Pläne für neues Wahlrecht schüren Misstrauen

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Wahlrecht /Forsa / Civey / FDP / AfD/ CDU / Wahl / Kandidaten/ Quelle: Pixabay, lizenzfreie Bilder, open library: https://pixabay.com/de/abstimmung-stimmzettel-box-papier-3569999/ Wahlrecht /Forsa / Civey / FDP / AfD/ CDU / Wahl / Kandidaten/ Quelle: Pixabay, lizenzfreie Bilder, open library: https://pixabay.com/de/abstimmung-stimmzettel-box-papier-3569999/

Das Vertrauen in die Demokratie erodiert. Und die Ampelkoalition präsentiert ein neues Wahlrecht, das Wähler und Politiker noch weiter voneinander entfernt.

Eines der größten Probleme der deutschen parlamentarischen Demokratie ist die Entfremdung zwischen Politikern und Wählern. Seit Jahren belegen Umfragen ein sinkendes Vertrauen in die Demokratie. Zugleich hat unter dem Einfluss von Corona und dem Krieg in der Ukraine die Verunsicherung der Menschen stark zugenommen.

In dieser Phase legt die Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen nun Pläne für ein neues Wahlrecht vor. Ziel ist es, die Zahl der Abgeordneten auf 598 zu begrenzen. Aktuell hat der Bundestag 736 und damit viel zu viele Sitze. Daran sind sich im Prinzip Bürger und die Bundestagsfraktionen einig. Nur darüber, wie der Bundestag künftig gewählt werden soll, gehen die Meinungen weit auseinander.

Nach altem Wahlrecht ist das Direktmandat eine Auszeichnung

Geht es nach der Ampel, dann wächst künftig die Bedeutung der Parteien gegenüber den direkt gewählten Abgeordneten. Oder anders ausgedrückt, der Kandidat vor Ort verliert an Gewicht. Darum soll die Zweitstimme künftig Hauptstimme heißen. Konkret heißt das: Gewinnt ein Kandidat den Wahlkreis, dessen Partei bei den Hauptstimmen weniger erfolgreich ist, kann es sein, dass er trotz seines Wahlerfolges nicht in den Bundestag einzieht. Seine unterlegenen Konkurrenten könnten aber sehr wohl ein Mandat erhalten, wenn ihre Parteien erfolgreich waren. Grundsätzlich gilt laut dem Ampel-Vorschlag: Ist eine Partei bei den Hauptstimmen erfolgreich, dürften fast alle direkt gewählten Kandidaten auch ein Mandat erhalten.

Bisher galt es als eine besondere Auszeichnung, wenn Kandidaten einen Wahlkreis direkt gewonnen hatten. So ist und war die CSU etwa immer sehr stolz darauf, dass ihre Abgeordneten fast alle bayerischen Wahlkreise gewannen. Als der Grünen-Politiker Hans-Jürgen Ströbele 2002 von seinen Parteifreunden nicht mehr auf einen aussichtsreichen Listenplatz gewählt worden war, bewarb er sich in Berlin-Kreuzberg um das Direktmandat. Er gewann dann nicht nur den Wahlkreis mit 31,5 Prozent der abgegebenen Stimmen, sondern auch das erste Direktmandat der Grünen überhaupt.

Souveränität durch Sieg im Wahlkreis

Mit diesem Wahlerfolg genoss Ströbele fortan einen besonderen Status, denn er war nicht mehr auf das Wohl und Wehe der Partei angewiesen, sondern nur noch seinem Gewissen und den Wählern verpflichtet. Ähnlich verhält es sich mit Gregor Gysi und der Linken. Auch Gysi kann unter anderem deshalb mit großem Selbstbewusstsein auftreten, weil er bei Bundestagswahlen mehrfach den Berliner Bezirk Treptow-Köpenick gewonnen hat.

Allein diese wenigen Beispiele zeigen den besonderen Charakter von Direktmandaten. Sie demonstrieren in besonderer Weise die Verbundenheit der Wähler mit dem Abgeordneten. In der Regel lebt der direkt gewählte Abgeordnete in seinem Wahlkreis. Seine Wähler kennen ihn also nicht nur aus dem Fernsehen, sondern auch aus dem Alltag seiner Familie und aus seinem früheren Beruf. In ihm erkennen sie den natürlichen Ansprechpartner für die Sorgen und Nöte des Wahlkreises. Und der Abgeordnete wiederum wird sich dieser Sorgen und Nöte annehmen, weil er seinen Wahlkreis wiedergewinnen will.

Mit dem Gesetzentwurf der Ampel-Koalition wird diese enge Bindung zwischen Wählern und Politikern bewusst gelöst. Auch wenn Wahlsieger nur in Einzelfällen der Einzug in den Bundestag versagt bleiben sollte, verändert das Gesetz die Qualität des Direktmandats und forciert die ideologische Umklammerung der Kandidaten.

Wachsendes Misstrauen

Am stärksten wird die Union unter dieser Gesetzesnovelle leiden, weil sie die meisten Sitze verliert. Kein Wunder also, dass sie gegen die Pläne Sturm läuft und dabei zu Recht auf die besondere Bedeutung des Direktmandats verweist.

Auch wenn die Bürger ganz sicher einen kleineren Bundestag begrüßen, dürfte mit einer solchen Wahlreform, die den Kandidaten weitere Souveränität nimmt und die Parteien stärkt, das verlorene Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen kaum zurückkehren. Es sind ja gerade die Parteien, denen 65 Prozent der Deutschen misstrauen. Dem Bundestag vertrauen noch 37 Prozent der Wähler, der Bundesregierung noch 34 Prozent (minus 22 Punkte!) und dem Bundeskanzler 33 Prozent (minus 24 Punkte!).

Wer das Verhältnis von Wählern und Politikern per Gesetz noch weiter entkoppelt, wird letztlich wohl nur das Misstrauen verstärken.

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

7 Comments
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Wolfgang Wirth
Wolfgang Wirth
1 Jahr her

Die geplante Reform ist in der Tat problematisch und in sich nicht schlüssig. Man wundert sich, dass sie dann konsequenterweise die bisherige Erststimme (Bewerber im Wahlkreis) nicht komplett abschaffen wollen. Natürlich ist die absurd große Zahl der Abgeordneten im Bundestag ein echtes Problem, weil dies unnötig viel Geld kostet und teils nur zu einer Art von „Pfründenmentalität“ führt. Hinzu kommt der Umstand, dass die Bedeutung jedes einzelnen Abgeordneten mit der wachsenden Größe des Parlaments sinkt. Das Prinzip der Inflationierung. Nun gut, dass mag manchen ganz recht sein. Ohnehin steht die zahlenmäßige Größe des deutschen Parlaments in einem geradezu grotesken Verhältnis… Read more »

fufu
fufu
1 Jahr her

Seltsam realitaetsferner Artikel. Der Autor glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass ein System das Figuren wie exemplarisch Baerbock an die Spitze spuelt durch Wahlrechtsretuschen veraendert wird.

Peter Schrein
Peter Schrein
1 Jahr her

Parlamentarische Demokratie= Kontrolle der Regierung durch Direktmandate GG Art. 38

Wolfgang wirth
Wolfgang wirth
Reply to  Peter Schrein
1 Jahr her

Ich bin kein Jurist. Vielleicht können Sie das noch einmal genauer darlegen.

Verstehe ich Sie richtig, wenn Sie meinen, dass eine Verhältniswahl vom Grundsatz her nicht zu Abgeordneten führen kann, die „… in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“ worden sind, weil sie ja eben gar nicht selbst gewählt werden, sondern indirekt über die Liste und die Zweitstimme?

@ fufu
Zustimmnung.

Peter Schrein
Peter Schrein
Reply to  Wolfgang wirth
1 Jahr her

Ich bin auch kein Jurist ,meine aber wir leben in einer Regierungs- und Parteiendiktatur zu sehen in den Parlamenten und bitte GG lesen steht alles drin !

Elke
Elke
1 Jahr her

Vor allem müsste auch der Parteienzwang abgeschafft werden. Abstimmungen der Abgeordneten sollten doch angeblich nur ihrem Wissen (was oft genug nicht vorhanden ist) und ihrem Gewissen untergeordnet sein.
Wenn es nach Parteienzwang geht, könnte man sich alle Abgeordneten sparen. Wir haben ein größeres Parlament als die USA und wenn ich mir ansehe, was dabei bislang herausgekommen ist, wird mir schlecht.

Peter Schrein
Peter Schrein
Reply to  Elke
1 Jahr her
  • So sehe ich das auch Fraktionszwang und namentliche Abstimmung machen Demokratie unmöglich, die Parteien sollen laut GG mitwirken nicht diktieren !
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