Ist Alexis Tsipras ein Verräter?
Hat Alexis Tsipras Syriza und sein Volk verraten? Oskar Lafontaine und Yannis Varoufakis ziehen aus Tsipras‘ Tun radikale Schlüsse. Sie wollen die EU zerschlagen.
Sie hatten so große Hoffnungen, und dann wurden sie so bitter enttäuscht. Es geschah in diesem Sommer in Athen; an der Wiege der Demokratie wurde die europäische Linke vernichtend von Gläubigern der Griechen geschlagen. Nun wollen einige ihrer führenden Köpfe dieses Europa nicht mehr. Sie denken fieberhaft darüber nach, wie sie der Europäischen Union ein Ende bereiten können.
„Wir sind entschlossen, mit diesem Europa zu brechen“, schreiben der frühere Bundesfinanzminister und Linken-Vorsitzende Oskar Lafontaine gemeinsam mit dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, dem Präsidentschaftskandidaten der französischen Linksfront und Exminister Jean-Luc Mélènchon, dem ehemaligen stellvertretenden italienischen Finanzminister Stefano Fassima und der griechischen Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou.[1] Ihrer Ansicht nach sind EU und Euro das Projekt herrschender neoliberaler Interessen zum Schaden der Bürger.
„Wir müssen dem Irrsinn und der Unmenschlichkeit der aktuellen europäischen Verträge entkommen und sie von Grund auf erneuern, um die Zwangsjacke des Neoliberalismus abzustreifen, den Fiskalpakt aufzuheben und TTIP zu verhindern“ schreiben Lafontaine und seine Mitstreiter in ihrem Aufruf mit der Überschrift „Ein Plan B für Europa“.
Ein fataler Irrtum!
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Was die Fünf da formuliert haben, ist jedoch nicht nur ein Frontalangriff auf die EU, sondern auch ein radikaler Bruch mit dem linken Weltbild, dessen integraler Bestandteil bis heute die institutionelle und zentral gesteuerte EU ebenso ist wie der Euro als monetäres Mittel einer vertiefenden Integration und damit letztlich als Garant für ein soziales, gerechtes und demokratisches Europa. Doch nun kommen die Fünf daher und rufen die Revolution nicht allein gegen die EU, sondern auch gegen das bisherige Selbstverständnis der europäischen Linken aus!
Wer die tiefere Motivation der Autoren ergründen will, muss das Trauma erkennen, unter dem die gesamte europäische Linke leidet, seit sie mit ansehen musste, wie ihr Hoffnungsträger Alexis Tsipras im Sommer Verträge unterschrieb, die künftige griechische Regierungen zu einer Politik verpflichten, die Tsipras selbst jahrelang als „verbrecherisch und barbarisch“ bezeichnet hatte. Wie gern hätte die Linke Syriza als „Beenderin der Austeritätspolitik“ gefeiert, statt dessen verbog ihr Vorsitzender sie „zum ausführenden Organ der Diktatur der Troika“, resümieren die stellvertretende Linken-Vorsitzende Janine Wissler und die Abgeordnete Nicole Gohlke.
Mit anderen Worten, sie fühlen sich von ihm verraten und verkauft, denn er führte die europäische Linke in ein Dilemma: Sie musste feststellen, dass sie nicht den geringsten Einfluss auf die Politik in Europa nehmen kann, ganz egal, ob sie an der Regierung ist oder nicht. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen:
„Sie dachten, sie hätten die Macht. Dabei waren sie bloß in der Regierung.“
Nun bläst die prominente europäischen Linken-Vorhut zur Attacke und singt das hohe Lied nationalstaatlicher Souveränität: „Die Demokratien der Mitgliedsstaaten brauchen Luft zum Atmen und den politischen Raum, der ihnen die Möglichkeit gibt, sinnvolle Politik auf einzelstaatlicher Ebene voranzubringen.“ Mit ihrem Vorstoß treiben sie einen Keil in das linke Lager und bauen eine Front zu jenen wie der Links-Ökologin Katja Kipping oder dem Gregor Gysi auf, die auch weiterhin fest zu diesem Europa stehen und zu Tsipras stehen. Gysi reiste sogar nach Athen, um Wahlkampf für die Reste des Syriza-Partei zu machen, die zerbrach, als sie im Parlament gegen die eigene Überzeugung und Programmatik stimmen musste.
Was führte Tsipras im Schilde?
Seither fragen sich viele Linke: War das wirklich nötig? Hatte Tsipras tatsächlich keine andere Wahl? Zweifel scheinen zumindest angebracht. Zwar wird sein Handeln offiziell auch von den neuen Euro-Gegnern wie Sahra Wagenknecht gerechtfertigt. „Die EZB hat ihn erpresst, weil sie damit drohte, die griechischen Banken Pleite gehen zu lassen“, nimmt sie den Syriza-Vorsitzenden in Schutz. Aber dass Tsipras bewusst den Varoufakis-Vorschlag einer Parallelwährung in den Wind schlug und die Forderung der Geldgeber akzeptierte, den Finanzminister von internationalen Konferenzen auszuschließen, stößt bei den Euro-und EU-Kritikern in den Reihen der Linken auf Unverständnis.
Hinzu kommt, dass Tsipras wohl auch Vorschläge für eine juristische Abwehr der von den Gläubigern geforderten Sparauflagen ignoriert haben könnte. Während des Referendums über die Sparauflagen der Gläubiger veröffentlichten die UN eine Stellungnahme[2] der Menschenrechtsexpertin Victoria Danda und der Experte für demokratische und gleichheitsgerechte Ordnung, Alfred de Zayas, dass völkerrechtliche Verträge und Kreditvereinbarungen, „die zur Verletzung universeller Menschenrechte zwingen“, nach Artikel 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention nichtig seien.
Bereits ein Jahr zuvor hatte die deutsche Menschenrechtsaktivistin Sarah Luzia Hassel-Reusing dem Syriza-Führer darauf hingeweisen, dass die Kreditverträge nicht mit den UN-Menschenrechten vereinbar seien. „Darauf hätte sich Tsipras berufen und mit Hilfe der UN [2] vor den Internationalen Gerichtshof ziehen können“, sagt Hassel-Reusing und stellt fest: „Jedenfalls sind die von ihm unterschriebenen Memoranden höchstwahrscheinlich nichtig.“
Vor wenigen Tagen verabschiedete die UN-Generalversammlung ganz in diesem Sinne mit der überwältigenden Mehrheit von 136 zu sechs Stimmen „Neun Prinzipien für einen fairen Umgang mit überschuldeten Staaten“. Sie lauten: Souveränität, guter Glaube, Transparenz, Unparteilichkeit, Gleichbehandlung, Staatenimmunität, Rechtmäßigkeit, Nachhaltigkeit und Mehrheitsentscheidungen.
Gegen diesen Beschluss votierten unter anderen Deutschland, Großbritannien, Israel, Japan, Kanada und die USA. Kaum war das Votum bekannt geworden, lancierte Finanzminister Wolfgang Schäuble ein dreiseitiges „internes Papier für eine europäische Insolvenzordnung“ an die Öffentlichkeit, bei der der Internationale Währungsfonds eine entscheidende Rolle einnimmt.
Der UN-Beschluss war das Ergebnis einer vor einem Jahr eingeleiteten und auch von der Linken unterstützten Debatte. Dazu hatte die Fraktion zu Beginn des Jahres vergeblich einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem sie dazu aufrief, den Arbeitsprozess der Vereinten Nationen mitzugestalten. Sie forderte, „den Grundbedürfnissen der Bevölkerungen in den Schuldnerstaaten den Vorrang vor Ansprüchen der Gläubiger zu geben“. Umso mehr fragen sich Linke heute, warum Tsipras diese Karte nicht gegen die EU zog.
Auf dem Weg nach Linksaußen
Während er zu all dem schweigt, schreiben unter anderem Varoufakis und linke Ökonomen wie Heiner Flassbeck, Thomas Piketty und James Galbraith in einem offenen Brief[3] zu den neun Prinzipien:
„Auf der Grundlage solcher Prinzipien hätten die Fallstricke der griechischen Krise verhindert werden können, in der Politiker den Forderungen der Gläubiger nachgaben obwohl diese ökonomisch keinen Sinn ergeben und sozial verheerende Auswirkungen hatten.“
So klafft das linke Lager immer deutlicher auseinander. Auf der einen Seite wirbt die Gysi- und Kipping-Fraktion für die Fortsetzung der Tsipras-Regierung und dessen Unterstützung durch die europäische Sozialdemokratie, auf der anderen Seite drängen Lafontaine und Varoufakis zu einem klaren Schnitt, der keinerlei Zugeständnisse mehr toleriert. Wer, wie Frankreichs Präsident Sozialisten-Chef François Hollande oder Italiens sozialdemokratischer Regierungschef Matteo Renzi an der EU-Politik festhält, wird von ihnen als kapitulierender „Mustergefangener“ verhöhnt.
Offenbar kommen derart klare Worte an, denn die Zahl ihrer Unterstützer wächst. In Spanien ist es das Linksbündnis Podemos, in Großbritannien hat Labour mit der Wahl von Jeremy Corbyn radikal mit der Ära Tony Blair gebrochen. In Griechenland hat die im August gegründete Volksunion (Laiki Enotita) des früheren Energieministers Panagiotis Lafazanis inzwischen die Rolle von Syriza als linke Kraft übernommen – Syriza selbst steht im Ruf, eine neue Pasok zu werden, also eine eher sozialdemokratische Partei. Sogar in den USA erlebt linke Politik mit dem Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders eine Renaissance, der sich selbst als demokratischen Sozialisten bezeichnet und derzeit riesige Hallen füllt.
Eine EU mit Breshnew-Doktrin?
Doch von Macht und Einfluss ist die radikale Linke heute weiter entfernt als noch vor einem Jahr, wo sie mit Syriza nach den Sternen greifen wollte. Heute schreiben Lafontaine und Varoufakis und die anderen „Plan-B“-Autoren, die Verhandlungspartner hätten dem Linksbündnis nie eine Chance geben wollen. Ähnlich hatte sich Varoufakis bereits in mehreren Interviews geäußert.
Nun begründen sie diese Einschätzung mit dem Hinweis auf EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker der gesagt haben soll, es könne „keine demokratische Wahl gegen die europäischen Verträge geben“. Lafontaine, Varoufakis und die anderen setzten diese Aussage in einen historischen Vergleich, der es in sich hat: „Das ist die neoliberale Adaption der Doktrin ,der beschränkten Souveränität’, erfunden von Breschnew 1968. Damals haben die Sowjets den Prager Frühling mit ihren Panzern niedergeschlagen. Diesen Sommer hat die EU den Athener Frühling mit ihren Banken zerschlagen.“
Und nun? Wie soll es weitergehen? Ihr Ziel ist eine „Kampagne des europäischen zivilen Ungehorsams gegenüber willkürlichen, europäischen Praktiken und irrationalen ,Regeln’“, an die Tsipras sich noch gehalten hat. Sie wollen eine neue Bewegung gegen dieses Europa formen und hoffen dabei auf das, „was in Spanien, Irland – möglicherweise wieder in Griechenland, abhängig von der Entwicklung der dortigen politischen Situation – und in Frankreich 2017 passieren könnte“. Kurz, sie hoffen auf eine Radikalisierung der politischen Debatte und folglich auch der europäischen Gesellschaften zugunsten der marxistischen Linken. Über erstarkende Bewegungen in den Mitgliedsstaaten wollen sie ein neues Europa schaffen.
Raus aus dem Euro!
Gysi, der im Oktober sein Amt des Fraktionschefs abgibt, betrachtet all dies mit großer Sorge. Er sah sich sogar zu einer schriftlichen Stellungnahme veranlasst. Unter der Überschrift „Auftreten statt Austreten“ schreibt er: „Der Fall Griechenlands wird von einigen in Partei und Fraktion genutzt, um die bisherige Politik bzw. gültige Position von Partei und Fraktion gegenüber der Währungsunion und Europäischen Union in Richtung einer Austrittsposition zu ändern.“ Davor könne er nur warnen. Er erinnert an den „Gründungszweck“ der EU, nämlich die Schaffung einer Friedensordnung, der sich schließlich „für die Mitgliedsstaaten der EU bis heute erfüllt“ habe.
Ein Austritt aus der EU und der Währungsunion wäre keinesfalls sozialer oder demokratischer, schreibt Gysi und sieht im „Rückfall in die europäische Nationalstaatlichkeit des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts keine Option für Linke“. Unterstützt wird er von Katja Kipping. „Wir wollen nicht zurück in die nationale Wagenburg“, sagt sie, fordert aber zugleich einen „europäischen Neustart“.
Nur, wie soll der aussehen? Die Gruppe um Lafontaine denkt bereits über vieles nach: „die Einführung eines parallelen Zahlungssystems, Parallelwährungen, digitalisierte Eurotransaktionen, einen Austritt aus der Eurozone sowie die Umwandlung des Euro in eine (demokratische) Gemeinschaftswährung“. Sie schlagen einen internationalen Gipfel für alle „interessierten Bürgerinnen und Bürger, Organisationen und Intellektuellen“ vor. Im November soll’s losgehen.
Anmerkungen
[1] Dokumentation in: Neues Deutschland
[2] siehe UN-Pressemitteilung
[3] siehe Dokumentation in The Guardian