„Atlantropa“ oder die Utopie eines neuen Kontinents

Mittelmeerraum / Atlantropa / Quelle Google; https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=meittelmeer+maps Mittelmeerraum / Atlantropa / Quelle Google; https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=meittelmeer+maps

Mit dem Zug von Berlin nach Kapstadt, Venedig im See und eine grüne Sahara. Wie der deutsche Ingenieur Hermann Sörgel mit seinem Mittelmeer-Projekt „Atlantropa“ eine neue Welt schaffen wollte.

Würden die Italiener all das Geld, das sie in den Bau von Kirchen stecken, für technische Werke ausgeben, dann könnten sie mit dem Appeninengebirge die Adria zuschütten, um das Meer von Livorno bis Konstantinopel in Festland zu verwandeln“, meinte 1787 in einem Brief der spätere US-Präsident Thomas Jefferson über seine Eindrücke während einer Europareise. Ob der bayerische Architekt Hermann Sörgel sich von dem Amerikaner für seine gewaltigen Planungen ab Ende der 1920er Jahre inspirieren ließ, um das Mittelmeer abzusenken, bleibt im Dunkel. Jedoch war die Idee, eine Landverbindung zwischen Europa und Afrika zu bauen, revolutionär. Wer war Hermann Sörgel?

Utopien und ihre Räume

Sörgel war von seinem Vater Johann Ritter von Sörgel stark beeinflusst, der als Pionier wasserbetriebener Elektrizitätswerke gilt. Er konstruierte das Walchenseekraftwerk, das noch heute als eines der bedeutendsten seiner Bauart in Deutschland jährlich rund 300 Gigawattstunden Strom produziert. Sozusagen früher Ökostrom aus Bayern.

Sörgel Junior wollte höher hinaus – er wollte nicht allein mit riesigen Stauseen die unbegrenzte Versorgung mit Elektrizität ermöglichen. Er wollte gleichzeitig das Mittelmeer absenken, dadurch neues Land gewinnen, Wüstengebiete wie die Sahara fruchtbar machen und nicht zuletzt einen zusammenhängenden europäische-afrikanischen Doppelkontinent erschaffen. Sörgel war von den Raumtheorien an der Universität München begeistert, die neben baulichen Ideen auch politische Aspekte umfassten.

Karl Haushofer war einer der führenden Vertreter, bei dem Sörgel ebenso wie Heinrich Himmler Vorlesungen hörte. Die Wege der beiden sollten sich später erneut kreuzen. Der junge Architekt folgte den Ideen der Raumtheoretiker, die letztlich nichts anderes als strategische Geopolitik betrieben. Die Zukunft der Menschheit lag nach deren Vorstellungen auf drei Kontinenten: Europa, Afrika und Amerika.

Für Sörgel war Europa das kulturelle und wissenschaftliche Zentrum, das das rückständige Afrika als Rohstofflieferant technologisch entwickeln sollte. Der Bayer sah sich als Pazifist, der vom Kolonialismus beeinflusst war, aber erkannte, dass langfristig eine gleichwertige Zusammenarbeit der beiden Kontinente die Lösung vieler Probleme sein sollte.

Bereits in den 1920er Jahren bewegten Studien über die Endlichkeit fossiler Energieträger wie Öl und Kohle Wissenschaft und Politik. Und vor allem, dass Energie immer kostspieliger werden dürfte. Sörgel wollte mit seinem Projekt Atlantropa für Abhilfe sorgen. Was das Walchenseekraftwerk im Kleinen an Strom erzeugt, sollten im Großen gigantische Staudämme rund ums Mittelmeer erreichen.

Gigantomanie am Mittelmeer

In Sörgels Zeit galt es als wissenschaftlich gesichert, dass das Mittelmeer vor rund 50.000 Jahren eine trockene Tiefebene war, die einer Senke. Sörgel wollte in diese Epoche zurück und in Teilen das Mittelmeer trockenlegen. Dafür musste er den wichtigsten Zufluss verschließen: die Straße von Gibraltar.

Ein gigantischer Staudamm sollte das Wasser des Atlantiks aufhalten, die Verdunstung käme hinzu, um laut Sörgels Plan breite Landbrüche zwischen Europa und Afrika entstehen zu lassen. So wollte er einen neuen Super-Kontinent schaffen oder wie er schrieb: „Europa und Afrika werden mit ihren Landgebieten zusammenwachsen.“

Sörgels Pläne für sein Atlantropa.

Zentrale Wasserkraftwerke sollten bei Gallipoli, in Libyen und Ägypten entstehen. Bei Port Said war ein neuer Hafen als Verlängerung des Suez-Kanals geplant, in Marseille und Genf sollten zentrale Steuerungssysteme für neue Stromtrassen gebaut werden. Damit das Mittelmeer nicht völlig austrocknete und die Schiffsverbindungen erhalten blieben, plante Sörgel regulierte Zuflüsse über das Schwarze Meer und den Suez-Kanal.

Mit dem Stauwehr bei Gibraltar sprengten Sörgels Planungen alles damals Vorstellbare! Es sollte an der schmalsten Stelle der Meeresenge entstehen, die 14 Kilometer beträgt. Die Staumauer hätte zweieinhalb Kilometer umfasst und sollte bis zu 350 Meter hoch und durch eine Biegung gut 35 Kilometer lang sein, da sie dem enormen Druck des Atlantiks standhalten musste.

Der Mega-Damm sollte sowohl als Stauwehr wie als Wasserkraftwerk dienen. Gigantische Turbinen hätten bis zu 50.000 Megawatt Strom liefern sollen, was im Durchschnitt ungefähr die 35-fache Leistung früherer deutscher Atomkraftwerke bedeutet hätte. Über den Damm sollten außerdem eine Autobahn und eine Bahntrasse nach Afrika führen, um beide Kontinente noch näher zusammenzubringen. Über riesige Schleusen wollte Sörgel Schiffe aus dem geschrumpften Mittelmeer hinauf in den Atlantik heben lassen.

Sein damals bereits bekannter Kollege Peter Behrens, der durch sein ikonisches Design für die AEG Industriegeschichte schrieb, entwarf das Hauptportal des Gibraltar-Dammes: einen gigantischen Turm aus Stahl und Glas. Von hier aus sollten die durchlaufenden Verkehrswege organisiert werden und eine neue Zeit des Fortschritts symbolisieren.

Selbst an Romantiker dachte der bayerische Baumeister: Mit der starken Verlandung der Adria wäre Venedig auf dem Trockenen gelandet. Daher sollte eine große Staumauer um die Lagune herum die Stadt in einen künstlichen See versetzen. Sörgel schien bei seinen akribischen Planungen an so ziemlich alles gedacht zu haben. Nur nicht an die horrenden Baukosten und die Skepsis seiner Zeitgenossen.

Gescheiterter Visionär

Über den zu Macht gelangten Heinrich Himmler, den Sörgel flüchtig aus der Studentenzeit in München kannte, versucht er das NS-Regime von seinen Plänen zu überzeugen. Sörgel stellte Atlantropa quasi als Erfolg der „weißen Rasse“ und deutschen Pioniergeistes dar, das Deutschland und auch dem unterentwickelten Afrika auf die Füße helfen sollte. Sein Projekt war jedoch als multipler Ansatz gedacht: gegenseitige Wirtschaftshilfe, Vernetzung des Verkehrs und schließlich die Lösung aller Energiefragen.

Hermann Göring zeigte an Sörgels Plänen anfangs Interesse, war er doch, wie das NS-Regime insgesamt, empfänglich fürs Monumentale. Allerdings mochte er den pazifistischen und entwicklungspolitischen Ansatz für Afrika nicht. Da die Baukosten in die Milliarden gegangen wären und sich Deutschland mit vielen Nachbarländern aus Sörgels Sicht friedlich über eine Realisierung des Projekts hätte einigen müssen, verloren seine Berliner Gesprächspartner schnell das Interesse daran.

Für Sörgel sollte sein Atlantropa die friedliche Version einer 100 Jahre zuvor von Napoleon erzwungenen frühen EU unter französischer Führung sein. Nicht durch ein Land angeführt, sondern von allen europäischen Ländern gleichermaßen.

Peter Behrens: Nordschleuse mit Hochhaus am Gibraltardamm, Vogelschau (links) und aus der Perspektive des abgesenkten Mittelmeers (rechts). (Beschreibung auf Buchseite der gescannten Quelle); Quelle: Wikipedia, Public Domain: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Peter_Behrens,_Atlantropa_Pantropa_01.jpg

Rätselhafter Tod

Sörgel war seiner Zeit voraus – technisch wie politisch. Er galt mehr und mehr als von seiner Idee besessener Utopist, der in der NS-Zeit nicht reüssieren konnte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als bayerischer Regierungsbaumeister und fand auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs niemanden, der seine kühnen Pläne umsetzten wollte oder konnte. Mit seinem Atlantropa-Institut und Vorträgen versuchte er seine Idee wachzuhalten, die bei genauem Hinsehen viele geologische, technische, wirtschaftliche und politische Fragen offen lässt.

Durch einen nie aufgeklärten Verkehrsunfall starb Sörgel Ende 1952 mit 67 Jahren weitgehend vergessen in München. Teile seines Archivs mit detaillierten Bauplänen befinden sich im dortigen Deutschen Museum. Ein Thomas Jefferson des 21. Jahrhunderts würde vielleicht Atlantropa verwirklichen.

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