Henry Kissinger zog die Fäden auch in den dunkelsten Zentren der Macht
BOULEVARD ROYAL
Er war Außenminister, Präsidentenberater und Friedensnobelpreisträger: Henry Kissingers Leben im Zentrum der Macht mit viel Licht und ebenso viel Schatten.
Als Kissinger 1973 in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennahm, hätte die Welt drei Dinge stutzig machen sollen. Erstens, der andere Geehrte, Lê Đức Thọ, nordvietnamesischer Verhandlungspartner des Amerikaners, lehnte den Preis ab. Einfache Begründung: Der Krieg in Vietnam laufe noch. Zweitens, weshalb bekommt der führende Falke der US-Regierung den Friedenspreis, obwohl vor allem er den Krieg verlängert hat? Und drittens hat Kissinger den Staatsstreich von September 1973 gegen den linken Präsidenten Salvador Allende in Chile maßgeblich geplant. Nur Friedenspreisträger Barack Obama hat noch weniger für den Frieden getan als Kissinger.
Bellizist und Friedenstaube
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In seine Geburtsstadt Fürth bei Nürnberg kehrte Kissinger nach dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig und gerne zurück. Der Fußballbegeisterte ist Ehrenmitglied des Fußballvereins Greuther Fürth und ist mit allen in Bayern möglichen Ehren dekoriert. Schließlich ist er der nach Ludwig II. bekannteste Bajuware weltweit und gilt als Staatsmann der Extraklasse.
Kissinger prägte den Begriff der Realpolitik, die nichts anderes meint, als dass jedes Land zu seinem Vorteil Politik macht. Das ist im Grunde vernünftig, denn Regierungen können sich ihre Partner nicht nach eigenen Wünschen aussuchen. Sie müssen mit den gegebenen Verhältnissen umgehen können, auch wenn es nicht immer nach den eigenen Wertvorstellungen passt.
Kissinger ist von dieser Linie immer wieder abgewichen. Oder wie anders soll die unsinnige Verlängerung des Vietnamkrieges zwischen 1968 und 1973 verstanden werden? Die Folgen dieser Kissinger‘schen Realpolitik waren verheerend: Hunderttausende Vietnamesen sind massakriert worden, dazu der Einsatz des berüchtigten Agent Orange. Gut 20.000 US-Soldaten fielen.
Und was passierte in Kambodscha? Der Feind meines Feindes ist mein Freund. In diesem Fall: US-Hilfe für die Steinzeitkommunisten Pol Pots, der spinnefeind den vietnamesischen Kommunisten unter Hồ Chí Minh gegenüberstand. Diese inoffizielle Doktrin amerikanischer Machtpolitik, hat mit einem brutalen Bombenkrieg den Sieg der Roten Khmer vorbereitet. Und im Hintergrund zog Kissinger die Fäden. Er benutze einen schwachen Präsidenten wie Gerald Ford als Knetmasse und ebnete letztlich Donald Trumps America first-Politik den Weg.
Was nicht sein soll, dass nicht sein darf
In Chile lieferte Kissinger sein Meisterstück ab. Geheimoperationen verschiedener US-Dienste versuchten bereits die Amtseinführung des demokratisch gewählten Allende als Präsident zu verhindern. Allende war es bis zum blutigen Umsturz nicht vergönnt, ungestört von amerikanischen Störmanövern zu regieren.
Generalstabschef René Schneider versicherte Allende seiner Loyalität. Dass nicht alle seiner Offiziere auf dem Boden der Verfassung standen, sollte Schneider bald am eigenen Leibe erfahren. Die CIA beschrieb Schneider, als einen „großen Stolperstein für Militäroffiziere, die einen Putsch durchführen wollen“, was den US-Auslandsgeheimdienst zu einer Aktion gegen Schneider veranlasste.
Eine filmreife Entführung, der sich der Generalstabschef zu entziehen wusste, endete dann doch im Kugelhagel seiner Häscher. Der Auftakt für den Putsch war gelungen, der dann im Spätsommer 1973 mit dem Suizid Allendes seinen Höhepunkt erlebte. Sein Nachfolger, der brutale Diktator General Augusto Pinochet, hielt sich mit US-Hilfe bis 1990 an der Staatsspitze, als von Europa der berühmte Wind of Change durch die Welt wehte. Und wie reagierte Kissinger?
Kissinger und der Wind of Change
Der Elder Statesman, wie er von seinen zahlreichen Bewunderern genannt wird, sah den Wandel von 1989/1990 als großen Erfolg seiner Außenpolitik, die im Kern von allen US-Regierungen bis heute vertreten wird. Dass es zu hässlichen Nebenerscheinungen wie Putsche, Blutvergießen oder Diktaturen kommen kann, ist für Kissinger billigend in Kauf zu nehmen. Es geht um Höheres: den globalen Machtanspruch der USA im Gewand der Pax Americana.
Das mit der Pax – dem Frieden – stößt allerdings mehr und mehr auf Widerspruch oder besser: auf die neuen Realitäten. Kissinger musste sich mit für ihn ungewohnten Realitäten beschäftigen, als sein Freund Pinochet 1998 auf Veranlassung eines spanischen Staatsanwalts in London festgenommen wurde. Ein Auslieferungsbegehren für einen Prozess gegen den Diktator Emeritus in Madrid war vorbereitet. Sogar die US-Behörden zeigten sich kooperationsbereit und wollten bislang geheime Dokumente über Morde und Folterungen im Zusammenhang mit dem Coup d’État in Chile freigeben.
Kissinger dürfte aufgeatmet haben, dass Pinochet letztlich nicht an Spanien ausgeliefert wurde. Nach seiner Rückkehr aus der U-Haft in England nach Santiago de Chile blieb er wegen seines hohen Alters und multipler Gebrechen bis zu seinem Tod 2006 vom Gefängnis verschont.
Es gibt keine Verantwortung
Der britisch-amerikanische Journalist Christopher Hitchens versuchte 2001 eine Art Strafakte Kissinger anzulegen, um ihn vor Gericht zur Verantwortung ziehen zu können. Darunter waren Vorwürfe wie: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie in Vietnam und Kambodscha, Verschwörung zum Mord, wie an Allende oder Fidel Castro, sowie Entführung und Folter, wie an Schneider.
Doch alle Versuche, Kissinger vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen, scheiterten. Der bedeutendste noch lebende Ex-Außenminister der USA sieht keinen Gerichtsaal als Angeklagter mehr. Allein durch sein hohes Alter nicht und durch seine vielen Freunde und Unterstützer, die er in den USA und weltweit hat.
Ist also die Außenpolitik des Henry Kissinger eine pervertierte Variante von Realpolitik? Haben ihn Ausgrenzung und Drangsal in der NS-Zeit vor seiner Flucht nach Amerika hart gemacht? Die Antwort kennt nur er allein, und dazu hat er sich öffentlich nie geäußert.
Für sämtliche US-Administrationen seit Präsident Richard Nixon blieb Kissinger der große Welterklärer und außenpolitische Stratege: Er hat den Aufstieg Chinas vorhergesehen und das Ende des Sowjet-Imperiums. Er verteidigt in seinen Büchern die amerikanische Hegemonie über weite Teile der Welt. Er gibt Empfehlungen für ein Ende des Krieges in der Ukraine.
Er entwickelte sich nach seinem Abschied als Minister zur DER Grauen Eminenz in der US-Politik schlechthin: immer in den Zentren der Macht, ob Republikaner oder Demokraten, Chinese oder Russen, Kissinger war ein begnadeter Strippenzieher der nationalen und internationalen Politik. Seiner Witwe kondolierten alle maßgeblichen Staatslenker, nicht zuletzt Wladimir Putin und Xi Jinping. Welcher Politiker kann heutzutage noch so unterschiedliche Charaktere in gänzlich verschiedenen Systemen in einem Moment der Trauer vereinen?! Henry Kissinger starb am 29. November 2023 in Kent/Connecticut.
Schöner Artikel. Ja, der Kissinger … und seine Machtspielchen … Aus einer Vergangenheit, die für uns ältere Menschen immerhin noch eigene Lebenszeit ist, für jüngere Zeitgenossen aber weit vor der eigenen Geburt liegt (vielleicht so weit weg, wie für uns Ältere der Zweite Weltkrieg), ragt er wie ein uralter und halb abgestorbener Baum in unsere Gegenwart hinein. Vielleicht noch nicht mal einflusslos?! Doch sollte hieraus keine Verklärung erwachsen. Natürlich könnte man jetzt philosophieren, ob es denn überhaupt möglich sei, in hohen Machtpositionen anständig zu bleiben … Er soll ja mit Helmut Schmidt befreundet gewesen sein, doch trotz der vielen Jahre… Read more »
Man tut immer so als ob Politiker egal welcher Couleur „Macht“ haetten. Eher sind es in den sogenannten demokratischen Systemen Einflussagenten wie heute Influenzer oder manche Komiker die fuer die Masse als Galleonsfiguren fuer welche Agenda auch immer agieren, manchmal auch scheinbar wie das Faehnchen im Wind. Im Falle Kissingers zweifellos ein talentierter Selbstdarsteller, ein besonderes Geschick teils brutale Machtpolitik von Interessengruppen als seine Realpolitik zu verkaufen wie in Chile oder der Oeffnung Chinas als Fliessband fuer die amerikanische Wirtschaft.
Anfangs lief es gut in Chile. Dann haben die Linken den Warenumschlag behindert und Castro hat Oel ins Feuer gegossen. Als Allende die Kupfermienen enteignen wollte, war keiner mehr da, der friedlich die Angst der USA vor dem Kommunismus besänftigen konnte. Das ist keine Rechtfertigung für den Einsatz von Pinochet. Im Nah-Ost Konflikt war sein Ziel, Gleichgewicht zu erreichen. Man kann auch fragen wie es ohne ihn gewesen wäre. In Deutschland, dem m.E.allzu friedlichem Zwerg, war links immer gut und die USA böse. Europäische Arroganz sehen wir in Mali, Niger und Co. Wenn Russland und China da Einfluss gewinnen und… Read more »
Der Abzug aus Vietnam dauerte lange. Er argumentierte mit dem Schutz der Bevölkerung und seinen Soldaten. Wie lange hat es im Irak und Afghanistan gedauert und was hat der planlose Abzug bewirkt? Aber bald wird man wohl die Taliban gut heißen. So wie lange Ghaddafi, der in der deutschen Öffentlichkeit ein sympathischer und guter Mensch war. Lässt man gut und Böse und Schuld und Unschuld ausser Acht, war Kissinger eine gute Kraft. Wie Kanzler Schmidt. Unter heutigem Personal stände die Landshut vermutlich immer noch auf dem Rollfeld.