Einäugiger Russland-Journalismus

Westliche Medien bilden eine Anti-Putin-Front. Guter Journalismus hingegen sollte versuchen, die dortigen Verhältnisse, die Sorgen und Nöte der Russen zu verstehen.

In der Ukraine sind viele Fragen noch ungeklärt und die Zukunft ist unsicher wie je. Auch befriedigen bisherige Ergebnisse der Untersuchungen zu den im Umfeld der Ukraine-Krise meistdiskutierten Themen, zum Abschuss des Fluges MH-17, zu den Maidan-Scharfschützen, zu möglichen Massengräbern im Osten oder zu Streubombeneinsätzen, das in bewaffneten Konflikten aufkommende Bedürfnis nach Eindeutigkeit der Lage nicht.

Derweil sind im medialen Diskurs, besonders in Deutschland, die Fronten verhärteter als in manchen heißen Phasen des Kalten Krieges. Es herrscht ein Schwarz-weiß-Denken; die für die Beschreibung von komplexen Situationen erforderlichen Grautöne scheinen im journalistischen Repertoire derzeit verschüttgegangen.

Selten stand die deutsche Presse so vereint auf der Seite eines westlichen Militärbündnisses wie im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Selbst im zum Kampf gegen ein zweites Auschwitz hochstilisierten Kosovo-Krieg meldeten sich in den Leitmedien öfter kritische Stimmen als heute. Von der linksgrünen „Taz“ über die linksliberale „Zeit“, die liberalkonservative „Welt“, bis zur populistischen „Bild“-Zeitung: der Pressetenor ist eindeutig, und versucht dabei oft nicht einmal den Anschein eines distanzierten Journalismus zu wahren (man denke nur an das „Spiegel“-Cover „Stoppt Putin jetzt“).

Gesperrte Kommentare

Entsprechend unmöglich ist es derzeit, einen Text zum Thema zu veröffentlichen, der nicht entweder als Zeugnis eines Putinverstehers oder als klares Bekenntnis der Putingegnerschaft in den entsprechenden Schubladen abgelegt wird. Auffällig ist in jedem Fall: Die Wahrnehmung der Deutschen korrespondiert im Großen und Ganzen nicht mit dem Tenor der Berichterstattung. Das legen Umfragen ebenso nahe wie die meisten der veröffentlichten Onlinekommentare. Und es geht soweit, dass die „Süddeutsche Zeitung“ mittlerweile die Reißleine gezogen hat und Kommentare nur noch zu ausgewählten Themen und streng moderiert veröffentlicht. Die öffentliche Meinung präsentiert sich reziprok zur veröffentlichten, sie steht für die andere Seite einer in festgefahrenen Bahnen verlaufenden polarisierten Debatte.

Verfehlt wäre es aber, an professionelle Journalisten und ihre Kritiker die gleichen Maßstäbe anzulegen. Ausgiebige Recherche, redaktionelle Kontrolle und distanzierte Berichterstattung sind Merkmale, mit denen sich Qualitätsjournalismus bis heute zu Recht aus der Masse der Onlinepublikationen herauszuheben sucht. An diesem Anspruch ist Journalismus zu messen. Eher abgeschmackt klang vor Ausbruch der Ukraine-Krise noch der zu Tode zitierte Ausspruch nach Hanns Joachim Friedrichs:

„Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.“

Heute zeigt sich, wie wichtig es ist, eigentlich banale Standards nicht aufzugeben. Wenn quer durch alle bedeutenden Publikationen regelmäßig die Zahl der Meinungsartikel die der Hintergrundberichte bei Weitem übersteigt, wenn oft die Grenze zwischen beiden kaum noch zu ziehen ist, dann läuft strukturell etwas falsch. Dass auch die Kritiker gern emotional und an den Fakten vorbei argumentieren, dass sich unter ihnen zahlreiche Trolle und Verschwörungstheoretiker finden, kann keine Entschuldigung sein, sich auf deren Niveau zu begeben. Nicht auszuschließen, dass die Skepsis, mit der die Öffentlichkeit heute auch den neutralsten Publikationen zur Ukraine gegenübertritt, in Teilen auch als trotzige Reaktanz gegen als einseitig wahrgenommene Berichterstattung erklärt werden muss.

Den Gegner verstehen

Exemplarisch für den polarisierten Diskurs steht die Rede vom „Putinversteher“. Ein zuspitzender Begriff, der im polemischen Kommentar sicher seine Rechtfertigung hat, der sich längst aber derart verselbstständigt hat, dass er kaum noch aus einem russlandbezogenen Artikel wegzudenken ist. Obwohl etwa vom „Frauenversteher“ bekannt, sollte in dieser Breite die negative Konnotation Besorgnis erregen, die einer der besten menschlichen Qualitäten, dem Interesse an Erkenntnis über und Verständnis für das Gegenüber, so beigelegt wird. Selbst dort, wo Freund und Feind klar voneinander abzugrenzen sind, wo alles auf das Besiegen eines Gegners hinausläuft, im Schach etwa, ist es Imperativ, den Gegner zu verstehen, sich in ihn hineinzuversetzen. Man stelle sich nur vor, man hätte einst Kasparow zum Vorwurf gemacht, er sei ein Karpowversteher.

Von den klaren Konstellationen des Schachs sind wir im Politischen heute weit entfernt. Dennoch werden längst nicht nur Montagsdemonstranten und unverbesserliche Alt-Stalinisten als Putinversteher gebrandmarkt, auch Veteranen der Entspannungspolitik, die zum Ende des Kalten Krieges führte, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Henry Kissinger, fallen dem Urteil anheim.

Nun wird eine Meinung natürlich nicht allein dadurch richtiger, dass sie von jemandem geäußert wird, der einen wichtigen Beitrag zur Überwindung des wohl prägendsten Konfliktes des 20. Jahrhunderts geleistet hat. Auch werden vor allem von links vorgetragene Argumente nicht allein dadurch besser, dass sie auch von einigen Liberalen und Konservativen vertreten werden. Aber unvoreingenommener Journalismus geböte zumindest, erst einmal genau hinzuschauen, statt etwa wie es Robert Leicht in der „Zeit“ tat, die Äußerungen Genschers despektierlich als Alterssenilität abzuqualifizieren. Immerhin sprechen hier bedeutende Zeitgenossen, die derzeit ihr Lebenswerk auseinanderfallen sehen.

John Mearsheimer versteht Putin

Es zeigte sich bei genauerem Hinschauen, dass zumindest einige der vorgebrachten Einwände durchaus Hand und Fuß haben. Es sind vor allem die folgenden, auch vom Neorealisten und Professor für Politikwissenschaften an der University of Chicago, John Mearsheimer (in einem allerdings auch sehr einseitigen antiwestlichen Text) zusammengetragenen, im Sinne einer neuen „Realpolitik“ formulierten Gedanken, die nicht einfach vom Tisch gewischt werden dürfen, auch wenn man die Konsequenzen der Argumentation nicht teilt:

  • Die Ausweitung der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges in Richtung Osten erfolgte gegen ausdrückliche Absprachen. Dafür mag es gute, von den Bedürfnissen heutiger EU-Staaten genährte Gründe geben, das Faktum bleibt. „Man stelle sich die Empörung in Washington vor, wenn China ein mächtiges Militärbündnis schmiedete und versuchte, Kanada und Mexiko dafür zu gewinnen“, schreibt Mearsheimer.
  • Ob berechtigt oder nicht, in Russland existiert eine über Hunderte Jahre gewachsene historische Angst vor der Einkesselung, die Krim ist dabei als Zugang zum Schwarzen Meer seit Peter dem Großen von so herausragender strategischer wie symbolischer Bedeutung.
  • Als zumindest unglücklich, aus russischer Sicht aber unverzeihlich muss betrachtet werden, wie schnell der Bruch der unter anderem im Beisein von Sigmar Gabriel ausgehandelten Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine, die eine „Regierung der nationalen Einheit“ ohne Beteiligung der Faschisten der Svoboda vorsah, von allen westlichen Mächten akzeptiert wurde (gerade vor dem Hintergrund des am Sonntag veröffentlichten Wahlergebnisses zeigt sich, wie fragwürdig die Akzeptanz mehrerer Ministerposten der Svoboda war).
  • In dieser Situation war für einen Kenner der russischen Geschichte und Politik der Griff nach der Krim (der damit dennoch keineswegs zu akzeptieren ist), absolut voraussehbar.

Enttäuschte russische Liebe

Hinzuzufügen wäre, dass die russische Führung derzeit, wie Leonid Luks zeigt, innenpolitisch  zwischen einer durchaus als notwendig erkannten Westbindung und in ihrer Macht nicht zu unterschätzenden radikalen Kräften rund um den Neo-Eurasier Alexander Dugin laviert. Dem Putin übrigens längst nicht so zugeneigt ist, wie es die hiesige Berichterstattung glauben macht. Das heißt: Die russische Linie ist längst nicht so homogen, wie es von außen scheint.

Vor dem Hintergrund der 2002 im Bundestag von Putin gehaltenen Rede ließe sich das russische Verhalten in der Ukraine-Krise gegenüber dem Westen dann zumindest anteilig sogar nach dem Muster einer enttäuschten Liebe interpretieren: Da, was in Russland als eine Politik der Öffnung wahrgenommen oder dargestellt wird (deutsch-russische Unternehmenskooperationen, enge Verflechtungen im Energiesektor, mittelfristig die antizipierte Eurasische Wirtschaftsunion), nicht zu dem erhofften Aufeinanderzugehen geführt hat, reagiert man auf russischer Seite nun erst recht überzogen.

Davon abgesehen aber ist in der Folge Kissingers („Die Dämonisierung Putins ist keine Politik, sondern nur ein Alibi für ihre Abwesenheit“) eine realpolitische Betrachtung anzuraten, die handfeste staatliche und ökonomische Interessen in Russland sowie im Westen voraussetzt. Diese sind zu analysieren, und in der Folge dessen ist das politisch Mögliche auszuloten. Erst auf dieser Basis kann eine moralische Bewertung erfolgen. Personalisierung und Moralismus sind politisch gefährlich, gerade wenn man sich auf der Seite des Guten sieht.

Fragwürdige Putin-Hitler-Vergleiche

Bekanntlich praktiziert der mediale Diskurs derzeit das Gegenteil. Um das zu verstehen, ist es weder notwendig, der westlich gesinnten Presse wie die Aluhutfraktion eine koordinierte antirussische Kampagne zu unterstellen, noch muss man eben jenen vorwerfen, unisono auf der Gehaltsliste des Kremls zu stehen. Vielmehr haben wir es mit einer sich eigendynamisch verfestigenden Front zu tun, in der jeder einzelne Akteur tatsächlich davon ausgeht, auf der Seite des Guten dem Bösen zu trotzen. Denkbar, dass gerade in einer Zeit, in der Europa ökonomisch und der Westen in einer ideellen Krise gefangen ist, man danach trachtet, in einem außenpolitischen Konflikt umso deutlicher Farbe zu kennen. Menschlich ist das absolut nachvollziehbar, die emphatische Verteidigung von Freiheit und demokratischen Idealen in den Leitmedien ist selbstverständlich lobenswert.

Journalistisch aber handelt es sich um ein Dilemma, bei dem die gute Absicht langfristig den Eindruck ungerechtfertigter Einseitigkeit nicht mehr aufwiegen kann. In der deutschen Debatte kommt hinzu, dass die Nazivergleiche traditionell locker sitzen. Es liegt der Verdacht nahe, dass die Dämonisierung für problematisch gehaltener Positionen auch dem Bedürfnis nach einem verspäteten klaren antifaschistischen Bekenntnis geschuldet ist.

In der Hochphase der Auseinandersetzung um die Krim waren die Putin-Hitler-Vergleiche Legion, während auf prorussischer Seite die Bedeutung des faschistischen Rechten Sektors und der Svoboda übertrieben, neonazistische Umtriebe in den Reihen der Ostukrainischen Separatisten dagegen totgeschwiegen wurden. Da braucht es keine Organisation, keine Verschwörung: Haben solche Interpretationsmuster sich erst einmal festgesetzt, ist es schwierig bis unmöglich, aus ihnen auszubrechen. Auch vorsichtiger Dissens wird sofort als Kampfansage verstanden – da sind die Schubladen wieder.

Interessen der russischen Mittelschicht

Dabei gäbe es jenseits der Schubladen so viel zu recherchieren, zu berichten, zu informieren. Hier wären, aufgrund ihres Selbstverständnisses, die Qualitätsmedien gefordert. Ein Beispiel: Zwar wurde tatsächlich in einigen Beiträgen beleuchtet, wie deutsche Unternehmen unter den wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland leiden. Auch wurde in zahlreichen Meinungsartikeln das Für und Wider solcher Sanktionen, deren Erfolgsaussicht, die langfristigen strategischen Ziele, diskutiert. Indes: Stimmen russischer Unternehmer, gerade kleinerer und junger Unternehmen, die nicht in das Schema von stereotypen Oligarchien fallen, vernimmt man dagegen bis heute kaum.

Dabei wäre das doch für eine unabhängige Presse ein so interessantes wie dankbares Thema: Die junge, ambitionierte, oft unternehmerisch tätige Mittelschicht in Moskau und Petersburg, steht, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, dem autokratischen Präsidenten auch kritisch gegenüber. Das beschränkt sich nicht auf jene, die nach den Wahlen 2012 in Russland auf die Straße gingen, sondern schließt eine breite Gruppe von Menschen mit ein, die einfach möglichst frei und genussvoll ihr Leben leben möchten. Russen, für die die Rede vom „pursuit of happiness“ in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eine ganz konkrete Bedeutung hat.

Auf der anderen Seite sagten mir ausgerechnet Vertreter dieser freiheitlich gesinnten, dem westlichen Lebensmodell besonders aufgeschlossen gegenüberstehenden Schicht, dass man sich prinzipiell unter Putin noch wohler fühle als in der endlosen Umbruchsphase unter Jelzin. Ein Paradoxon, das sich zu untersuchen lohnt: Gerade die am westlichsten, kapitalistischsten und hedonistischsten orientierten Russen können der radikalen Marktöffnung und Deregulierung im Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges kaum etwas abgewinnen, und fühlen sich heute nicht nur sicherer, sondern zumindest in Teilen auch freier.

Blankes Schwarz-Weiß

Und wie nehmen diese Menschen nun die polarisierende Berichterstattung der westlichen Medien wahr? Wie die im eigenen Land? Ist das derzeitige Zusammenschrumpfen der Protestbewegung gegen die putinsche Politik eine Folge verstärkter Repression, Resignation, oder vielleicht auch westlicher Berichterstattung und Politik? Oder blenden wir innere Brüche der russischen Politik, Opposition jenseits von Pussy Riot, womöglich aus, weil es nicht in die Schubladen der Berichterstattung passt? Die russischen Verhältnisse und die Hoffnungen und Sorgen der russischen Bevölkerung muss zu verstehen suchen, wem noch daran gelegen ist, mit, und nicht nur über Russland zu reden.

Ein fundierter Journalismus, der sich dem Friedrichs’schen Diktum verschrieben hat, hätte solche Fragen zu stellen und zu untersuchen. Und zwar nicht im blanken Schwarz-Weiß, sondern in allen Schattierungen und Abstufungen, die die Mischung von Schwarz und Weiß zulässt.

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Über Hasso Mansfeld

Hasso Mansfeld ist studierter Diplom-Agraringenieur und arbeitet als selbstständiger Unternehmensberater und Kommunikationsexperte. Für seine Ideen und Kampagnen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem dreimal mit dem deutschen PR-Preis. Kontakt: Webseite | Facebook | Twitter | Weitere Artikel

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