Todesboot Titan und die Faszination des Schreckens
BOULEVARD ROYAL
Eine Woche lang berichteten weltweit Medien über die Passagiere des verschollenen Tauchboots Titan. Wieso fasziniert so viele das Schicksal der fünf Passagiere?
Ein fragwürdiger Tauchboot-Unternehmer, ein Titanic-Experte, ein reicher Abenteurer und ein Unternehmensberater mit seinem Sohn wollten sich das in 3.800 Metern Tiefe liegende Wrack des legendären Luxusliners anschauen. Eingepfercht in eine Art schwimmender Sardinenbüchse zum Preis von 25.000 Dollar pro Passagier erlebten sie kein Abenteuer, sondern ihren eigenen Untergang. Und der Boulevard hatte wieder einmal ein großes Thema.
Forscherdrang und Abenteurertum
Inhaltsverzeichnis
So war es auch 1986 bei der Explosion der Raumfähre Challenger kurz nach ihrem Start. Millionen Amerikaner verfolgten das Drama Millionen live vor ihren Fernsehern. Die Expedition sollte ein neues Kapitel bei der NASA schreiben – zum ersten Mal war auch eine Zivilistin dabei. Sie war eine Lehrerin, mit der sich viele Bürger identifizieren konnten und die Schüler für die Raumfahrt begeistern sollte. Für sie selbst sollte sich ein langgehegter Wunsch erfüllen – einmal in die Weiten des Alls blicken. Was blieb, waren verglühte Trümmerteile.
US-Präsident Ronald Reagan wandte sich in einer TV-Ansprache an die geschockte Nation. Reagan wollte Trost spenden, dass der Tod der Astronauten nicht sinnlos gewesen sei. Sinngemäß meinte er, dass Forschung immer auch Wagnis sei. Es komme zu Rückschlägen, Entdecker könnten scheitern. Sie seien jedoch wichtig, um der Menschheit neue Horizonte zu öffnen. Reagan wollte dem Unglück einen Sinn geben und die ratlose Nation an die Hand nehmen: Amerikaner sind Comeback-Kids, sie verzagen nicht, und sind die geborenen Entdecker.
Tödlicher Nervenkitzel
Für die Betreiber von Ocean Gate ging es um Profit. In erster Linie und in zweiter und dritter um Abenteurertum und Forschergeist. Zahlungskräftige Kunden suchen den Nervenkitzel in Regionen, die als lebensfeindlich gelten. Wer schon überall war, alles Konventionelle gesehen hat, scheint den ultimativen Kick zu suchen. Das gilt für die touristischen Weltraum-Reisepläne Pläne eines Elon Musk und für die verunglückten Tauchboot-Passagiere gleichermaßen.
Jedoch gibt es einen großen Unterschied zur Challenger-Katastrophe von 1986: Das Tauchboot war auf keiner Forschungsfahrt, es reiste gezielt zum Tod. Im Wrack der Titanic fanden 1912 ebenso Reiche den Tod wie jetzt in der Titan. Ein Titanic-Opfer war sogar eine Vorfahrin eines der Insassen des Mini-U-Boots. Es mag makaber anmuten, einen Schiffsfriedhof zu besichtigen, um selbst den Kitzel des Todes zu spüren. Die Challenger-Besatzung wollte das Gegenteil: neue Dimensionen entdecken, Forscherdrang als Vorbild für die Jugend und Wagemut im positiven Sinne.
Die Fünf in der Titan mussten unterschreiben, dass sie sich im Klaren seien, der Tauchgang könne tödlich enden. Was wir über die Bauart, die Materialien und die Steuerung – eine Spielekonsole (!) – wissen, lässt schaudern. Es gab nicht einmal eine Möglichkeit, das Boot von innen zu öffnen. Für Tiefseereisen war es völlig ungeeignet.
Marine-Experten halten die Titan für eine Todesfalle, in die nie jemand hätte einsteigen dürfen. Private Unternehmen sind bisher nicht verpflichtet einen TÜV zu durchlaufen, um solche Expeditionen anzubieten. Vielleicht ändert es sich durch das Unglück.
Horror als Faszinosum
Unglücke sind Dramen, die emotional bewegen. Wenn sie dazu in überschaubarem Rahmen ablaufen, wie beispielsweise der Anzahl der Protagonisten, berühren sie umso stärker. Im Tauchboot waren alle namentlich bekannt. Über ihre soziale und ökonomische Situation wurde berichtet. Ein Jugendlicher, der vor dem Tauchgang Angst hatte und nur seinem Vater zuliebe mittauchte, begegnete einem fast 80-jährigen Titanic-Enthusiasten.
Die Welt spekulierte, wie lange der Sauerstoff reichen würde. 96 Stunden? Doch kürzer oder gar länger bei ruhigem Verhalten der Passagiere? Wie sollten sie in dieser klaustrophobischen Lage, den blanken Horror erlebend, den Tod vor Augen, ruhig atmen?! Dann errechneten Medien, dass der Sauerstoff am Donnerstag, 22. Juni, gegen 13.08 Uhr, welcher Zeitzone auch immer, versiegen würde.
Mediziner sagten, dass es ein allmähliches Verröcheln sei. Andere wiederum skizzierten, dass in dieser schrecklichen Lage allein schon die Panik auslösende Enge im Boot zu einem tödlichen Infarkt führen könnte.
Die Welt sah ein Drama in mehreren Akten, fast schon klassisch-griechisch: Von der anfänglichen Hoffnung, Suchmannschaften könnten die Passagiere lebend bergen, über die Spekulationen zu technischen und medizinischen Details bis zur Gewissheit, dass das Boot implodiert ist und die fünf tot sind.
Frevelhafter Übermut
Eine Implosion unter so hohem Druck in der Tiefsee soll schnell gehen, so schnell, dass die Betroffenen ihr Ende nicht realisieren. Es ist für die Insassen der Titan zu hoffen. Beim Untergang der Titanic dauerte alles viel länger. Menschen standen an Deck und konnten, sofern sie sich nicht mehr in die zu wenigen Rettungsboote retten konnten, ihrem eigenen Ende entgegensehen. Manche von ihnen haben dem Tod gefasst, fast schon stoisch und würdevoll ins Auge geblickt.
Die Filme über die berühmteste Schiffskatastrophe aller Zeiten zeigen stets die persönlichen Dramen und zugleich, wie der Mensch in seinem Streben nach technischem Fortschritt scheitern kann. Wie Ronald Reagan sinngemäß meinte, aufgeben ist keine Option.
Ob Titanic oder Titan – für die Menschen, die nicht mit dabei waren, aber davon gehört oder gelesen haben, hängt die Faszination über diese Unglücke mit einem zentralen Moment zusammen: Aus sicherer Entfernung, dem grausig-anziehenden Geschehen zu folgen. Für die Fünf in der Titan liegt das Grab nun neben dem Grab der Titanic. Welche bittere Ironie der Geschichte.
Man denke an die potentiellen Nierenspender die jetzt wieder mit 250 auf Landstrassen und Autobahnen herumrasen. Milliardaere sind auch nur Menschen.