Islamische Bewegung predigt Bildung und Toleranz
Tagsüber ist Saraç Diplomkaufmann bei einem internationalen Exportunternehmen. Nach Feierabend kümmert er seit vier Jahren ehrenamtlich um die Geschäfte des Dialog-Gymnasiums im Kölner Stadtteil Buchheim. Im ersten Obergeschoss hat er ein kleines Büro, das nicht viel mehr beherbergt als seinen Schreibtisch. Daneben liegt der Besprechungsraum, aus dem sich die Architekten vorhin verabschiedet haben. Zum Schuljahr 2012/2013 will Saraç neben dem Gymnasium eine Realschule unterbringen. Darum braucht er den Neubau mit Theater- und Turnhalle, mit Cafeteria und Hörsaal. Sein Ziel ist ein privates Schulzentrum. „Als Schule wollen wir ein Teil des gesellschaftlichen Lebens vor Ort sein“, sagt Saraç.
Heute sieht er dieses Ziel zum Greifen nahe. Aber der Weg dahin war lang und voller Hindernisse. Immer wieder musste er sich gegenüber den Kommunalpolitikern erklären und Zweifel ausräumen, indem er die Bücher seines Vereins offenlegte. Denn Saraç ist nicht nur Vorsitzender des Trägervereins „Türkisch-Deutscher-Akademischer Bund e.V.“. Er gehört auch zur Bewegung des türkischen Religionsgelehrten Fethullah Gülen. Und um den ranken sich jede Menge Gerüchte.
„Gülens Bewegung ist die einflussreichste politisch-religiöse Geheimorganisation der Türkei“, schreibt etwa die Islamkritikerin Necla Kelek. Die „Fethullahcis, wie sie sie nennt, seien eine „Sekte mit Konzernstruktur“. Nicht weniger hart urteilt der aus dem Libanon stammende Islamwissenschaftler Ralph Ghadban. „Unter dem pseudo-modernistischen Lack steckt eine islamistische Auffassung“, schreibt er und fürchtet, durch ihre perfekte Geheimbündelei seien die Fethullahci vermutlich „unfassbar“.
Obwohl Kelec und Ghadban derart schweres Geschütz auffahren, sind die deutschen Sicherheitsbehörden von der Gülen-Bewegung keineswegs beunruhigt. „Sie gehören nicht zu dem Kreis der Gruppen, die wir beobachten“, sagt eine freundliche Dame beim Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz. Und ein paar Kilometer weiter im Düsseldorfer Schulministerium, das bereits in mehreren Städten Schulen türkischstämmiger Gülen-Anhänger genehmigt hat, heißt es: „Wir haben keinen Grund zu Klage.“ Im Übrigen bestehe das Recht, Privatschulen mit eignen pädagogischen, religiösen und weltanschaulichen Schwerpunkten zu betreiben. Auf diesen Anspruch verzichten die Gülen-Schulen sogar. An ihnen gelten deutsche Lehrpläne, die von deutschen Lehrern umgesetzt werden. Einen Islamunterricht gibt es nicht.
Weltweit wird die Zahl der Gülen-Sympathisanten auf über zehn Millionen geschätzt. Zwischen zehn und 15 Prozent der türkischen Bevölkerung soll der Bewegung inzwischen angehören, die sich selbst Hizmet (Dienst) nennt. Sie betreibt Medienhäuser, Bildungseinrichtungen, Versicherungen, und sogar eine Bank. Bis zu 30 Universitäten will Hizmet in den kommenden Jahren weltweit gründen. Vor wenigen Tagen sammelte sie in einer Fernsehshow mit dem Titel „Die Karavane des Guten“, an der viele populäre türkische Künstler teilnahmen, über eine Million Euro Spenden. Mit dem Geld soll in Pakistan ein Dorf mit Schule und Krankenhaus neu aufgebaut werden.
„Spirituell fühle ich mich Gülen sehr verbunden“, sagt Saraç am Fenster seines Büros, vor dem sich die Sozialbauten der sechziger Jahren türmen, in denen viele seiner Schüler aufwachsen. „Sein Leitbild des Weltfriedens ist mein Leitbild. Dazu gehört das Eintreten für Toleranz und Demokratie.“
Wie viele Menschen in Deutschland inzwischen Teil der weltweiten Gülen-Gemeinde sind, ist schwer zu sagen. Bekannt sind nach Geschlechtern getrennte studentische Wohngemeinschaften. Wer darin aufgenommen wird, bekommt ein von Spenden der Gemeinschaft subventioniertes Zimmer und unterwirft sich einer streng islamischen Lebensführung. Abends sollten die Mitbewohner um 20 Uhr daheim sein, dann beten sie gemeinsam und sprechen über die Ideale Gülens. Akademiker und Geschäftsleute wie Saraç gründen von seinem Geist beseelte Vereine, die wiederum weiterführende Schulen aufbauen und deutsch-türkische Kulturveranstaltungen organisieren.
Wer aber ist nun dieser Fethullah Gülen? Geboren wird er 1941 als Sohn des Dorf-Imams Ramiz Gülen in dem anatolischen 600-Seelen-Dorf Korucuk. Wie der Vater, gibt er sich ganz dem Studium des Koran hin. Im Alter von zehn Jahren spricht er angeblich bereits fließend Arabisch und hält mit 14 seine erste Predigt.
Nach dem Koran-Studium liest Gülen die Schriften des Sufi-Predigers Said Nursi. Seine Anhänger sagen heute, dass er darin das logische und wissenschaftliche Fundament für eine Art Transformation des Islams in die Moderne fand. Derart intellektuell gerüstet zieht er dann als Wanderprediger durch die von Militärputschen und politischen Unruhen erschütterte Türkei. Er tritt für Dialog und Frieden ein, verurteilt Terror und Gewalt und zitiert die großen Meister der islamischen Mystik, Muhyiddin-i Ibn Arabi und Mevlana Celaleddin Rumi, die den „Weg der wahren Erkenntnis durch Spiritualität und Liebe“ aufgezeigt hätten.
Ab den achtziger Jahren widmet er sich dann ganz dem Aufbau seiner Bewegung und erregt durch bedeutende Versöhnungsgesten Aufsehen in der islamischen Welt. Unter anderem reicht er Papst Johannes Paul II. die Hand.
Vor allem bei der aufstrebenden anatolischen Mittelschicht kommt die Idee von Glauben und Geldverdienen an. Sie schickt ihre Kinder auf die von ihm gegründeten Schulen und Universitäten. Mit ihnen drängen erstmals auch die tiefgläubigen „Schwarztürken“ in die mondänen Clubs der bis dahin ausschließlich von den sogenannten „Weißtürken“ dominierten großstädtischen Schickeria.
„Die Weißtürken sehen das gar nicht gerne. Der soziale Aufstieg der Gülen-Anhänger führt in der Türkei zu einem schweren gesellschaftlichen Konflikt“, sagt Saraç. „Ich bin selbst Weißtürke und weiß, wovon ich rede.“ Dennoch habe er Gülens Rat befolgt: „Baut Schulen statt Moscheen.“
Gülen ruft dazu auf, die Sprache der Länder zu lernen, in denen die türkischen Auswanderer leben. Denn erst die Sprache mache dialog- und konfliktfähig. Vier Jahre nach dem Start gehen fast nur Kinder mit türkischen Wurzeln zum Kölner Dialog-Gymnasium. Wie in Anatolien motiviert die Eltern auch hier das Ziel des sozialen Aufstiegs. Viele Schüler stammen aus einfachen Verhältnissen, wo die Mütter putzen gehen, damit sie die 180 Euro im Monat für die Nachmittagsbetreuung ihrer Kinder bezahlen können.
„Das tun sie aber nicht, weil es bei uns einfacher ist“, sagt Saraç. Wer zum Dialoggymnasium will, braucht erstens die Empfehlung der Grundschule und muss dann in der Aufnahmeprüfung unter die 52 Besten kommen. Als die Schule 2007 loslegte, war sie die erste Ganztagsschule in Köln mit einem fundierten Förderangebot am Nachmittag. „Bei uns läuft das so: Wer schlecht ist, geht nachmittags zur Nachhilfe, wer gut ist, beteiligt sich an Projekten“, sagt Saraç. Nach diesem Prinzip arbeiten alle zwölf Gülen-Schulen in Deutschland.
Auch die Tochter von Seçkin Çakir will zum Dialog-Gymnasium. „Sie hat es von Freunden gehört, es ist sehr beliebt hier“, sagt er. Çakir betreibt zusammen mit einem Freund in einem Kölner Südstadt-Hinterhof ein Taxiunternehmen. Die Kinder seines Freundes gehen ebenfalls zum Dialog-Gymnasium. Und obwohl Çakirs Tochter noch die Grundschule besucht, ist er bereits Mitglied des Fördervereins geworden und spendet für die Schule. Unstützung kommt zudem vom Kölner Verband türkischer Unternehmer, dem Çakir angehört.
Spenden spielen in der Gülen-Bewegung eine wichtige Rolle. Nur weil dies so ist, kann das Dialog-Gymnasium seine anspruchsvollen Erweiterungspläne umsetzen. 17,5 Millionen Euro kostet der Neubau. Allein drei Millionen Euro davon bringt der Förderverein auf, der in Köln auf 600 feste Spender zurückgreifen kann.
Eine solche Spendenkultur für Bildung und Kultur gab es in Deutschland bisher nicht. Vielleicht reagieren Kommunalpolitiker und Anwohner auch deshalb misstrauisch. Dann wird von Spenden-Ritualen gesprochen, bei denen sich die Mitglieder offen zu ihrem Beitrag bekennen. Tatsächlich verbergen sich hinter solchen Gerüchten sogenannte „Fundraising“-Veranstaltungen, bei denen Geld für die Vorhaben eingesammelt wird und der Spender in den Schulunterlagen lobend vermerkt wird, wenn er es möchte.
Geld erhält die Bewegung aber auch aus profitablen Geschäftsmodellen. Mit der „Zaman“ („Zeit“) gibt die Gülen-Bewegung etwa die auflagenstärkste türkische Tageszeitung heraus, die in Deutschland in über 30.000 der türkischen und türkischstämmigen Haushalte gelesen wird. Mehr Abonnenten zählt kein anderes türkischsprachiges Blatt in der Bundesrepublik. Daneben betreiben sie mit großem Erfolg eigene Fernsehsender. Vor etwa einem Jahr ging mit „Ebru TV“ das erste deutsch-englischsprachige Programm auf Sendung.
Es gehört zur World Media Group AG mit Sitz in Offenbach. Seit 2004 residiert das Unternehmen in einem ehemaligen „Polaroid“-Gebäude und bündelt dort die europäischen Medien-Aktivitäten der Bewegung. Unter dem Dach der AG arbeiten neben Ebru TV weitere drei Unternehmen, unter anderem der türkischsprachige Erfolgssender „Samanyolu“.
„Ebru-TV ist ein Produkt, mit dem wir in den USA bereits zahlreiche Emmys gewonnen haben“, sagt Mustafa Altaş, Vorstandsmitglied der World Media Group AG und gleichzeitig Geschäftsführer der TV-Sparte. Er ist Deutscher wie alle anderen Manager auch. Sie lösten die Türken ab, die den Aufbau der Mediengruppe in Deutschland vorbereiten. Hinter dem Einsatz von Deutsch-Türken steht die Überlegung, dass nur europäisch sozialisierte Führungskräfte die richtigen Entscheidungen für den europäischen Markt fällen werden. Denn nicht alles, was in der Türkei Erfolg hat, wird künftig auch dem deutschen Publikum mit türkischen Wurzeln gefallen. Die Bedürfnisse und Einstellungen dieser Gruppe ändern sich mit ihrer Lebensweise.
„Die Zahl Türkisch sprechender Bürger wird in den kommenden Jahrzehnten nicht zunehmen“, deutet Altaş vorsichtig den sich bereits heute abzeichnenden Bedeutungsverlust des Türkischen in der türkischstämmigen Einwanderergemeinde an. Daher will er mit seinen Programmen bald schon auch das breite deutsche Publikum erreichen. Auf „Ebru TV“ bringen sie heute schon politische Sendungen wie „Mitten in Berlin“, und der Deutsche Georg Holzach liest in einem der drei riesigen Studios die Nachrichten.
Beim schwarzen Tee in seinem Büro mit dem schweren Orientteppich spricht Altaş darüber, wie er es mit Gülen hält. „Er ist zweifellos der geistige Vater unserer gesamten Gruppe“, sagt er. In den achtziger Jahren hätten viele türkischen Medien zu obrigkeitshörig und wenig kritisch bereichtet. „Da hat Gülen gesagt: Lasst uns eigene Medien schaffen, die es besser machen. Das Ziel war, Transparenz zu schaffen, die Ereignisse so zu berichten, wie sie sich tatsächlich zutragen.“ Altaş gibt einige Stücke frisch geschnittene Zitrone in den Tee. „Noch besser schmeckt Ingwer“, sagt er. Und nach einer Pause: „Wissen Sie, wir sind keine Ideologen oder gar Islamisten. Wir verbreiten keine religiöse oder politische Botschaft. Wir wollen einfach nur gute Journalisten sein.“
Auch heute noch hat es guter, um Objektivität bemühter Journalismus in der Türkei schwer. Zum einen sitzen etwa 68 Journalisten in Haft, bis zu 2000 werden mit Strafprozessen bedroht. Zum anderen reduzieren sich Teile der türkischen Medien oft genug selbst zu reinen Instrumenten einer ideologischen Schlacht um die gesellschaftspolitische Zukunft des Landes. Dabei gerät auch die Gülen-Bewegung immer wieder zwischen die Fronten. Seit 1999 ein Video einer zusammengeschnittenen Rede Gülens auftauchte, in der er seine Anhänger aufforderte, darauf hinzuarbeiten, die Kontrolle im Staat zu übernehmen, konnte sich die Bewegung von diesem Verdacht nicht wieder befreien. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Gülen 2008 in allen Punkten freigesprochen wurde.
Gerade erst sorgt die Verhaftung der Reporter Ahmet Sik und Nedim Sener für großes Aufsehen. In der Darstellung ihrer Verlage sollen sie Opfer von Enthüllungen über die Gülen-Bewegung geworden sein. Denn kurz vor dem Zugriff der Behörden hatte Sik die Arbeit an einem Buch mit dem Titel „Die Armee des Imams“ abgeschlossen. Die offizielle Anklage indes lautet anders. Danach gehören Sik und Sener Ultranationalisten an, die einen Umsturz geplant haben sollen.
Fethullah Gülen ließ durch seinen Anwalt ausrichten, er habe mit den Festnahmen nichts zu tun. Er sei auch nie gegen frühere Buchveröffentlichungen gegen ihn vorgegangen. „Ich habe nur meine Rechte innerhalb der Grenzen des Gesetzes verteidigt, indem ich gerichtlich gegen Verleumdungen vorgegangen bin.“
Solche Konflikte in der Türkei belasten auch die Arbeit der Gülen-Anhänger in Deutschland, vor allem dann, wenn es darum geht, politische Entscheidungsträger für sich zu gewinnen. „Ich finde es unerträglich, dass diese Dinge immer wieder nach Deutschland getragen werden“, sagt Genç Osman Esen, Geschäftsführer beim „Türkisch-Deutsch-Akademischen Bund e.V.“. „Sie diskreditieren die Arbeit der Gülen-Bewegung in Deutschland und der ganzen Welt. Unsere gemeinsamen Herausforderungen in Deutschland sind schon groß genug. Da brauchen wir nicht noch neue, von außen herangetragene Herausforderungen.“ Auch Esen gehört zu dem losen Netzwerk, das die Anhänger Gülens auf der ganzen Welt informell verbindet und das dessen Ideen in die Welt trägt. Sie eint das Bekenntnis zu einer gemeinsamen Ethik und der Überzeugung, dass auch eine moderne Gesellschaft ohne Religion, ohne Werte nicht auskommt.
Inzwischen suchen Kommunalpolitiker, Wissenschaftler und Vertreter türkischer Organisationen auf Diskussionsveranstaltungen in ganz Deutschland dem Phänomen auf den Grund zu kommen. Da wird von einer Sekte gesprochen, hin und wieder tauchen Gerüchte über lebenslange Treueschwüre der Fethullahcis und drakonische Strafen für Abtrünnige auf. Beweise dafür gibt es nicht. Oft genug aber wird die Bedeutung der Bewegung für den interkulturellen Dialog gelobt, zuletzt im vergangenen Jahr auf einer internationalen Tagung der Universität Potsdam. Dort sagte etwa Rabbiner Walter Homolka, Direktor des Abraham-Geiger-Kollegs, der Versuch der Gülen-Bewegung, religiöse Identität mit Bildung und Integration in die säkulare Umwelt zu verbinden, erinnere ihn an die Entwicklung des liberalen Judentums im 19. Jahrhundert. Solche Vergleiche hört man in der Hizmet-Bewegung gern. Der Kölner-Schulgründer Alp Saraç jedenfalls lächelt.
Günther Lachmann für Die Welt am 21. Mai 2011