24 Stunden im Leben einer gebrandmarkten Stadt
Fischer ist der ranghöchste Feuerwehrmann in Solingen. Offiziell lautet seine Bezeichnung „Leiter des Stadtdienstes Feuerwehr“. Wer es auf der Karriereleiter der Löschtrupps einmal bis so weit oben geschafft hat, ist meistens weit weg von den Brandherden. Nur noch zweimal im Jahr leitet Fischer für jeweils drei Wochen die Einsätze. An sieben Tagen dieser drei Wochen steht er sogar rund um die Uhr bereit, falls es brennt.
An diesem Montagmorgen beginnt wieder so eine 24-Stunden-Schicht, die bei ihm nie Routine geworden ist, die es auch nie werden konnte, weil sie Fischer seit 16 Jahren mit einem Ereignis verbindet, das nicht nur ihn oder die Solinger, sondern das ganze Land betroffen haben und bis heute sprachlos mit der Frage zurücklässt, wie so etwas in Deutschland nach dem finsteren Kapitel der Nazi-Herrschaft wieder möglich werden konnte.
Denn das, was in jener Schicht vor 16 Jahren geschah rief der Welt das Bild des nationalistischen, Ausländer hassenden Deutschen ins Gedächtnis zurück.
In jener Nacht vom 28. auf den 29. Mai 1993 wurden in Solingen fünf Mädchen und Frauen der türkischen Familie Genc bei einem Brandanschlag getötet. Sie verbrannten bei lebendigem Leib in ihrem Wohnhaus. Das Motiv der jugendlichen Täter war Fremdenhass, ergab später das Gerichtsverfahren. Als im vergangenen Jahr in Ludwigshafen wieder ein Wohnhaus brannte, in dem Deutschtürken wohnte, fragten sich viele, ob das eine neues Solingen sei, so sehr prägte der Brand die Wahrnehmung in Deutschland.
Fischer war damals 37 Jahre alt und erst dreieinhalb Jahre in Solingen. Er ist geblieben, obwohl es durchaus verständlich gewesen wäre, wenn einer nach so einem Ereignis irgendwo noch einmal hätte neu anfangen wollen. Er schüttelt den Kopf. „Auch danach habe ich nie daran gedacht, Solingen wieder zu verlassen“, sagt er ruhig, aber bestimmt und mit diesem Dialekt, der bis heute seine schwäbische Herkunft verrät. Solingen ist meine Heimat geworden.
In dieser Heimat will es heute einfach nicht heller werden. Bleischwer hängen die Wolken am Himmel, so als wollten sie jeden Augenblick auf die Feuerwehr-Zentrale in der Kattenberger Straße 44 herabstürzen. Die Autos fahren immer noch mit Licht. Hier treffen die Scheinwerfer die Werbetafel eines kleinen Hotels, dessen Restaurant mit „Im Herbst wieder Pferdefleisch“ Kunden wirbt, dort geben Mitarbeiter des Unternehmens Zwilling ihre Kinder im Firmen-Kindergarten ab.
Zwilling ist einer der größten Arbeitgeber am Ort und eine international angesehene Adresse. Der Name des Unternehmens steht für den guten Ruf der Stadt. Das galt vor dem niederschmetternden Ereignis um die Familie Genc, und es gilt auch heute noch.
In den Anfangsjahren war Zwilling nur eines von zahlreichen Stahl verarbeitenden Unternehmen in Solingen, die den Ort über die Grenzen Deutschlands hinweg bekannt machten. Bis ins Jahr 1250 lässt sich die Klingenherstellung in Solingen zurückverfolgen. Überall gab es Schmieden, deren Prädikat „Rostfrei Solingen“ Ausweis deutscher Wertarbeit war. Die britische Konkurrenz aus Sheffield mussten sie nicht fürchten.
Der Feuerwehrmann Fischer allerdings erinnert sich nur mit Grauen an die vielen kleinen Klitschen in den Hinterhöfen der Stadt, die bis in die 1980er Jahre produzierten. Da hat es immerzu gebrannt, sagt er. Inzwischen gibt es kaum noch welche. Sie waren den Anforderungen einer globalisierten Welt nicht gewachsen. So haben einige für immer ihre Pforten geschlossen, andere gingen in größeren Unternehmen auf. Derzeit beschäftigen die Betriebe allerdings immer noch etwa 5.500 Mitarbeiter, die im Jahr rund eine Milliarde Produktionsumsatz erwirtschaften.
Zwilling blickt auf eine über 200-jährige Geschichte zurück. Schon 1883 verkaufte die Firma ihre Produkte in New York und Paris. Vor vier Jahren eröffnete sie in dann in der französischen Hauptstadt ihr erstes Zwilling-Geschäft mit einer modernen Küche drin, in der Hobby-Köche schneiden, hacken und filetieren lernen können.
Aber gekrönt hat die traditionsreiche Firmengeschichte nicht etwa ein Umsatz- oder Dividendenrekord, sondern Papst Benedikt XVI. Denn der tafelt mit Zwilling, weiß das Unternehmen, das Benedikt zwei 24-teilige Besteckgarnituren Meteo sowie einen siebenteiligen TWIN Cuisine Messerblock nach Rom schickte. Es versteht sich von selbst, dass alle Teile mit dem päpstlichen Wappen versehen wurden – die Bestecke auf dem Griff, die Küchenmesser auf dem Kropf.
Inzwischen ist es etwa zehn Uhr vormittags, und das Laden-Geschäft im Zwilling-Unternehmenssitz hat seine Türen geöffnet. Zwei Damen schauen sich das Kochgeschirr, die Messer und die Besteckgarnituren an. Eine sucht jedoch etwas weitaus Kleineres, nämlich eine Pinzette mit geriffeltem Griff und angeschrägten Spitzen. Ein offenbar außerordentlich beliebtes Produkt. Denn ausgerechnet diese Pinzette ist vergriffen. Sichtlich enttäuscht geht die Dame, Schade, denn es sollte ein Geschenk sein für eine Freundin, die für längere Zeit im städtischen Klinikum ans Bett gefesselt ist.
Dort arbeitet Kamil Genc, der Mann, der in der Nacht vom 28. auf den 29. Mai 1993 seine beiden Töchter, zwei Schwestern und eine Nichte in den Flammen des Wohnhauses verlor. Jeder dort kennt ihn, also ist er leicht zu finden. Der Weg zu ihm führt hinab ins dritte Untergeschoss zu einem Arbeitsplatz zwischen weiß getünchten Betonwänden, vor denen blaue Transport-Gitterwagen stehen, und Räumen rechts und links des Flures, die mit feuerfesten Stahltüren oder blauen Gittern verschlossen werden. An den niedrigen Decken hängen jede Menge Kabel und Rohre. Wer hier arbeitet, führt ein Leben unter Tage, ein Leben in einer anderen Welt ohne Sonne, Wind, Regen, Frost und Schnee, vielleicht verliert sich in diesem Labyrinth irgendwann sogar das Gestern, Heute oder Morgen.
Genc trägt einen dieser grauen Arbeitsanzüge des Lagerpersonals. Seit damals sind die ehemals tiefschwarzen Haare ergraut. Von dem starken Mann, der er vielleicht einmal war, ist äußerlich allein der Händedruck, die Statur geblieben. Seiner Stimme aber fehlt die Kraft, und in seinen Augen liegt die Trauer einer gebrochenen Seele.
„Immer noch kommen diese schlimmen Träume“, sagt er. „Das ist gespeichert, das geht nicht weg“. Auch der Psychologe, der ihn und seine Frau weiterhin betreut, kann ihnen diese dunklen Nächte nicht nehmen. Es sind Träume von seinen beiden Töchtern Hülya und Saime. Hülya war neun, als sie im Feuer umkam, Saime fünf Jahre alt. Sie waren seine einzigen Kinder.
Er holt sein Handy heraus und zeigt Bilder der lachenden Mädchen. „Ich fand ein paar Seiten eines Fotoalbums, die nicht verbrannt waren“, flüstert er. Sie sind die letzten Zeugnisse eines anderen Lebens, zu dem auch ein anderer Kamil Genc gehörte, der, obwohl er den Flammen entkam, doch ein Opfer dieses Feuers wurde. Oder ein Opfer der Täter?
„Ich spüre keinen Hass“, sagt Genc. „Ich frage mich nur immer: Warum?“, sagt er. „Wir haben doch nichts gesagt oder getan.“ Es sind Fragen, auf die er wohl nie eine befriedigende Antwort bekommen wird, weder von der Polizei, weder vom Gericht noch von den Tätern, die er nie gesprochen hat und die kein Zeichen der Betroffenheit oder der Reue erkennen ließen. „Ich möchte in Frieden leben, in Solingen. Denn hier bin ich zu Hause“, sagt Genc schließlich.
Er hat seinen Frieden mit dieser Stadt gemacht, die nach dem Ereignis der Nacht vom 28. auf den 29. Mai 1993 lange keinen Frieden finden konnte. An dem Wochenende des Brandes noch – es war Pfingsten – strömten aus dem ganzen Land Autonome und junge Türken nach Solingen. In der Konrad-Adenauer-Straße und der Kölner Straße zerstörten sie die Schaufenster fast aller Geschäfte mit Ausnahme der türkischen. Sie zertrümmerten sämtliche Telefonhäuschen und Bushaltestellen, zündeten auf den Straßen Autoreifen und Matratzen an. Weltweit stand die Stadt so in den Schlagzeilen. Dabei hatte sie sich im Innersten, in dem, was sie ausmachte, was sie stolz und lebenswert machte, doch gar nicht geändert. Aber wer wollte das schon hören in jenen Tagen?
Zwei Jahre später verschaffte die Stadt Kamil Genc den Arbeitsplatz in der Klinik. Bis heute fragt das Büro des Oberbürgermeisters wöchentlich bei ihm nach, ob alles in Ordnung sei.
Gerade erst haben die Solinger einen neuen Oberbürgermeister gewählt. Er heißt Norbert Feith und ist CDU-Politiker. Für den Nachmittag hat er die Medien aus dem Umkreis zu einem Gespräch ins Rathaus geladen. Gemeinsam mit Experten vom Fraunhofer-Institut und dem Berliner Unternehmen Zebralog will er ihnen die Idee eines Bürgerhaushalts vorstellen.
Endlich sollen die Bürger beim Geld ein Wörtchen mitreden können. Doch das Angebot klingt verlockender als es tatsächlich ist. Denn es geht nicht ums Geldausgeben, sondern ums Sparen. Denn wie die meisten Städte in dieser Region, ist Solingen hoch verschuldet. Ab sofort muss die Stadt jährlich 45 Millionen Euro einsparen, verfügte der Regierungspräsident. Und da dürfen die 160.000 Einwohner nun mitbestimmen, auf welche Leistung sie künftig verzichten wollen.
Sechs Journalisten sitzen in dem kleinen, gut vier Meter hohen Besprechungsraum im alten Teil des Rathauses. Feith lobt die offene partizipatorische Form des Umgangs, die die repräsentative Demokratie ergänzen solle. Wie das dann praktisch aussehe, wollen die Journalisten wissen. Wir diskutieren den Haushalt auf einer Intenetplattform, sagt Feith, während die Experten Grafiken auf eine Leinwand projizieren. Die Kosten für die Plattform wollen sie sich mit der Stadt Essen teilen, die finanziell nicht besser dasteht.
Draußen plagen eine Gruppe von Demonstranten andere Sorgen. Sie gehören zu den 7366 oder 8,6 Prozent Arbeitslosen in Solingen. Gemessen am bundesweiten Durchschnitt hat Solingen also nicht viele Arbeitslose. Die Betroffenen indes tröstet das nicht. Jeden zweiten Montag treffen sie sich vor dem Kaufhaus Woolworth zur Solinger Montagsaktion: Weg mit Hartz IV. Dort verteilen sie
Flugblätter, auf denen es heißt: „Wir lassen uns nichts vormachen.“ Gemeint ist die neue Bundesregierung, von der sie einen Abbau der Sozialleistungen befürchten.
Drüben in den Clemens-Galerien räumen die Bäckereien bereits ihre Auslagen. Verkäuferinnen schieben Kleiderständer in die Läden. Bald ist Feierabend. Nur der holländische Imbiss wirft noch eine Ladung Pommes Frites in das heiße Fett. Er hofft auf einen langen Abend.
Vor der Apotheke spielen zwei Männer Schach. Sie scheinen gar nicht bemerkt zu haben, dass es längst dunkel ist und dünner Regen langsam vor sich hinnieselt. Minutenlang stehen sie schweigend zwischen den kniehohen Figuren. Einer von ihnen ist Eduardo Goyos. Er stammt von den Philippinen, lebt aber schon seit Jahrzehnten in Solingen. Inzwischen ist er 62 Jahre alt und Rentner. „Überall passiert so viel. Hier muss ich als Ausländer keine Angst haben“, sagt er.
In der Feuerwache brennt noch Licht. Frank-Michael Fischer sitzt in seinem Büro und hört den rauschenden, piependen und immer wieder knackenden Funkverkehr ab. In einer Ecke ragt die Fahne der Feuerwehr bis zur Decke auf, die Wände sind bis auf den letzten Zentimeter mit Feuerwehrfotos verhängt.
„Es ist ruhig heute“, sagt er. Fischer ist ein eher schmächtiger Typ, nicht groß gewachsen, aber mit kräftigem schwarzen Haar und Schnurrbart. „Damals ging der Abend schon ziemlich turbulent los“, sagt er. Da mussten sie zu einem Kellerbrand. Nur durch Zufall entdeckte er hinter den vielen Schaulustigen einen Schwerverletzten. Das war gegen 21 Uhr. Um 1.30 Uhr kam dann der Alarm.
Er erinnert sich noch gut an die laue Frühlingsnacht. „Die Luft war herrlich.“ Als er das Tor für den Einsatzleitwagen öffnete, ging die zweite Meldung ein. Es sollten bereits mehrere Zimmer brennen. „Die Wache 3 am Frankfurter Damm 10 ist mit drei Wagen raus“, sagt Fischer. Sein Trupp fuhr mit dem Einsatzleitwagen und einem Löschfahrzeug zur Unteren Wernerstraße 81. „Dann sahen wir das Haus voll in Brand, von unten bis oben“, sagt Fischer. „Mir schoss es gleich durch den Kopf: Da gibt es jetzt lauter Tote. Das Haus war wie ein Feuerball.“
Aus allen Fenstern schlugen die Flammen. Im Giebel sah er eine Frau mit einem Kind auf dem Fensterbrett sitzen. Seine Leute bereiteten alles für einen Sprung vor. Für einen Augenblick nur habe er sich zu ihnen umgedreht. „Da hörte ich einen dumpfen Schlag.“ Die Frau und das Kind waren in eine Grube gestürzt. Die Frau war sofort tot, aber das Kind, das sie an sich gepresst hielt, lebte.
Sechzehn Jahre später sieht er die Szenen noch vor sich als seien sie gestern geschehen. In dieser Nacht muss er nicht mehr raus. Sie bleibt ruhig und nass wie die vorhergehende. Seine Schicht ist zu Ende. Und mit ihr 24 Stunden im Leben einer Stadt.
Günther Lachmann im November 2009 für Die Welt. Der Beitrag erschien am 18. Dezember 2009
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