.
In der Bilanz sieht der Tag nun so aus: Die Märkte und Spekulanten haben ihren Schnitt gemacht. Weitere Milliarden der Steuerzahler fließen in den Kreislauf der Finanzmärkte. Angela Merkel ist zufrieden, die Banken auch. Und in Griechenland explodiert die Gewalt. Am Abend brennt das Finanzministerium. Die U-Bahnschächte werden zu provisorischen Krankenstationen für die vielen Verletzten des Tränengaseinsatzes der Polizei.
„Athen vergoss gestern Tränen. Die Demokratie vergoss Tränen“, schreibt Panos Kolokotronis am nächsten Morgen. Und der Chef der griechischen Ärztekammer verklagt den Staat, weil die Ordnungskräfte „das Athener Zentrum in eine Gashölle verwandelt“ hätten, um den Willen des Volkes zu brechen.
Lange schon findet das Vorgehen der Regierenden und Finanzmärkte keine Zustimmung mehr in der Gesellschaft. Die Mehrheit der Deutschen ist gegen die Griechenlandhilfe. Und drei Viertel der Griechen lehnen das Sparpaket ab. Sie sehen sich um ihre Chance betrogen, „ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen“. So hatte es die Demokratiebewegung „real democracy“ auf ihrer griechischen Internetseite gefordert.
In einer Analyse vergleicht die renommierte US-Anlageberaterin Janet Tavakoli die Ereignisse mit der Situation in den USA. Die griechische Tragödie erinnert sie daran, wie die Milliarden der US-Regierung ohne jede Wachstumswirkung in den Bilanzen der Banken versickerten. In ihrem in der „Huffington Post“ veröffentlichten Text findet sich dann dieser Satz, der das ganze Drama in nur zehn Worten zusammenfasst: „Wir ertrinken in unseren Schulden und ersticken an unseren Lügen.“ Das klingt nach dem letzten Akt der Demokratie.
Günther Lachmann am 1. Juli 2011 für Welt Online