Javier Milei oder die 100 Tage der Kettensäge

Argentinien / Javier Milei / Buenos Aires / Quelle: Pixabay, lizenzfreie Bilder, open library: Halloween HJB; https://pixabay.com/de/photos/buenos-aires-argentinien-obelisk-2437858/ Argentinien / Javier Milei / Buenos Aires / Quelle: Pixabay, lizenzfreie Bilder, open library: Halloween HJB; https://pixabay.com/de/photos/buenos-aires-argentinien-obelisk-2437858/

Argentiniens umstrittenster Präsident will sein Land aus den Angeln heben, um eine neue Gesellschaft zu schaffen. Wer ist Javier Milei, und was hat er vor?

Für seine Studenten war er ein Alptraum. In den Prüfungen zu Mileis Steckenpferd der Geld- und Fiskalpolitik schwitzten sie Blut und Wasser. Während des Wahlkampfs im letzten Jahr erzählten sich Freund und Feind immer wieder die Anekdoten über seine Zeit als Wirtschaftsprofessor an einer privaten Hochschule in Buenos Aires. Milei konfrontierte seine Prüflinge mit Klausuren, die 35 Seiten meist nicht unterschritten.

Manchmal ließ er die Prüfungen um sechs Uhr morgens beginnen oder um sechs abends und begrenzte sie auf genau sechs Stunden. Dabei setzte er den Schwierigkeitsgrad so hoch an, dass entweder alle durchfielen oder nicht einmal eine Handvoll bestanden. Ein Vorgeschmack auf seine Amtszeit als Präsident?

Peronismus als nationale Klammer

Argentinien war einst eines der wohlhabendsten Länder Lateinamerikas durch seinen Handel mit Kohle, Eisenerzen und Rindfleisch. Es gilt auch immer noch als das europäischste durch eine starke Prägung spanischer, italienischer und deutscher Einwanderer. Frühere Präsidenten wie Nestor Kirchner oder Papst Franziskus alias Jorge Bergoglio verweisen auf die abendländische Tradition.

Anders als beim großen Nachbarn im Norden gab es am Rio de la Plata keine schwarze Sklaven, deren Nachkommen zusammen mit Indigenen im Wettbewerb mit den weißen Brasilianern stehen. In Argentinien gibt es im Vergleich zu vielen anderen Ländern Südamerikas keine ethnischen Spannungen – allerdings massive wirtschaftliche und soziale. Als Grundübel dafür sehen Experten den Peronismus, der das Land seit den späten 1940er Jahren tief prägt.

Juan Peron als Namensgeber war sicherlich eine der schillerndsten Politiker Südamerikas und schaffte es, sich in abenteuerlichen Volten bis Anfang der 1970er Jahre an der Macht zu halten. Der Peronismus ist im Kern ein populistisches Regierungssystem, das sich nicht in ein klassisches Links-Rechts-Schema einordnen lässt. Sein prägender Stil ist die permanente Zustimmung des Volkes durch einen ausgeprägten Personenkult, wie ihn den Bonapartismus zugrunde legte. Was will der Peronismus?

Land der Emotionen

Wirtschaftspolitischer Protektionismus nach außen und dirigistisch nach innen, eine Sozialpolitik durch Wohltaten für die ärmeren Schichten und eine Betonung des Nationalen, des heroischen Vaterlands charakterisieren ihn. Peron und nicht zuletzt seine zur Legende geronnene zweite Frau Evita haben das System perfektioniert. Sie verstanden es, die Massen zu begeistern oder, wie einige meinen, sie gar zu hypnotisieren, um immer wieder zurück an die Macht zu kommen. Perons dritte Frau Isabel schaffte es damit nach seinem Tod 1974 für zwei Jahre als erste Präsidentin Argentiniens ins Amt. Allerdings war ihre Amtszeit durch grassierende Korruption und wirtschaftlichen Niedergang geprägt. Ein perfekter Boden, auf der die nachfolgende Militärdiktatur unter Jorge Videla gedieh, die wiederum selbst von Peron geprägt war.

Mit der Rückkehr zur Demokratie in den 1980er Jahren erlebte der Peronismus unter Präsident Carlos Menem eine große Renaissance. Die Erinnerung an die vermeintliche Glanzzeit Argentiniens lebte fort und hatte in Menem einen begabten Interpreten. In Gesten, Auftritten und einer anfangs wirtschaftsliberalen Politik entwickelte er sich auch hier zu einem gelehrigen Schüler Perons. Dirigismus, Protektionismus und massive Korruption nahmen wieder Überhand.

Argentinien erlebte erneut einen dramatischen wirtschaftlichen Abstieg: Hyperinflation, Massenarbeitslosigkeit, Währungsschnitte, Kontrollen durch Weltbank und Internationaler Währungsfonds und Verelendung weiter Teile der Bevölkerung. Das Versprechen des Peronismus, für Wohlstand, Sicherheit und Glück für alle zu sorgen, galt nur noch für die Eliten in Bürokratie und Militär. Alle Versuche, das Land zu reformieren und wirtschaftlich zu gesunden, sind in den vergangenen dreißig Jahren gescheitert. Wo bleibt der Heilsbringer, den viele Menschen in Argentinien immer wieder herbeisehnen?

Der personifizierte Widerspruch

Die Kettensäge ist sein Markenzeichen. Während des Präsidentschaftswahlkampfs ließ sich Milei öffentlichkeitswirksam mit Kettensäge ablichten, die für ihn das Symbol seiner Politik sein soll. Will er großflächig Schneisen schlagen in den aus seiner Sicht zu üppigen Sozialstaat? Will er Regierung und Bürokratie verschlanken? Will er die entfesselte Wirtschaft? Ja! Aber er will noch viel mehr, und zwar nichts weniger als eine Revolution von oben.

Der Präsident will den totalen Kahlschlag – am liebsten möchte er den Staat abschaffen und alles privatisieren. Damit geht er noch weiter als Margaret Thatcher mit ihrem Umbau Großbritanniens oder Ronald Reagan in den USA. Amerika ist Mileis Vorbild, er will den Dollar als neue Währung einführen und sieht in Donald Trump sein Idol. Der Präsident liebt nach eigenem Bekunden Israel sowie alles Jüdische und lässt sich im Talmud unterweisen. Er verachtet Russland und China als Feinde einer libertären Gesellschaft und hat den Aufnahmeantrag zur BRICS-Gruppe seines Vorgängers zurückgezogen.

Er ist für die freie Liebe, hat sich zur Polyamorie bekannt, ist pro Homo-Ehe, für die Rückkehr der Malvinas, der Falkland-Inseln, zu Argentinien, wendet sich gegen Abtreibung, sieht sich als überzeugter Katholik, lehnt aber die kirchliche Hierarchie ab und versöhnt sich doch mit seinem Landsmann Papst Franziskus. Jüngst bei einer Privataudienz im Vatikan herzten sich die beiden Argentinier und hatten dabei Tränen in den Augen.

Milei hat dem Peronismus, ohne ihn beim Namen zu nennen, neues Leben eingehaucht – als argentinische Variante des Populismus, die mit der europäischen oder amerikanischen kontrastiert. Der Kontrast liegt in den vielen Widersprüchen in Mileis gesellschaftspolitischen Einstellungen, die es so stark bei Populisten wie Marine Le Pen oder Giorgia Meloni nicht gibt.

Himmel und Hölle

Milei hat über Erlasse in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit versucht, am Parlament, in dem er keine Mehrheit hält, vorbei zu regieren. Im Fokus seiner Politik der Kettensäge steht neben der Wirtschaft die Kulturszene des Landes. Er hält sie für sozialistisch verkommen mit ihren üppigen Subventionen. Kunst und Kultur sollen sich künftig allein durch eigene Leistung finanzieren.

Milei betrachtet beispielsweise die Filmproduktionen seines Landes überwiegend als Schrott, die keinen einzigen staatlichen Peso Unterstützung verdiene. Mit dieser Aussage befindet er sich in guter Gesellschaft: Der vielfach ausgezeichnete deutsche Regisseur Werner Herzog hält die meisten auf der Berlinale gezeigte Filme für Schrott.

Auf der diesjährigen Berlinale hat sich der argentinische Kurzfilm Un movimiento extraño (Eine merkwürdige Bewegung) mit den sozialen Verwerfungen im Land beschäftigt. Der von Milei herbeigesehnte Dollar ist längst die heimliche Währung des Landes mit all ihren Kurssprüngen. Beim anschließenden Publikumsgespräch sprach der Regisseur über Milei. Er sieht in dessen Wahl eine Verzweiflungstat und meinte: „He is totally crazy and nobody knows how it will end, maybe in heaven, maybe in hell.“

Diese Film-Truppe steht stellvertretend für das (subventionierte) argentinische Kulturleben mit Tausenden Kinos und Bühnen bis in die Provinzen. Es gilt zugleich als das spannendste Südamerikas mit vielen Frauen als Treiber der Künste. Sie sind die schärfsten Kritiker Mileis, den sie auf Demonstrationen gegen seine Kultur- und Abtreibungspolitik als Faschisten verunglimpfen. Ein Gesetzentwurf aus der Präsidialkanzlei sieht Gefängnisstrafen für Frauen vor, die abtreiben und will selbst einen Abbruch in Fällen von Vergewaltigung unter richterlichen Vorbehalt stellen.

Auch auf einem weiteren Feind hat sich Milei eingeschossen: die Gender-Ideologie. Per Erlass hat er die Gendersprache in allen Bundesbehörden verboten und sieht darin einen wichtigen Beitrag, die Werte der Gesellschaft zu bewahren. Andererseits betont der Präsident Liebe, Sexualität seien ureigene Privatsache, in die sich der Staat nicht einzumischen habe. Für viele Staatslenker ist Milei nach wie vor eine Black Box, die sich in seiner Rede beim diesjährigen WEF in Davos etwas öffnete und nicht bei jeden seiner Kollegen begeisterte. Es scheint ihm einerlei, was andere über ihn denken. El loco nennen ihn die argentinischen Medien, den Verrückten, den Rasenden.

Ob Mileis Raserei zur wirtschaftlichen und sozialen Genesung Argentiniens führt, ist völlig offen. Dass er überhaupt zum Staatschef gewählt wurde, war für viele in- und ausländische Beobachter ähnlich überraschend wie die Wahl Trumps zum US-Präsidenten 2016. Für viele Argentinier mag er so etwas wie der letzte Rettungsring vor dem drohenden Untergang sein. Sollte Milei erfolgreich aus seinem Kettensägen-Massaker hervorgehen, dann dürfte er in die Geschichte seines Landes als Begründer eines Post-Peronismus eingehen: des Mileiismus.

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fufu
fufu
1 Monat her

Der Autor hat die Bewunderung Mileis fuer Netanyau vergessen, was mir den Typen mit seinem Mix an Populismen schon suspekt macht. Zweifellos wird sein Wirtschaftliberalismus das vollenden was der IWF bisher nicht geschafft hat… den vollstaendigen Ausverkauf der verbleibenden Reichtuemer Argentiniens. Die frueheren europaeischen Einwanderer koennen dann zurueck in ihre Herkunftslaender, die verbliebenen Indios in Reservaten dahinsiechen.

winfried
winfried
1 Monat her

Das Kernproblem kann die Friedmannschule nicht erfassen und so keine dauerhafte Lösung herbei führen. In Argentinen sollte der deutsche Silvio Gesell noch bekannt sein, seine Schule ist keine Ideologie sondern basiert auf einer Marktwirtschaft ohne Zins, einer umlaufgesteuerten Währung und einer 300 Jährigen praktischen Phase:

fufu
fufu
1 Monat her

Grundsaetzlich haben wir es hier mit einer der vielen Witzfiguren zu tun die heute die Politik bestimmen. Er ist nicht einmal ein Libertaerer, wie man vordergruendig annehmen koennte sondern ein Statalist der die Bevoelkerung zur Ablenkung mit seinen Absonderlichkeiten tyrannisiert und zeitgleich eben den Ausverkauf dieses Staates vorantreibt. Wenn er wenigsten bei den BRICs geblieben waere, wenn er statt dem Dollar symbolisch eine neutrale Waehrung, einen echten Goldstandard, eingefuehrt haette…. nicht als Loesung sondern als Zeichen, dass er es ernst meint.

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