Förderschüler weichen Flüchtlingen
Darf ein Landrat mal eben so eine Schule für lernbehinderte Kinder zugunsten von Flüchtlingen räumen lassen? Eltern im thüringischen Eichsfeld sind empört.
Landauf, landab gibt es in Städten und Gemeinden derzeit kaum ein anderes Thema als die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern. In dem kleinen Örtchen Heiligenstadt im thüringischen Eichsfeld verfügte nun ein christdemokratischer Landrat die Räumung einer Schule für Lernbehinderte und rief damit den energischen Protest der Eltern hervor.
Sie werfen Landrat Werner Henning vor, zwei bedürftige Gruppen gegeneinander auszuspielen und stellten eine Petition zum Erhalt der Schule ins Internet. Seither wird nicht mehr nun im Eichsfeld die Frage diskutiert, ob es gerechtfertigt ist, dass Lernbehinderte dem Flüchtlingsstrom weichen müssen. Die Ansichten dazu gehen weit auseinander.
Mal eben so verfügt
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„Warum nimmt der Landrat den Kindern ihr Umfeld, das sie so liebevoll gestaltet haben“, klagt auf der einen Seite Bianka Huschenbett, Mutter eines Sohnes, der die Förderschule besucht. „Das ist bewusste Kindeswohlgefährdung.“ Bianka Huschenbett hat die Petition im Internet gestartet, weil sie sich von der Politik schlecht behandelt fühlt. „Wir haben bis heute keine offizielle Mitteilung des Landrats über die Räumung“, sagt sie. Dieser hatte die Unterbringung der Flüchtlinge am 11. August verfügt und tags drauf seine Anweisung dem Kreistag zur Kenntnis gegeben. Seiner Ansicht nach ist eine Zuständigkeit des Kreistages für die Unterbringung von Flüchtlingen nicht gegeben.
„Mit keinem Wort hat Herr Henning uns Eltern gegenüber seinen Schritt erläutert. Wir haben lediglich Post von der Schule bekommen, die uns darüber in Kenntnis setzte, dass unsere Kinder im neuen Schuljahr in zwei anderen Schulen unterrichtet werden“, sagt Huschenbett. Demnach wird der Unterricht des Förderzentrums Heiligenstadt für die Klassen 5 bis 10 in das Förderzentrum nach Birkungen verlagert und für die Klassen 1 bis 4 in ein benachbartes Gebäude einer Grundschule in Heiligenstadt. Anders als die lernbehinderten Kinder darf die Außenstelle der Kreisvolkshochschule Eichsfeld in dem Gebäude bleiben.
Sie finde das nicht nur unverschämt, sagt Bianka Huschenbett, sondern fürchte, dass die Kinder an dem Schulwechsel Schaden nehmen könnten. „Viele Kinder reagieren äußerst sensibel auf solche Veränderungen“, sagt sie. Allein die Eingewöhnung in eine neue Umgebung bereiten vielen zum Teil erhebliche Schwierigkeiten.
50 leerstehende Wohnungen
In ihrer Petition fragt sie: „Warum wird mit den Schwächsten, unseren Kindern, so umgegangen? Sind lernbehinderte Kinder in unserer Gesellschaft nichts wert?“ Damit sie mit ihrer Petition politisch aktiv werden können, benötigen die Eltern 18.000 Unterschriften. Bis jetzt haben sie 4479 Unterstützer. Vor wenigen Tagen haben sie auf dem Friedensplatz vor dem Heiligenstädter Landratsamt protestiert, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen.
„Es gibt hier 50 leerstehende Wohnungen. Ich verstehe nicht, warum der Landrat die Flüchtlinge nicht dort unterbringt“, sagt Bianka Huschenbett. In der Förderschule stünden etwa 100 Flüchtlingen nur drei Duschen zur Verfügung. Da seien sie in den leerstehenden Wohnungen doch viel besser aufgehoben.
„Wir machen uns genauso Gedanken um die Flüchtlinge“, sagt sie. „Aber ich habe noch nie gehört, dass eine laufende Förderschule für Asylbewerber geräumt wurde. Und weil wir uns dagegen wehren, werden wir nun in die rechte Ecke gestellt.“
Auf Anfrage teilte das Landratsamt mit, dass es sehr wohl daran denke, die Wohnungen „dezentral in Wohnungen“ unterzubringen. Die Schule sei nur als erste Anlaufstelle vorgesehen. Im Übrigen eigne sich das Gebäude, weil es früher mal ein Kinderheim war und über eine günstige Raumaufteilung verfüge.
Was Experten meinen
Experten für Sonderpädagogik teilen die Sorgen der Eltern hinsichtlich der Verlegung der Klassen in andere Schulen nicht. Sogenannte lernbehinderte Kindern seien zu rund 90 Prozent durch soziale Benachteiligungsfaktoren zu Schulversagern geworden, sagt Stephan Ellinger, Professor für Sonderpädagogik an der Uni Würzburg. Sie stammten überwiegend aus Familien, deren Existenz am Rande der Gesellschaft verlaufe und die allgemein nur wenig Anerkennung fänden. „Sie können womöglich sogar eher nachempfinden, dass bestimmte Menschengruppen Unterstützung und Hilfe brauchen, als dies Kinder aus bürgerlichen Verhältnissen tun“, sagt er. Eine Verlegung des Unterrichtsortes hält er nicht für problematisch. Grundsätzlich tritt Ellinger jedoch dafür ein, dass diese Gruppe unabhängig von der konkreten Flüchtlingsproblematik nicht ohne weiteres politisch motiviert in die Regelschule integriert werde.
Prof. Rolf Werning von der Universität Hannover hingegen ist ein Befürworter der Inklusion. Er sieht den Umzug der unteren Klassen der Förderschule an die Regelgrundschule positiv. „Wenn sich die Lehrkräfte beider Schulen zusammensetzen und gemeinsam mit Eltern und Kindern ein Konzept entwickeln, kann dies für die lernbehinderten Kinder sogar sehr von Vorteil sein“, sagt er. An Förderschulen seien die Lernchancen eingeschränkter als an Regelschulen.